Herzlichen Glückwunsch, Monsieur Proust, zum 149. Anniversaire!

Ein Exklusivinterview mit ihm

Von Bernd-Jürgen FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd-Jürgen Fischer

Vorbemerkung der Redaktion: Am 10. Juli 1921 werden sich in den Medien die Gratulanten überschlagen, um Proust als Erste zu seinem 150. Geburtstag zu beglückwünschen. Literaturkritik.de gratuliert ihm schon ein Jahr früher – mit einem Exklusivinterview auf dem roten Sofa, das der „Dante der Prosa“ unserem Mitarbeiter und besten Proust-Kenner Bernd-Jürgen Fischer gewährte. Ihm danken wir, dass er es uns zur Veröffentlichung angeboten hat.

 

Auf dem Sofa Benjamin-Lew Klon als Oblomov in der Premiere auf Kampnagel am 6. Januar 2017 in Hamburg. Wir danken ihm und dem Fotografen Tillmann Engel für die Bild-Vorlage und die Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de. Das Gespräch mit dem Jubilar führte Bernd-Jürgen Fischer nach einem verschämten Blick in den erlesenen Fragebogen vom Juni 1887.

 

Monsieur Proust, welches ist Ihre Lieblingsfarbe?

Das ist ja ein merkwürdiger Einstieg in ein Interview, der mir jedoch nicht weniger merkwürdig vertraut erscheint. Eh bien, das schäumende Alabaster der Weißdornblüten, das persipanschwere Purpur der Fliederdolden und das Meeräschenblau ihrer Augen. Und nein, nicht das Rot Ihrer Couch hier!

Und welcher ist Ihr Lieblingsgeruch?

Curiouser and curiouser. Peut-être der Duft der Iris in einer kleinen Kammer oder auch der unbekannte Geruch des Vétiver.

Welche Blume finden Sie am schönsten?

Die Kirschblüte; das steht übrigens auch schon in meinem Buch. Haben Sie sich denn gar nicht ein wenig vorbereitet?

Welches Tier ist Ihnen am sympathischsten?

Das Pony, denn das bin ja ich, Reynaldos wirkliches Pony.

Welche Augen- und Haarfarbe bevorzugen Sie?

Les blue eyes eines Lucien Daudet und das Staubfädenrotblond der Haare von Gilberte.

Was ist Ihrer Ansicht nach die höchste Tugend?

Die Tugend, die uns mit den Myriaden ephemerer Gerüche bezaubert, die sie verströmt, ein ganzes geheimes, unsichtbares, überquellendes, moralisches Leben, das von der vibrierenden Luft in bebender Schwebe gehalten wird.

Welche Untugend verachten Sie am meisten?

Jene Tugend, Herr, die du uns hassen lehrtest!

Welches ist Ihre Lieblingsbeschäftigung?

Maman Sorgen zu bereiten, indem ich den Oblomov gebe.

Welcher Zeitvertreib ist Ihnen besonders angenehm?

Jeder Zeitvertreib, der jene Diskretion erfordert, deren es Ihnen in verblüffendem Maße zu ermangeln scheint. Haben Sie etwa in diesem neu entdeckten Fragebogen geschnüffelt, den ich in meiner törichten Jugend leichtsinnigerweise ausgefüllt habe? Hat sich dann allerdings zur soliden Wertanlage gemausert.

Welches ist Ihrer Ansicht nach das höchste irdische Glück?

Legrandin zu treffen.

Pardon, aber das müssen Sie unseren Lesern erklären – wir könnten es nicht.

Einmal schlief ich ein und fiel in jenen schweren Schlaf, in dem sich für uns die Rückkehr in die Jugend offenbart, die Wiederholung verflossener Jahre und vergangener Gefühle, die Flucht der Seele aus dem Körper und ihre Wanderung, die Beschwörung der Toten, die Trugbilder der Tollheit, der Rückfall in die elementarsten Reiche der Natur (denn man sagt zwar, dass wir im Traum oft Tiere sehen, vergisst jedoch, dass wir dabei selbst fast immer Tiere sind, jenes Verstandes verlustig gegangen, der das Licht der Gewissheit über die Dinge ergießt; im Gegenteil bieten wir darin dem Schauspiel des Lebens nur eine zweifelhafte Halluzination an, die jeden Augenblick sogleich vom Vergessen ausgelöscht wird, denn die vorangegangene Wirklichkeit verflüchtigt sich vor der ihr nachfolgenden wie eine Projektion der Laterna magica vor der nächsten, sobald man die Gläser wechselt), alle diese Mysterien, von denen wir glauben, dass sie uns unbekannt seien, und in die wir in Wirklichkeit fast jede Nacht ebenso eingeweiht werden wie in das andere große Mysterium von Vergehen und Wiederauferstehung. Durch die Schwerverdaulichkeit des Abendessens von Rivebelle noch unsteter geworden, machte die wechselhafte, irisierende Ausleuchtung nichtlichter Bereiche meiner Vergangenheit aus mir ein Wesen, dessen höchstes Glück es gewesen wäre, Legrandin zu treffen, mit dem ich mich eben noch im Traum unterhalten hatte.

Vielen Dank, das war ja wirklich erhellend. Doch weiter im Text: Welches Schicksal erscheint Ihnen am beklagenswertesten?

Unter jener alten Herzensangst zu leiden, die ein beklagenswerter und widersprüchlicher Auswuchs der Liebe ist.

Darf man fragen, wie alt Sie sind?

149.

Na herzlichen Glückwunsch! Und welchen Vornamen hätten Sie gewählt, wenn Sie die Wahl gehabt hätten?

Markel.

Welcher war der schönste Augenblick in Ihrem Leben?

Als Bunch in seinem Bette Claire de lune hörrete und Bunchnibuls hinter der Wand Ouvertüre zu die Meistersinger spillete. Eine prästabilierte Charmonie, gewissermaßen.

Und welcher der schmerzlichste?

Als ich in Jean Cocteaus Kneipe Le Bœuf sur le toit eins aufs Maul gekriegt habe. Ich will das hier jetzt nicht elaborieren.

Was sagen Sie zum Brexit?

Idem.

Was ist Ihre größte Hoffnung?

Die Hoffnung auf Erleichterung, denn die gibt die Kraft zu leiden.

Glauben Sie an die Freundschaft?

Ich sagte Ihnen doch schon, ich bin 149.

Welche Tageszeit ist Ihnen besonders angenehm?

Mitternacht, denn dies ist die Zeit, da der Kranke, der zu einer Reise genötigt gewesen ist und in einem unbekannten Hotel hat einkehren müssen, von einem Anfall aufgeweckt sich freut, wenn er einen Streifen Tageslicht unter der Tür zu entdecken meint.

Welche historische Person ist Ihnen am sympathischsten?

Leibniz; seine Idee, dass aus der Differenzierung und weiter und weiteren Differenzierung bis ins Unendliche schließlich eine neue Qualität erwächst, der Fluss der Zeit aus dem Getröpfel der Augenblicke, der breite Strom des Vergessens, hochheiliger Bruder des Thanatos, aus den Rinnsalen vager Erinnerung, deren man sich nicht entsinnen kann – diese Idee hätte ich gern selbst gehabt. Meine Suche nach der verlorenen Zeit ist schlicht zu hektisch abgelaufen. 20 Bände tops wären Minimum. Schon die ersten Worte, „lange Zeit“, das ist mir zu pauschal. Zu undifferenziert. Im Grunde ist es aber doch wenig sympathisch, dass er mir die Idee weggeschnappt hat. Vielleicht ist mir dann doch der Newton sympathischer, weil er dem Leibniz seine Idee weggeschnappt hat.

Und welche Roman- oder Bühnengestalt?

Pasiphaë, die Mutter von Phädra und Minotauros. Das mit dem Stier … aber lassen wir das. D’ailleurs, Jean Santeuil; zwar etwas unfertig, doch auch das hat ja seine Reize.

In welchem Land würden Sie am liebsten wohnen?

Die sanfte Stimme der hochgewachsenen, sich vorgebeugt in einem weißen, geblümten Seidenkleid nähernden und dabei ihre köstliche, bebende und erschöpfte Brust unter einem Harnisch von Diamanten und Saphiren wogen lassende Prinzessin von Orvillers, einer unehelichen Tochter, wie behauptet wurde, des Herzogs von Parma, hatte einen leicht österreichischen Tonfall. Muss ich mehr noch sagen? Muss ich noch explizieren, wo die Nobelpreise für Literatur am dichtesten fallen? Handke. Jelinek. Ma foi!

Welchen Schriftsteller bevorzugen Sie?

Bergotte, aber ich glaube, das ist ein Pseudonym. Sans doute hat er einen äußerst stilvollen Abgang hingelegt: „Kleines gelbes Mauerstück“, da muss einer erstmal drauf kommen!

Welchen Maler?

Elstir, aber ich glaube, das ist auch ein Pseudonym. Ein begnadeter Eklektiker, der erst die Neo-Klassizisten plünderte und dann die Impressionisten. Wenn Sie einen Elstir kaufen, kriegen Sie eine ganze Gemäldegalerie. Darum erzielt er auch so hübsche Preise. Pas mal. Wenn ich mich recht erinnere, ist er mir dann irgendwie abhandengekommen. Schade, eigentlich.

Welchen Musiker?

Vinteuil, aber ich glaube, auch das ist ein Pseudonym. Über den weiß man an sich nichts Genaues, aber sein Quartett für zehn Instrumente hat was.

Welche Devise würden Sie für sich wählen?

„Fin de claire!“

Welches sind Ihrer Meinung nach die Meisterwerke der Natur?

Françoise’ Abendessen, für die sie den zu Helfern gewordenen Naturkräften gebot wie in Märchenstücken, in denen sich Riesen als Köche verdingen, die frische Austern mit den Zähnen aufbrach, rohe Kartoffeln in den Fäusten weichknetete, unter Tränen den Zwieback für meinen Vater am Feuer röstete und darauf derweilen kulinarische Meisterwerke garte, die zuvor in irdenen Gefäßen zubereitet worden waren, deren Spektrum von großen Bottichen, Zubern, Kruken und Kesseln bis zu Pastetenschälchen, Keksförmchen und Sahnekännchen reichte, nicht zu vergessen eine vollständige Sammlung von Töpfen aller Größen und englischen Ordnungen.

An welchen Ort haben Sie die unangenehmsten Erinnerungen bewahrt?

An die österreichische Botschaft. Der gute alte Hoyos hatte vermeint, mir einen Gefallen zu tun, als er Monsieur de Bornier, der wahrscheinlich, wenn man mit ihm über La Fille de Roland spricht, glaubt, dass es sich um eine Prinzessin Bonaparte drehe, die ja mit einem Sohn des Königs von Griechenland verlobt sein soll, als er also diese akademische Pest auf einen Stuhl neben mir platzierte oder besser gesagt deponierte. Ich dachte, ich hätte eine Schwadron berittener Polizei neben mir. Ich musste mir das ganze Diner hindurch die Nase zuhalten, erst beim Käse habe ich wieder zu atmen gewagt!

Welches ist Ihr Lieblingsgericht?

Das Kassationsgericht.

Ziehen Sie ein hartes oder ein weiches Lager vor?

Ich ziehe ein Pfadfinderlager vor.

Welches andere Volk ist Ihnen am sympathischsten?

Das heimliche.

Cher Maître, wir danken Ihnen für dieses Gespräch, auch wenn es kein reines Vergnügen war. – Apfel-, nicht Kirschblüte, übrigens.