Der Boden unter seinen Füßen

In seinen Briefen von 1924 bis 1932 sucht Hermann Hesse nach Orientierung

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob Suhrkamp dem Jahr 2032 entgegen zittert? Dann nämlich erlischt das Urheberrecht für die Werke Hermann Hesses, neben Franz Kafka der weltweit populärste deutschsprachige Autor des letzten Jahrhunderts. Über die letzten Jahrzehnte war Hesse ein Garant für hohe Verkaufszahlen, mit denen der Verlag, besonders in den Unseld-Jahren, immer wieder Sperriges und Schwieriges querfinanzieren konnte. Aber was macht Hesse global so beliebt, aller Häme zum Trotz, mit der ihn, zumindest in Deutschland, Teile von Kritik und Literaturwissenschaft immer wieder überziehen?

Hesse war immer auch ein Modeautor. Er schrieb 1904 seinen Romanerstling, den zivilisationsmüden Peter Camenzind, als Zivilisationskritik à la Friedrich Nietzsche en vogue war; er lieferte mit Unterm Rad (1906) einen Schülerroman, als auch andere die Grausamkeiten des wilhelminischen Schulsystems geißelten; er interessierte sich mit Siddhartha (1922) für Indien, als deutsche Autoren reihenweise Buddha-Romane vorlegten – und so fort. Aber warum werden seine Bücher, anders als die meisten seiner Konkurrenten, auch nach einem Jahrhundert noch gelesen? Vielleicht, weil sie trotz der an der Oberfläche unterschiedlichen Themen und trotz der verschiedenen Kostümierungen immer wieder das gleiche Thema durchexerzieren: die Suche des – in der Regel künstlerisch begabten – Individuums nach Sinn in einer modernen Welt. Was an Hesses Romanen aktuell bleibt, ist also das, was sie außerhalb des Modischen auch noch sind. Dass diese Sinnsuche sein eigenes Lebensthema war, daraus machte Hesse nie einen Hehl. Dieser Fokus führt häufig dazu, dass andere Figuren, denen seine Protagonisten begegnen, zu Schablonen werden; speziell die meisten Frauenfiguren fallen holzschnittartig aus. Andererseits sind Hesses Helden, wenn sie ihre eigenen Krisen – und die ihres Autors – verhandeln, radikal aufrichtig sich selbst gegenüber und laden zur Identifikation ein.

Das beeindruckte viele Leser und führte zeitlebens dazu, dass sie den Autor mit Korrespondenz geradezu überschütteten und ihn auch in persönlichsten Dingen um Rat fragten. Davon war Hesse zwar nicht begeistert, nahm seine Position als Angeschriebener aber ernst. Meist riet er seinen Lesern, nicht ihm zu folgen, sondern sich selbst treu zu sein. Nur dadurch würden sie in seinem Sinn und dem seiner Figuren handeln. Wohl auch wegen dieser Gewissenhaftigkeit kam er insgesamt auf über 40.000 Briefe, die man allenfalls digital zugänglich machen könnte, um dieser gigantischen Menge eine angemessene Editionsform zu geben. Auch hier, in diesem ephemeren Teil eines Werks, legte Hesse großen Wert auf seine Aufrichtigkeit und bemühte sich, selbst auf die naivsten Leserfragen einzugehen. Keine Frage: Er war ein nahbarer Autor, wenn auch oft wider Willen.

Diese Briefe an Leser bilden nur einen, aber zentralen Teil der Korrespondenz Hesses, die Volker Michels seit einiger Zeit in einer neuen Auswahl ediert. Der vierte Band Ich bin ein Mensch des Werdens und der Wandlungen deckt die Jahre 1924 bis 1932 ab. Es ist die Zeit, in der größere Arbeiten wie der Steppenwolf, Narziß und Goldmund oder die Morgenlandfahrt entstehen, ebenso aber wichtige Nebenwerke wie Kurgast oder die Nürnberger Reise. Zusammengenommen liefert die von Michels ausgewählte Korrespondenz einen erhellenden Einblick in Hesses Alltag, in dem dieser nicht nur seinen Lesern antwortet, sondern sich auch mit unwilligen Verlegern herumärgert, Bettelbriefe bekommt und Familienangelegenheiten regelt. Zu den Briefpartnern gehören Familie und Freunde, prominente Kollegen wie Thomas Mann und Stefan Zweig genauso wie weniger bekannte Austauschpartner, etwa der Kritiker Heinrich Wiegand. Auch ersten Hesse-Forschern steht der Autor Rede und Antwort. Von Lesern lässt er sich ungern anschnorren, setzt sich aber mit großer Energie für andere ein, wo es ihm richtig und notwendig erscheint, etwa für seinen bettelarmen Freund und Biografen Hugo Ball und – nach dessen Tod – für seine Witwe Emmy Ball-Hennings.

Die Auswahl zeigt Hesse als Autor in einer permanenten Krise, und tatsächlich steht – so beschreibt es Michels im Nachwort – am Anfang des beschriebenen Zeitraums ein in der Korrespondenz komplett ausgesparter Selbstmordversuch mit dem Schlafmittel Veronal. Es war nicht das letzte Mal, dass Hesse solche Gedanken hegte; nicht nur sein „Steppenwolf“ Harry Haller überlegt im gleichnamigen Roman, sich an seinem 50. Geburtstag zu töten. Bis zu einem gewissen Grad resignierte Hesse vor seinen schwarzen Phasen: Auch wenn er produktiv sei, schreibt er im Mai 1926, werde seine Krise „wiederkommen, verschärft und erschwert, so war es mein Leben lang, und der Leere und Verzweiflung bin ich auch schon als Jüngling, sogar schon als Knabe gegenübergestanden“.

Doch so paradox das klingt: trotz der permanenten Klagen und düsteren Gedanken beschreiben diese Briefe die Geschichte einer partiellen Genesung. Es kommt nicht so schlimm für ihn wie im vorhergehenden Band zu den Jahren 1916 bis 1923, in denen Hesse für sein Engagement gegen den Krieg angefeindet wurde, seinen Vater verlor und sich von seiner manisch-depressiven, an Schizophrenie erkrankten ersten Frau Mia und seinen drei Söhnen trennte. Michelsʼ Auswahl zeichnet einen Autor, der sich trotz aller biographischen und gesundheitlichen Widrigkeiten eine Reihe gelungener Werke abringt, dem es nach großen Verlusten in der deutschen Hyperinflation auch finanziell wieder besser geht, und der am Ende zu einem, wenn auch fragilen, häuslichen Leben in einer Paarbeziehung zurückfindet. 

Dennoch setzten sich manche Konflikte fort: Die anderswo untergebrachten – man könnte auch sagen „abgeschobenen“ Kinder – mussten weiterhin versorgt werden, auch Mia Hesse erlitt periodische Rückfälle. Die zweite Ehe mit der Tänzerin Ruth Wenger (1897–1994), die er auf Druck ihrer reichen Eltern heiratete, stand unter keinem guten Stern. Hesse selbst schrieb unmittelbar nach der Zeremonie, er sei zum Standesamt gegangen „wie zu einer Operation“ (an Anny Bodmer, 19. Januar 1924). Selbst wenn sich Hesse und Wenger im winterlichen Basel aufhielten, übernachtete man meist in getrennten Hotels.

Noch vor der Scheidung – die von Hesses Frau ausging – kam es aber zur Annäherung an eine langjährige Leserin, der Österreicherin Ninon Dolbin geborene Ausländer (1895–1966), die aus Czernowitz in der Bukowina stammte, auch Paul Celans Heimatstadt. Geprägt von den beiden gescheiterten Ehen, wies Hesse sie brüsk zurück, nachdem es offenbar zu einer Eifersuchtsszene wegen Ruth Wenger gekommen war:

Ich hätte vorher wissen sollen, daß […] jede Frau den Mann ganz will, daß er weder auf andere Frauen noch auf Stille und Arbeit und Gedanken noch auf Kranksein etc. etc. ein Recht hat, sobald ihn eine Frau mit Beschlag belegt. Ich habe aber nicht darum mein Leben hinter mich geworfen und seit vielen Jahren mit der Menschheit und Gesellschaft gebrochen, um jetzt von dir Ansprüche, Klagen und Vorwürfe anzunehmen, die ich auch meiner eigenen, legitimen Frau nicht zugestehen werde (11. Juni 1926).

Nur durch Geduld, Beharrlichkeit und Akzeptanz von Hesses Launen gelang es Ninon Dolbin, langfristig sein Vertrauen zu gewinnen, so dass er sich auf seine dritte, letzte und bis zum Tod stabile Ehe einließ – „ein Akt der Ergebung nach langem Sträuben, eine Gebärde des Nachgebens und Fünfe-grade-sein-Lassens der Frau gegenüber“, wie er im April 1932 an Alfred Kubin schrieb. Am Ende der in diesem Band dokumentierten acht Jahre gab Hesse sein Pendeln zwischen dem zugigen Junggesellendomizil Casa Camuzzi und dem winterlichen Exil in Basel und Zürich auf und zog gemeinsam mit Ninon Hesse in ein Haus, das Hesses Mäzene, das wohlhabende Arztehepaar Hans Conrad und Anny Bodmer, für ihn im tessinischen Montagnola bauen ließen. Zumindest materiell hatte Hesse nun den Gegenpol zu den unsteten Jahren seit Beginn des ersten Weltkriegs erreicht.

Der größte Gewinn für den Hesse-Leser besteht im Einblick in die Entstehung der maßgeblichen Texte aus dieser Zeit – und in Hesses Auseinandersetzung mit ihrer Rezeption. Die Briefe zeigen, wie eng der Steppenwolf mit Hesses eigener Midlife-Crisis zusammenhängt, dem Versuch des Endvierzigers, den Tanz und Rausch nachzuholen, den er dank seiner strengen Erziehung in der Jugend versäumte. Einseitige Reaktionen seines Publikums verwundern ihn:

Daß es Leser gibt, die im ‚Steppenwolf‘ nur Bericht über Jazzmusik und Tanzereien finden, während sie weder das magische Theater noch den Mozart noch die ‚Unsterblichen‘ sehen, die den eigentlichen Inhalt des Buches bilden, daß andre Leser im ‚Goldmund‘ nur den Narziß bemerken oder nur die Liebesszenen gelesen zu haben scheinen, daran bin ich unschuldig. Und gegen die Bücher, die von den meisten so sehr gutgeheißen, gelobt und auf Kosten meiner andern Bücher gerühmt werden, bin ich am meisten mißtrauisch (An einen Leser, Juli 1930).

Ausfällig wird er nur, wenn seine Leser die vermeintliche „Harmonie“ von Narziß und Goldmund preisen,

wobei man aber ruhig weiter Geld verdienen oder Kinder erziehen kann, denn es spielt ja im Mittelalter, und ist ja nur Dichtung, usw. […] „[Der Steppenwolf] erinnert an den Krieg (der übermorgen wieder da sein wird) […] und Euer ganzes heutiges Leben, dessen Hölle aufzuzeigen Ihr dem Dichter nicht erlauben wollt. Natürlich wissen das die Leser nicht, sie lesen ehrlich und folgen dem Gesetz des geringsten Widerstandes, es zieht sie dahin, wo es weniger weh tut. Das Problem des ‚Goldmund‘ ist das des Künstlers, ein furchtbares, tragisches Problem – aber der Leser ist ja selber nicht Künstler, er kann da gefahrlos aus der Ferne zusehen (an eine Leserin, 13. November 1930).

Man kann Hesse hier Selbstgerechtigkeit vorwerfen, falsch ist seine Beobachtung nicht.

So wären wir am Ende wieder beim Autor und seinem zwiespältigen Verhältnis zu den Lesern. Eingefleischte Hesse-Konsumenten (und Bibliotheken) sind wohl auch die Hauptzielgruppe dieser lesenswerten Auswahl – ohne eine gewisse Kenntnis der Biografie wirken die Briefe mosaikartig und fragmentarisch. Auch der Zugang zu den vorhergehenden Bänden ist zu empfehlen. Die knappen Anmerkungen im Anhang verweisen immer wieder auf sie zurück, sodass Erklärungen für Leser nur dieses Bandes oft kryptisch bleiben. Wem dieser Band gefällt, dem kann man aber auch die vorhergehenden nur ans Herz legen. Wer sich eingehender mit Hesse beschäftigt, für den liefern die Briefe eine erhellende Parallelerzählung zu den Werken, ebenso wie zu den neueren, differenzierten Biografien von Gunnar Decker und Heimo Schwilk.

Titelbild

Hermann Hesse: »Ich bin ein Mensch des Werdens und der Wandlungen«. Die Briefe. Band 4: 1924–1932.
Herausgegeben von Volker Michels.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
752 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425664

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