Vom Ende des Endes der Geschichte, womit es nie zu Ende sein wird

Der Sammelband „Das Ende des Endes der Geschichte“ führt Francis Fukujamas These vom „Ende der Geschichte“ weiter

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1989 verbreitete der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukujamas erstmals seine These vom „Ende der Geschichte“ in der Zeitschrift The National Interest. Die Verfasser des Sammelbandes Das Ende des Endes der Geschichte verstehen ihren Band nun als Fortführung dieser These. Im Untertitel liefern sie die Stichworte des Diskurses: die Entstehungsphase liberaler westlicher Demokratien von 1949-1989, Formen der Post-Politik zur Zeit des Neoliberalismus von 1989–2015 und das Entstehen einer Anti-Politik und dem damit einhergehenden Zerfall liberaler Demokratien. Die Überschriften der neun Kapitel wie „Die Enden der Geschichte“, „Die Gefahr der Demokratie: Von der Postpolitik zur Antipolitik“, „Neoliberal Order Break Down Syndrom- Syndrom des Zusammenbruchs der neoliberalen Ordnung“, „Politik gegen sich selbst: Spielarten der Anti Politik“ geben die Stoßrichtung der Argumentation vor. Dass Italien in einem Kapitel nicht mal rein satirisch als „das Land der Zukunft“ bezeichnet wird, mutet nach den jüngsten Wahlen doch eher wie eine Satire an.

Nicht ganz unerheblich ist zu erwähnen, dass das Werk vor Beginn des Ukraine-Kriegs geschrieben worden ist, aber auch vor den Aktionen der ‚Letzten Generation‘. Insofern ist vorauszuschicken, dass dieses durchaus aktuelle Werk von 2022 von jüngeren politischen Entwicklungen schon wieder eingeholt bzw. überholt worden ist. Von daher lässt sich in Anlehnung an Hörischs „schnellem Altern der neuesten Literatur“ von einem schnellen Altern neuester politischer Tendenzen und deren Analysen sprechen. Allerdings weisen die beiden vorwiegend publizistisch tätigen englischen Politikwissenschaftler und der brasilianische soziologische Publizist darauf hin, dass die in dem Buch vertretenen Auflassungen ständig weiter in dem Podcast „Aufhebunga Bunga“ diskutiert würden, wozu sie die Leser*innen auffordern.

Nach Auffassung der Autoren hat sich das „Ende vom Ende der Geschichte“ seit 2016 angekündigt und wurde spätestens im Jahre 2020 endgültig vollzogen. Angeknüpft wird hier an die Ausführungen des Historikers Eric Hobsbawm, wonach das kurze 20. Jahrhundert mit weltweiten Unruhen und Konflikten, deren Entstehung bis heute zum Teil nur rudimentär erhellt worden sind, zu Ende gegangen sei. Von daher wird von der Voraussetzung ausgegangen, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Menschheit vor Problemen steht, auf die sie größtenteils mit Ohnmacht reagiert, weil sie über keinerlei Muster und Mechanismen verfügt, um darüber die Kontrolle zu gewinnen. Die These der Autoren lautet nun, dass dies als Ergebnis eines bestehenden und sich entwickelnden neoliberalen, marktwirtschaftlichen oder kapitalistischen Systemprozesses zu verstehen sei bzw. eines „Konsumismus´“, wozu es nie eine wirkliche Alternative gegeben habe. Jede Form des Widerstands neuer politischer Parteien (wie etwa Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland) konnte sich immer nur in zuvor systemisch festgelegten Grenzen bewegen oder mit den Autoren ausgedrückt: „Die zentristische neoliberale Technokratie […] wurde das Modell der Stunde.“ Daran hat selbst die Pandemie-Situation nichts verändert.

In diesem Kontext sei an den Historiker Philipp Bloom erinnert, der wiederholt darauf aufmerksam gemacht hat, dass (Hoch-)Kulturen insbesondere daran zugrunde gegangen seien, neuen Herausforderungen mit alten Problemlösungsschemata oder gar keinen begegnet zu sein. Die so entstandene Situation führte nach Auffassung der Autoren zu einer Form gesellschaftlicher Ohnmacht, insbesondere in den westlichen Kulturen, zu einer Art von mangelndem politischen Engagement, einer Nicht- oder Antipolitik, einer Retromanie sowie mit Mark Fischer gesprochen zu einem „depressiven Hedonismus“.

Diese Entwicklung wird innerhalb des Bandes konkret zu skizzieren versucht. Nach dem Zeitalter der liberalen Demokratie zu Zeiten des Kalten Kriegs von 1945–1989, der Postpolitik zur Zeit des „Endes der Geschichte“ von 1989–2015 entstand eine neue Tendenz des „Endes des Endes der Geschichte“ im Sinne jener erwähnten Anti Politik. Die politische Stimmungslage veränderte sich von Engagement und Opposition über die Apathie bis zur heute zu beobachtenden Wut mit dem Stichwort des „Wutbürgers“. Dabei waren respektive sind bis auf wenige Ausnahmen in der Regel nicht linke Parteien an der Macht, sondern als „aufstrebende ökonomische Modelle“ gelten das chinesische System, als ein politisch autoritäres System mit staatlich gelenktem Kapitalismus, oder galten „rechte Demokratien“ wie beispielsweise die USA Trumps oder, bis zur Wahl Lulas das Regime Bolsonaros in Brasilien.

Es sei bereits hier betont: Die Autoren legen einen knappen, aber äußerst lesenswerten Band vor, in dem sie zum einen auf die aktuelle internationale, politisch-gesellschaftliche Situation rekurrieren, wie sie zum anderen mit Missverständnissen in Bezug auf Fukuyamas These aufräumen. Fukuyamas These entstand natürlich nicht aus dem Nichts, sondern nach Auffassung der Autoren übernahm er sie von dem französisch-russischen Philosophen Alexandre Kojève, der sie wiederum von Hegel im Zusammenhang mit einer post-napoleonischen politischen Philosophie übernommen hatte. Hegel stand dabei unter dem Eindruck der Niederlage Preußens durch napoleonische Truppen und unter starkem Einfluss der französischen Revolution: Für ihn stand die Freiheit als nicht mehr zu hintergehende politische Voraussetzung im Zentrum, für Fukuyama das liberale Wirtschaftssystem.

Die Verfasser betonen zugleich, dass es sich nicht allein um einen geopolitischen oder parteipolitischen Wettbewerb handelte, wonach etwa der Westen den Osten besiegt hätte, sondern um den bewaffneten Ausdruck eines Wettstreits um die beste Idee zur Organisation des menschlichen Lebens. „Fukuyamas Behauptung war grundsätzlicher, grundlegender, nicht dass es keine Neuerungen mehr geben würde – künstliche Intelligenz neue Städte, Manipulation – sondern vielmehr, dass es keine grundlegenden Verbesserungen oder Änderungen an den großen Entwürfen der Politik und der sozialen Struktur geben werde.“

Der amerikanische Politikwissenschaftler des US-Sicherheitsrats hatte, etwas zugespitzt und verkürzt gesagt, die Auffassung vertreten, dass „der Sieg des Westens im Kalten Krieg nicht nur den Endpunkt einer bestimmten Periode der internationalen Geschichte darstellen“ würde, sondern „das Ende der Erzählung selbst“.

Daran anknüpfend und auf einen kurzen Nenner gebracht, gehen die Autoren davon aus, dass mit dem Jahr 1989 die Politik zurückkehrte und diese später wiederum durch den Einfluss des Neo-Liberalismus´, insbesondere englischer und amerikanischer Prägung, wieder zurückgedrängt wurde. Die Autoren bekennen, dass sie sich schwerpunktmäßig auf die angelsächsische Welt beziehen. Diese Entwicklung wiederum scheint heutzutage ebenfalls an ihr Ende gekommen zu sein. In diesem Zusammenhang wäre an die Position von Münch von der „Dialektik der Kommunikationsgesellschaft“ zu erinnern, den die Autoren nicht erwähnen. Dialektik wird im Sinne von Münch als ein Prozess verstanden, der immer wieder neue gesellschaftliche Widersprüche produziert, die prinzipiell unaufhebbar sind, „[…] als die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft aus der Dynamik von Widersprüchen die stets Aktivitäten zum Abarbeiten von Widersprüchen hervorrufen. Diese Aktivitäten erzeugen indessen wieder neue Widersprüche. So entwickeln sich Kultur und Gesellschaft in einem endlosen Prozess des Erzeugens, Abarbeitens und wieder Erzeugen von Widersprüchen.“

Die Autoren gehen abschließend der Frage nach, warum sich in einer Welt, die von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägt ist, linke Strömungen oder Parteien in den letzten Jahrzehnten kaum durchsetzen konnten. Dabei versuchten Vertreter dieser Positionen, etwa die Labour Party unter Jeremy Corbyn in England, auf die Ungerechtigkeiten einer neoliberalen Politik zu antworten:

Die Versuche, die als Linkspopulismus bezeichnet werden, zielten darauf ab, den Neoliberalismus zu überwinden, um das Sozialwesen zu verteidigen und eine neue Kollektive und egalitäre Politik zu erschaffen.

Diese Versuche waren nach Auffassung der Autoren nicht zuletzt deshalb zum Scheitern verurteilt, weil die Unterstützung innerhalb der Bevölkerung fehlte, was beispielsweise die Gewerkschaften in den meisten westeuropäischen Ländern an den Rand gedrängt habe. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Grundwiderspruch dieser politischen Richtungen darin bestand, „den Sozialismus, ohne die Massen zu bewerkstelligen“. Paradoxerweise geschah dieses Scheitern der linken Gruppen in der Zeit um 2016, als rechte Regierungen eine „linke“ Politik verfolgten, dabei stark von der neoliberalen Orthodoxie abweichend, wie man etwa an dem drei Milliarden Dollar Konjunkturprojekt von Trump in den USA, die er in die eigene Wirtschaft pumpte, beobachten kann.

Insofern besetzten rechte Regierungen und Parteien linke Positionen und machten auf diese Weise linke Politik scheinbar überfällig. Die Verbindung von Positionen Sahra Wagenknechts und rechtem Wählerpotenzial und der Überlegung der Gründung einer eigenen Partei als Entgegnung auf die AFD, scheint dieser Position noch einmal eine paradoxe Bestätigung zu geben. Auf eine gewisse Weise scheint die Linke als Position, nicht in Bezug auf deren politische Inhalte, obsolet geworden zu sein, solange sie sich nicht wieder selbst neu erfinden kann.

Diese Art von differenzierter Betrachtung, durchaus auf der Basis linker Grundpositionen, macht die Qualität des Werks aus. Kumulierend ließe sich diese Position in der Frage zusammenfassen: Warum ist linke Politik in einer Welt und Zeit verschwunden, wo sie so notwendig wie niemals zuvor (gewesen) wäre? Auf diese Frage wird keine abschließende Antwort gegeben, aber deren Notwendigkeit als Antwort auf Anti-Politik oder geistige gesellschaftliche Strömungen wie den erwähnten „depressiven Hedonismus“ vor Augen geführt. Dabei sei etwa an Zukunftskonzeptionen wie die Stiftung ‚Future 2‘, an Initiativen wie ‚Extinktion Rebellion‘, ‚Fridays für Future‘ oder auch an die erwähnte ‚Letzte Generation erinnert.

Abschließend ließe sich fragen, welche Gesellschaftsanalyse, vielleicht sogar Gesellschaftstheorie, für die Gegenwart und Zukunft an Bedeutung gewinnen könnte. In Hinsicht auf die Position der Autoren des hiesigen Werks wäre es interessant, weiter danach zu fragen, wie sich die Welt durch den Ukraine-Krieg in diesem Sinne wieder neu formiert hat oder wieder neu formieren wird, worauf zur Zeit allerdings noch niemand eine abschließende Antwort geben kann.

Titelbild

George Hoare / Alex Hochuli / Philip Cunliffe: Das Ende des Endes der Geschichte. Post-Politik, Anti-Politik und der Zerfall der liberalen Demokratie.
Promedia Verlag, Wien 2022.
200 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783853714980

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