Begehren und Leidenschaft

Eine alte Geschichte minimalistisch erzählt, Tine Høegs Roman „Neue Reisende“

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die dänische Autorin Tine Høeg wurde 1985 geboren und lebt in Kopenhagen. Neue Reisende ist ihr erster Roman, er wurde mit dem Debütantenpreis 2017 der Buchmesse Bogforum in Kopenhagen ausgezeichnet und 2018 als Theaterstück am Königlichen Dänischen Theater in Kopenhagen uraufgeführt. Hinter diesen nüchternen Sätzen, mit denen Tine Høeg vorgestellt wird, ist eine außergewöhnlich talentierte Autorin zu entdecken, die weibliches Begehren in Umbruchzeiten schreibend zu erfassen weiß. Sie schreibt nicht über etwas, sie schreibt aus ihrer Protagonistin heraus, knapp, hart, schonungslos, radikal, bedingungslos.

Neue Reisende erzählt von einer jungen Frau, die sich in einen zehn Jahre älteren Ehemann und Vater einer kleinen Tochter verliebt. Sie ist Lehrerin und tritt in diesem Sommer, in dem der Roman einsetzt, ihre erste Stelle in einer Oberstufenklasse an. Woher sie kommt, was sie bis jetzt erlebt hat, kurz, wer sie ist, davon erzählt dieser Roman nicht. Fokussiert wird auf eine genau begrenzte Zeit von August bis Dezember – die Kapitel sind denn auch mit den Monatsnamen bezeichnet –, es gibt kein Vorher und auch nichts, was auf ein Nachher hinweisen würde.

Der Roman setzt ein an jenem ersten Schultag im August, als die namenlose Ich-Erzählerin im Zug sitzt, mit einem „Pendler-Ticket“ in der Tasche und einem „Lehrernamen“, der ihr zugewiesen wurde, „zusammengesetzt aus Buchstaben / meines Vor- und Nachnamens“. Auf dieser Fahrt frühmorgens begegnet sie ihm zufällig, ihre Beine „berühren sich / als wir uns setzen“. Mehr ist da nicht, und es ist alles. Ein Begehren wächst in ihr, wie sie es noch nie erlebt hat. „[D]as ist für mich ganz neu / jemand so haben zu wollen“. Vierzehn Mal wird sie ihn nackt sehen in diesen Wochen von August bis Dezember, akribisch genau zählt sie sie auf, von „das erste Mal dass ich dich nackt sehe“ bis „das vierzehnte Mal als ich dich nackt sehe“.

Die Begegnungen mit dem Mann finden in Zugtoiletten, im Park, später, wenn es kälter wird, vermehrt in Gartenschuppen und selten mal in ihrem Schlafzimmer statt. Wie es ihr dabei geht, bleibt ein Geheimnis, ebenso erfahren wir nichts darüber, was diese Begegnungen, diese Beziehung für den Mann bedeuten. Hinweise wie, dass er ihr schreibt, nicht aber sie ihm, oder aber die Selbstverständlichkeit, dass er Sex mit ihr hat und auch Frau und Kind, verstärken Vorstellungen, dass wir es mit der klassischen Dreiecksbeziehung zu tun haben, in der die Geliebte nichts zu wollen hat. Doch ehrlicherweise müssen wir sagen, dass wir diesbezüglich gar nichts wissen, vielleicht uns nur in unseren Vorstellungen und Vorurteilen verlieren. Denn in diesem Roman wird nicht erklärt, nichts wird emotional aufgeladen, Gefühle sind kein Thema.

In der Schule wird es für die Ich-Erzählerin immer schwieriger. Die Jugendlichen fordern sie. Sie findet ihnen gegenüber nicht den Ton und hat eigentlich keine Ahnung, wie sie ihnen begegnen könnte. Der Zugang zu den Kolleginnen und Kollegen bleibt ihr verwehrt. Auch hier gelingt es ihr nicht, eine Beziehung aufzubauen, die sie in der Arbeit stützen könnte, ja, es bleibt offen, ob sie so etwas überhaupt in Betracht zieht. Wie überhaupt offen bleibt, wer diese Frau ist und was sie will. Daraus zu schließen, dass sie sich treiben lässt, wäre aber ebenso falsch. Denn darum geht es nicht in diesem immer faszinierender werdenden Text, der sich Roman nennt und an Lyrik erinnert, konsequent in Zeilen geschrieben, der jedoch klar ein Prosatext ist, in einer minimalistischen Sprache geschrieben. So begleiten wir atemlos die junge Frau von der Zugtoilette über das Schulzimmer auf die Klassenreise, zum Hochzeitsfest der Schwester in ihre Wohnung, in der sie Weißwein trinkt – „ich übe gegen nichts anderes Gewalt aus als gegen meinen Körper“ –, und bis zu jenem letzten Spaziergang am Vorweihnachtstag auf dem Westfriedhof: „[E]s ist ein Jammer / dass wir den Schnee zertrampeln sage ich / du bist sehr still / dann bleibst du stehen / unfassbar / dass wir gerade hier miteinander reden müssen / das ist zu dramatisch / du sagst wir sind doch erwachsene Menschen.“

Es ist ein seltsames Gefühl, als Leserin so direkt in eine Geschichte hineingezogen zu werden, um dann 200 Seiten und fünf Monate später auf ebenso unnachgiebige Art wieder außen vor zu stehen. Eine Geschichte, die vom Verlieben und Begehren handelt, und ebenso von Einsamkeit, Verlorenheit, von Verlust und Angst. Es ist eine Geschichte, die in der Literatur schon x-mal erzählt wurde, aber noch nie so wie hier. Bei Tina Høeg ist es dieses Wie, das überwältigt. Die Autorin – und es sei hier nochmals hervorgehoben – beschränkt sich auf ein Minimum an Worten, ihre Sätze sind mehr als knapp, der Text besteht aus einzelnen Zeilen, konsequent fehlen Punkte oder Kommas. Diese Schreibweise nun entwickelt einen Sog, eine Intensität, und erfordert gleichzeitig eine langsame Lektüre, jedes Wort ist in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen und mit den anderen in Verbindung zu bringen. Lesen zwischen den Zeilen ist gefragt, wobei es weniger um ein Lesen, denn um ein Suchen, Zusammensetzen, Abklopfen der Worte geht.

 

 

Titelbild

Tine Høeg: Neue Reisende. Roman.
Aus dem Dänischen übersetzt von Gerd Weinereich.
Literaturverlag Droschl, Graz 2020.
200 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590461

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch