Forschungsfeld Autorenbibliotheken
30 Stichworte
Von Ulrike Trenkmann, Stefan Höppner und Jörn Münkner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVorbemerkung: Die Frage nach der Materialität von Literatur erlebt eine neue Blüte in der Zeit des Digitalen. Das Interesse der Forschung beschränkt sich aber nicht auf die gedruckten Texte und ihre Manuskripte, sondern der Blick schweift in die Peripherie der literarischen Produktion, hin zu Beschreibstoffen und Schreibgeräten, zur räumlichen Beschaffenheit von Schreibzimmern – und zur Autorenbibliothek. Die Autorenbibliothek ist der Ort, an dem das Sammeln von Büchern als Arbeitsmittel oder Gegenstand der Bibliophilie zusammentrifft mit der Lektüre, Recherche und Produktion neuer Texte. Bibliotheken – auch private – sind zudem Orte der Memoria, in denen sich Geschichte sedimentiert, sie ermöglichen einen Zugang zum intellektuellen Leben vergangener Epochen.
Umso erstaunlicher ist, dass sich die Literaturwissenschaft erst seit einigen Jahren genauer mit den Büchersammlungen von Autorinnen und Autoren befasst – dies nun aber umso intensiver. In diesem Kontext steht auch das Projekt „Autorenbibliotheken: Materialität – Wissensordnung – Performanz“ im Forschungsverbund Marbach – Weimar – Wolfenbüttel, in dem sich das Deutsche Literaturarchiv, die Klassik Stiftung Weimar und die Herzog August Bibliothek zusammengeschlossen haben. Das Projekt erforscht nicht nur bestimmte Büchersammlungen (die Bibliotheken von Gelehrten der Frühen Neuzeit, Goethes, und des jüdischen Dichters und Philologen Karl Wolfskehl) – sondern will auch die existierende Forschung zu Autorenbibliotheken bündeln und vernetzen, zum Beispiel durch Tagungen und Publikationen. Dazu gehört der Sammelband „Autorschaft und Bibliothek: Sammlungsstrategien und Schreibverfahren“, der nun im Göttinger Wallstein Verlag in der Reihe „Kulturen des Sammelns“ erscheint. Aus den Diskussionen zu diesem Band stammt das folgende, teils essayistische Glossar, das Arbeitsdefinitionen der wichtigsten Termini der Autorenbibliotheksforschung anbietet.
Annotation
Handschriftliche Einträge einzelner Wörter bis hin zu umfangreichen → Notizen an Seitenrändern und auf Vorsatzblättern mit Bleistift, Tinte, Kugelschreiber von der Autorin, dem Autor selbst, manchmal von fremder Hand sind Lesespuren: Sie zeugen von den Auseinandersetzungen mit einem Text und den Rezeptionen eines Werkes. Als redigierende und korrigierende Eingriffe sind sie von textgenetischer Relevanz. Kritische, ergänzende, erklärende, mnemonische oder emotionale Anmerkungen offenbaren Meinungen, Überlegungen und → Inspirationen der Leser und sind somit Indizien für Lektüreszenen und Leserbiographien. Die Auseinandersetzung mit An- und Unterstreichungen gleicht gelegentlich einem verschlungenen Spurenlesen, wobei bisweilen die Sinnhaftigkeit einzelner Zeichen im Verbogenen bleibt – vielleicht sind sie Ausdruck eines flüchtigen Gedankens. Eine Annotation sagt noch nichts aus über die Wichtigkeit des Gelesenen für diejenigen, die den Text lesen. Nicht selten sind es die für die Rezeption folgenreichsten Stellen, die vom Stift unberührt bleiben. [UT]
Bibliothek
In einem → Raum, einem Regal, mitunter in einem Koffer versammelte und verwahrte Bücher bilden eine Bibliothek. Sie ist Werkstatt lesender und schreibender Autorinnen und Autoren, denen Bücher geliebte Schätze, reine Arbeitsinstrumente und vertraute Gesprächspartner, und die Teil der eigenen Biographie, ihrer Korrespondenzen und beruflichen Austauschbeziehungen sind. Privatbibliotheken spiegeln bibliophile Vorlieben und bibliosystematische Idiosynkrasien ihrer Besitzerinnen und Besitzer. In ihnen materialisiert sich eine Ordnung, die sie selbst der Bibliothek geben, und die ihre Beziehung zu den Büchern abbildet. Keine Bibliothek ist starr, keine unveränderlich, keine ein autonomer Solitär. Ihre Aufstellung verändert sich ständig durch gekaufte, ge- und verschenkte, geerbte, ausgeliehene und ausgesonderte Bände; nachgelassene Büchersammlungen fallen oft der → Zerstreuung anheim und existieren in anderen Bibliotheken weiter. [UT]
Bibliothekar
Wer eine Autorenbibliothek besitzt, ist meist sein eigener Bibliothekar bzw. Bibliothekarin – diejenige Person, die Bücher beschafft, ihre Aufstellung festlegt und sie verwaltet. Häufig führt sie einen → Katalog der Bände. Nur ausnahmsweise wird damit jemand anders betraut. Postum steht es damit freilich anders: Die vorher dynamische, nun zum Stillstand gekommene Büchersammlung wird, selbst wenn sie nur in Teilen erhalten ist, von jemandem konserviert und verwaltet – je nach Institution von berufsmäßigen Archivaren, Bibliothekarinnen oder ehrenamtlichen Laien. Dies geht oft mit ihrer → Musealisierung einher. [SH]
Curiosa
In → Bibliotheken und Büchereien finden sich immer auch merkwürdige und sonderbare Bücher. Die Rubrik der sogenannten ‚Curiosa‘[1] dient ihnen als klassifikatorisches Sammelbecken, während der Begriff auch Leser und Käufer anlockt. In Autorenbibliotheken jüngerer Zeit werden erotische Schriften häufig euphemistisch als Curiosa registriert und gelistet. Bibliophilen bekannt und im Antiquariatsbuchhandel gebräuchlich, geht das Wort über mehrere Stufen auf das lateinische ‚cura‘ (Sorge, Pflege) im Sinne von ‚sorgfältig, aufmerksam und neugierig‘ zurück. Während es im 17. Jahrhundert ‚seltsam, aber wissenswert‘ meinte, liegt sein heutiger Bedeutungsschwerpunkt auf dem Komischen, Exaltierten und leicht Verschrobenen. [JM]
Dublette
Als Dublette wird ein doppelt oder noch öfter vorhandenes Exemplar einer Ausgabe bezeichnet. Sowohl in privaten als auch öffentlichen → Bibliotheken geht ihre Entstehung auf geschenkte Bände, nachgelassene und übernommene Bestände zurück. Versehen mit Provenienzen wie handschriftlichen → Annotationen oder → Exlibris erlangen aber auch diese → unikalen Charakter. Heute in Bibliotheken als sammlungswürdig erachtet, wurden in vergangenen Zeiten mehrfach vorhandene Bücher mit exemplarspezifischen Merkmalen oft als verschmutzt angesehen und abgegeben, ein neuwertiges Exemplar ohne Gebrauchsspuren hingegen behalten. [UT]
Exlibris
Ein Exlibris besteht aus einem zumeist rechteckigen Blatt unterschiedlicher Größe, das gewöhnlich auf der Innenseite des vorderen Einbanddeckels eingeklebt ist. Es bezeugt, zu welcher Person oder Institution das Buch einst gehörte, immer noch gehört. Selbst wenn sich nur ein einziges mit einem Exlibris markiertes Exemplar findet, verweist dies auf eine einstige Büchersammlung. Über die nüchterne Besitzerkennung hinaus spiegelt sich im Exlibris der Stolz der Besitzenden, möglicherweise auch eine Verlustangst oder das Bestreben, sich ästhetisch auszudrücken. So reicht das Spektrum der Exlibris von schlichten typengedruckten Papieren bis hin zu kleinen grafischen Kunstwerken, die neben dem Namenszug symbolisch aufgeladene und allegorische Darstellungen, ornamentale Rahmungen, Wappen, Portraits oder Bibliotheksinnenräume zeigen. [UT]
Exzerpt
Viele Autorinnen und Autoren des 16. bis 19. Jahrhunderts besaßen nicht nur eigene Bücher, sondern legten daneben umfangreiche Hefte mit Auszügen aus ihrer → Lektüre an, unter ihnen Winckelmann, Herder und Jean Paul. Die abgeschriebenen Textpassagen sind nicht einfach Verdopplungen → realer / virtueller → Bibliotheken, sondern auch ihr Konzentrat, aus dem sich besonders gut herauslesen lässt, welche Passagen für die Auseinandersetzung der Autoren mit den gelesenen Texten zentral sind. Das Exzerpieren wurde bis ins 18. Jahrhundert als Kunst mit eigenen Regeln betrachtet, die sich ein → Gelehrter in Ausbildung anzueignen hatte. Diese Kunst wird selbst wiederum in Büchern gelehrt, etwa bei John Locke oder in Daniel Georg Morhofs einflussreichem Polyhistor.[2] [SH]
Familie
Viele Autorenbibliotheken werden nicht nur von einer Person, sondern auch von denjenigen benutzt, mit denen sie zusammenlebt. Vielfach schreiben diese auch selbst, so dass sich der Besitz, ja selbst Benutzungsspuren nicht immer eindeutig zuordnen lassen. Prominente Beispiele aus dem deutschen Sprachraum sind die → Bibliotheken der Familien Goethe und von Arnim, von Christa und Gerhard Wolf oder Maxie und Fred Wander. Oft ist es der Familie zu verdanken, dass eine Bibliothek über Generationen erhalten bleibt, wobei sich die Zusammensetzung der Bände verändern kann. Eine häufige andere Variante gibt die Bibliothek nach dem Tod ihres Besitzers der → Zerstreuung anheim. [SH]
Gelehrter
meint die meist männliche, gebildete Person in der Vormoderne, die mindestens lateinkundig war, in der Regel studiert hatte und eigene Bücher besaß. Im engeren Sinn qualifizierte den Gelehrten der schöpferische Umgang mit Schrift, Bild und Zahl, Bücher dienten ihm als Wissens- und Argumentationsarsenale. Der Gelehrte wurde häufig zum Autor, der durch die → Lektüre und den Austausch mit anderen Gelehrten – sein primäres und oft ausschließliches Publikum – neue Bücher verfasste und nicht nur die eigene Büchersammlung, sondern mit seinen Schriften, Briefen und sonstigen Einlassungen den polyhistorischen gelehrten Diskurs kontinuierlich erweiterte. [JM]
Herkunft
Für den → Bibliothekar und Büchersammler ist die Perspektive auf die Bücher die des Bewahrens. Der auf den „Vorrat des Alten“[3] gerichtete Blick tangiert damit auch den Überlieferungszusammenhang und interessiert sich für die Frage, warum die erhaltenen Bücher gesammelt wurden. Viele Bücher besitzen wechselhafte Karrieren. Im Laufe ihres Lebens gehen sie auf Wanderschaft und geraten in wechselnde Hände. Die Herkunft von Büchern bringt automatisch ihre Provenienz ins Spiel. Sie schärft die Aufmerksamkeit für die Bücher als Dinge in einem Kreislauf der Zirkulation, deren Existenzbeginn durch Filiationen verstellt ist, und die in variable Gebrauchszusammenhänge getreten sind. Dabei haben sie stets Einfluss auf ihre Besitzer und Leser ausgeübt. In vielen institutionellen → Bibliotheken formt sich erst allmählich Aufmerksamkeit für Fragen der Herkunft; dazu trägt auch die Provenienzforschung der letzten Jahre entscheidend bei. Neben → Widmungen, → Exlibris, Supralibros und Besitzeinträgen, die Episoden der Herkunft als Pedigree und Ruhm interessant machen, erhalten Signaturen, Inventarnummern und Bibliotheksstempel in Büchern erst allmählich den Status des Erfassungswürdigen. [JM]
Inspiration
Kreative Gedanken bedürfen einer zündenden Idee. Ein inspirierender Einfall regt den Geist an und befördert den schöpferischen Schreibakt. Die biblische ‚inspiratio‘ Adams, dem erst Gottes Atem zum Leben verhilft, veranschaulicht einen solchen Anregungsmoment als etymologische und mythopoetische Urszene. Sehr viele Autoren setzen auf Inspirationen, die sie aus ihren Privatbibliotheken beziehen, die Bücher und Dinge versammeln, die sie mit Figuren, Geschichten, Topoi und Argumentationen versorgen. Andere insistieren, dass nur die pulsierende Lebenswirklichkeit außerhalb der eigenen → Bibliothek und fernab vom Schreibtisch die nötige Zündkraft für eine überzeugende Textarbeit besitzt. [JM]
Jota
Martin Luther war außer sich, wenn die Drucker ein Jota seiner Schriften missachteten, denn die kleinste Veränderung korrumpierte für ihn das Wort Gottes. Der neunte Buchstabe des griechischen Alphabets, dem lateinisch ‚i‘ entspricht, meint im übertragenen Sinn etwas Kleines, sogar Unscheinbares. Luther beharrte aber nicht nur auf der orthodoxen Zeichensetzung, er war auch der Meinung, dass einer die Heilige Schrift noch so gut lesen konnte, ohne den rechten Glauben verstünde er doch kein Jota des Geoffenbarten. Selbstbewusste Autorschaft ringt um jedes Jota. Denn Dichter und Textarbeiter wollen Bücher hervorbringen, die unverwechselbar sind und ihre Handschrift tragen. [JM]
Katalog
In handschriftlicher, gedruckter oder elektronischer Form enthält ein Katalog bibliografische Daten von Büchern und Manuskripten. Er verzeichnet eine bestimmte Menge von Büchern, positiviert sie damit grundsätzlich als Bestand und überliefert ihn als solches. Je nach Anliegen (der Katalogverfasserschaft) erfolgt dies nach alphabetischer Reihung der Autoren, Buchformat, Gattungen und/oder nach fachlichen Klassifikationen, in denen zeitabhängige Wissensordnungen erkennbar werden. In anlassbezogenen Listen und Verzeichnissen sind Ausschnitte einer → Bibliothek überliefert, nachgelassene und zur Weitergabe bestimmte Bände erfasst, eine Auswahl zu versendender Bücher zusammengestellt. In Auktions- und Antiquariatskatalogen sind sie mit Preisen, zum Teil mit verkaufssteigernden Verweisen auf → Widmungen und → Annotationen versehen. In Autorenbibliotheken stellen Zettelkästen mit aufeinander verweisenden, miteinander im Dialog stehenden und mannigfaltig mit Informationen angereicherten Karteikarten ein spezifisches Kataloggebilde dar. Kataloge geben die Ordnung des Katalogisierenden wieder – oft Besitzer oder Besitzerin der Bibliothek – und steuern die Wahrnehmung seiner – oder ihrer – Büchersammlung. [UT]
Lektüre / Laboratorium
Das erste Interesse an der → realen Autorenbibliothek gilt den Lektüren und fokussiert die Bücher in erster Linie als → Quellen für das geschriebene Werk: was gelesen wurde, so die Vorstellung, wird in neue Texte umgesetzt. Die Herausforderung besteht darin, in den Büchern die Spuren solcher Lektüren nachzuweisen. Doch selbst → Annotationen, → Exzerpte und → Notizen können in die Irre führen. Oft sind es gerade Passagen und Bücher ohne solche Spuren, die als → Inspiration wirken, oder ein Band der → virtuellen Bibliothek, der in einem Antiquariat, einer öffentlichen oder einer anderen Autorenbibliothek steht und für uns unauffindbar ist. Ein Laboratorium ist die → Bibliothek dann, wenn man sie als Experimentierfeld des Autors begreift, in Analogie zum Arbeitsort des Naturwissenschaftlers. Wie der Chemiker die Reagenzien mischt, kann der Autor (verschiedene) Lektüren in einer neuen Synthese zusammenführen. Notizen, Exzerpte, Annotationen sind demnach die systematischen oder unsystematischen Protokolle dieser Praxis. [SH]
Mobiliar
Die → Bibliothek verfehlt ihren Zweck, wenn sie außer der Aufbewahrung, progressiven → Sammlung, Erschließung und Pflege von Büchern nicht den entdeckerischen Zugang zu den Beständen und die Beschäftigung mit ihnen am Standort gewährleistet.[4] Es ist eine kulturhistorisch zentrale Funktion von Bibliotheken, dass sie Arbeitsräume sind. Tische und Stühle und nicht nur Katalog- und Regalsysteme, die immer mehr Medieneinheiten kompakt magazinieren, bestimmen die Funktionstüchtigkeit einer Bibliothek. Ein zweckmäßig gestaltetes Mobiliar beeinflusst nicht zuletzt die ästhetische Ausstrahlung der Bibliothek als Kulturstätte und Wissensspeicher. Zunehmend wird die Bibliothek auch zum sozialen → Raum mit Loungebereichen und einem Interieur, das nicht nur die eigentlichen Benutzer zur Erholung und zum Austausch ansteuern, sondern sich jedermann öffnet. [JM]
Musealisierung
Eine Autorenbibliothek existiert zu Lebzeiten in vivo, später meist nur in vitro. Im Archiv steht sie für Untersuchungen bereit, im Museum ist sie Schaustück für das Publikum. [SH]
Notiz
Jede kurze, meist verknappte Niederschrift eines kurzen Textes. Historisch erfolgten Notizen aus Gründen der Schnelligkeit meist handschriftlich, mit Feder, Bleistift oder Füller. Ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die Schreibmaschine, später der Kugelschreiber und die digitalen Aufzeichnungsmedien dazu. Vom → Exzerpt unterscheidet sich die Notiz durch ihre elliptische Zeichenfolge und dadurch, dass sie oft für jeden außer ihrem Urheber kryptisch bleibt; von der → Annotation, dass sie sich in der Regel nicht auf demselben Schriftträger befindet wie der Text, auf den sie sich bezieht. Wie Exzerpte lassen sich Notizen zu → Sammlungen zusammenführen, die sich auf eine Vielzahl von Texten innerhalb und außerhalb einer gegebenen → Bibliothek beziehen können. Die Praxis des Notierens könnte dank des → Xerox-Verfahrens und der stärkeren Nutzung digitaler Texte zurückgegangen sein, aber quantifizieren lässt sich dies nicht. [SH]
Œuvre
Aus dem Französischen übernommen, meint Œuvre Werk, doch präzisiert sich die Wortbedeutung im Kontext schriftstellerischer Produktion auf das Gesamtwerk einer Autorin oder eines Autors. Das Œuvre von Schriftstellerinnen und Dichtern zieht spätestens dann die Aufmerksamkeit auf sich, wenn ihre Biographien und Lebensleistungen bilanziert, die Gesamtausgaben ihrer Bücher ediert und ihre Nachlässe oder Vorlässe den großen Literaturarchiven übergeben werden. Das Œuvre ist einer → Bibliothek vergleichbar, in beiden scheint ein ganzer Kosmos auf. [JM]
Palimpsest
In der Antike und im Mittelalter war Schreibmaterial so teuer, dass man die Tinte von den Seiten abschabte, um Papyrus oder Pergament wieder neu beschriften zu können. Meist blieben aber Spuren des ursprünglichen Textes zurück, die mittels spezieller Techniken wieder lesbar gemacht werden können, so dass sich auf demselben Beschreibstoff mehrere Texte überlagen können. Im übertragenen Sinne ist auch das annotierte Exemplar in einer Autorenbibliothek ein Palimpsest[5], in dem sich ursprüngliche Text, sei er nun im Original handschriftlich oder gedruckt, und die Spuren der Auseinandersetzung wie die → Annotation ein neues, mehrschichtiges Ganzes mit → unikalem Charakter ergeben. [SH]
Quelle
Der metaphorische Gebrauch des Wortes basiert auf einem romantisch-suggestiven Wunschdenken: Wo Quellen sind, gibt es Ursprünge, von denen aus neuer Sinn hervorsprudelt. Der Verdacht, die moderne Welt sei wüst und leer und bar jeder Sinnhaftigkeit, lässt sich so entkräften. Aus der Perspektive von → Bibliothek und Autorschaft verweist das Wort ‚Quelle‘ darauf, dass Autoren angeregt werden und Basisreferenzen für ihre Auseinandersetzung finden; ferner dass Werke anderen Werken Substanz verleihen, sie stützen und beglaubigen. Die Rede von der Quelle tangiert den Moment der Initiation eines Werkes und schriftstellerischer Arbeit, sie markiert (aber) vor allem die Möglichkeitsbedingung für die Genese und Souveränität eines Werkes und erhält so ihre kulturhistorische Bedeutung.[6] Glaubt man Michel Foucault (der sich seinerseits an Nietzsche anlehnt), ist eine solche Suche nach dem Ursprung naiv, weil dieser niemals einholbar ist; er befindet sich immer schon vor und außerhalb der Geschichte. Stattdessen plädiert Foucault dafür, Nietzsches Auffassung der ‚Genealogie‘ zu folgen und nach Anfängen, nach → Herkunft zu suchen: „Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt vielmehr das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat […]. Es gilt zu entdecken, daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen.“[7] [JM/SH]
Raum
In Adelsbibliotheken der Frühen Neuzeit war es üblich, alle Bücher so in den Regalen eines einzigen Raumes anzuordnen, dass sie symbolisch die Gesamtheit des menschlichen Wissens repräsentierten und mit einem einzigen Rundumblick erfasst werden konnten. Diese Ordnung war hierarchisch: Zuerst kam die Theologie, gefolgt von allen anderen Sachgruppen. Die räumliche Anordnung der meisten Autorenbibliotheken ist dagegen pragmatischer Natur und richtet sich nach dem gerade vorhandenen Platz und individuellen Arbeitsbedürfnissen. Wie die Bände im Einzelnen anordnet, lässt sehr wohl Aussagen über seine Wissensordnung und seine ästhetischen Bedürfnisse zu. [SH]
Real / Virtuell
Für Daniel Ferrer[8] umfasst die reale Autorenbibliothek jene Bände, die Autorin oder Autor tatsächlich besitzen, die virtuelle alle, die sie jemals gelesen haben. Beide überlappen sich, wie stark, variiert jedoch sehr. Die virtuelle → Bibliothek lässt sich naturgemäß nie ganz rekonstruieren, denn dass die → Lektüren eines Autors von der Kindheit bis zum Tod absolut vollständig dokumentiert sind, ist undenkbar. Dasselbe gilt meist auch für die reale Bibliothek, denn sie ist zu Lebzeiten ein dynamisches Gebilde, in das ständig neue Bücher Eingang finden oder aus dem sie verliehen, verschenkt, verkauft oder anderweitig ausgesondert werden. Was beim Tod von Autorin oder Autor von ihr übrig bleibt, ist eine Momentaufnahme: Sie mag wie stillgestellt scheinen, doch zeigt sie die → Sammlung nur in einem bestimmten Moment. [SH]
Sammlung
Jede → Bibliothek ist auch eine Sammlung, insofern sie von einer oder mehreren Personen mehr oder weniger bewusst zusammengetragen und gestaltet wird. Dabei kann der bibliophile, monetäre oder der Erinnerungswert der Bände im Vordergrund stehen; oft ist es jedoch der Gebrauchswert für das eigene Schreiben, der das wichtigste Kriterium für die Auswahl dieser bestimmten Bücher abgibt. Häufig liegt eine Mischung von Beweggründen vor. Viele Aussagen über den Wert einer Bibliothek für Besitzerin oder Besitzer lassen sich erst anhand des individuellen Profils einer Büchersammlung treffen. [SH]
Tilgung
Eine Tilgung ist ein verschleiernder, zuweilen vernichtender Vorgang am Buch, auf und an seinen Seiten. Ausgestrichene, überklebte, gar ausgeschnittene Autogramme spiegeln etwa ein gestörtes Verhältnis gegenüber dem Vorbesitzer eines Buches wider. Getilgte → Annotationen oder geschwärzte Textstellen lassen eine intensive Rezeption erkennen, herausgerissene Seiten gar auf eine stark ablehnende Haltung schließen. Aber auch während der Entstehung, der Komposition des Textes werden Wörter, Sätze, ganze Passagen verworfen, fertige Seiten vernichtet: Diese Tilgungen bleiben für gewöhnlich verborgen, denn sie sind nur im handschriftlichen Manuskript oder elektronischen Dokument überliefert. [UT]
Unikalisierung
In Autorenbibliotheken finden sich nicht selten Unikate, also Bücher und Manuskripte, die nur in diesem einzigen Exemplar erhalten sind; das heißt, es gab zuvor mehrere Exemplare (auch bei Manuskripten kann dies der Fall sein), aber nur dieses eine ist in der Überlieferung übrig geblieben. Zu Unikaten werden Bücher aber auch durch → Widmungen, → Annotationen, Unterstreichungen und Besitzvermerke. In einem ganz weitgehenden Verständnis ist aber noch das unberührte, ungelesene Buch in einer Autorenbibliothek ein Unikat – als Exemplar einzigartig schon dadurch, dass es zu dieser bestimmten → Sammlung gehört. [SH]
verstellt
Ein unbeabsichtigt verstelltes Buch erzeugt Unruhe, die einer → Bibliothek innewohnende Ordnung ist gestört. In die schriftstellerische Arbeit einbezogene Bücher werden ständig umgestellt, verschoben, verrückt, zeitweilig unter anderen Büchern und Manuskripten begraben. Sie gehen neue Nachbarschaften ein, verstellen die Sicht auf andere Bücher oder werden bewusst anders zugeordnet, was mitunter verborgene Zusammenhänge und neue Blickwinkel auf die Büchersammlung eröffnet. Gelegentlich verstellt sich ein Buch selbst und versteckt seinen Inhalt hinter einem Titel. [UT]
Widmung
Als Zeichen freundschaftlicher Verbundenheit, als Ausdruck des Dankes oder um jemandes Gunst zu erlangen tragen Bücher Widmungen. Gedruckt stehen sie auf einer eigenen Widmungsseite; handschriftlich sind sie auf dem Einband oder den ersten Seiten des Buches verewigt, vornehmlich mit Tintenfüller als edleres Schreibutensil. Sie begegnen als kurze Zeile mit wenigen Worten bis hin zu Gedichten, sind von formeller bis intim gehaltener Natur, versehen mit Ortsangabe und Zeit erzeugen bisweilen eine berührende Nähe. Eine Widmung erzählte eine Geschichte. Mehrere Widmungsexemplare einer Autorenbibliothek lassen soziale Netzwerke, Korrespondenzen und Beziehungsgeflechte erkennen. [UT]
Xerox
kurz für Xerographie,[9] eigentlich der Name für die Xerox Corporation (zuvor Haloid Company), die das so benannte fotografische Nachdruckverfahren für kleine Auflagen entwickelt hat. Die Vorlage wird fotografisch auf eine elektrostatisch geladene Metallplatte übertragen, diese mit Kunstharz-Farbpulver eingestäubt und dann durch Ultrarotbestrahlung auf Papier aufgeschmolzen. Das Reproduktionsprinzip kommt in allen gängigen Kopiergeräten und Laserdruckern zur Anwendung. Die epochale Bedeutung dieser Medientechnologie für die privat organisierte, verlagsunabhängige Vervielfältigung von Texten, Büchern und ganzen Werkteilen, und damit für die Weltbibliothek ist evident; xerographierte Texte sind heute selbstverständlicher Teil von Autorenbibliotheken und machen dadurch das → Exzerpt teilweise überflüssig. Spätestens ab den 1970er Jahren nimmt das Xerox-Prinzip einen wichtigen Platz im medienübergreifenden Aufschreibesystem der Post-Gutenberg-Ära ein. [JM]
Zerstreuung / Zerstörung
Was gesammelt ist, kann auch wieder zerstreut werden – ob mit oder ohne Zustimmung des Sammlers. Dazu gehören Verkauf und Versteigerung der → Bibliothek, Umzüge oder finanzielle Notlagen, aber auch Zwangssituationen, wie sie bei politischer Verfolgung und anderen Krisen herrschen. Nicht selten ist die Zerstörung von → Sammlungen das Ergebnis von Kriegen und Katastrophen wie Bibliotheksbränden. Beides verbindet sich im Bild des Brandes der Bibliothek von Alexandria. [SH]
Zitat
Eine wörtlich aus einem anderen Text übernommene Passage, deren Umfang von einem Wort bis zu kompletten Texten reichen kann. In der Regel ist das Zitat markiert, beispielsweise durch Anführungsstriche, oft ist auch seine → Herkunft genau angegeben. Daneben existieren verdeckte Zitate, die mitunter nur für Eingeweihte erkennbar sind. Die → reale bzw. virtuelle → Bibliothek eines Autors oder einer Autorin gilt als ihr größtes Zitatenreservoir. Das ist die vielleicht wichtigste Hypothese der Autorenbibliotheksforschung. Folgt man Theorien der Intertextualität, wie sie zuerst Julia Kristeva entwickelte,[10] ist jeder Text ein Geflecht, das sich auf andere Texte zurückbezieht – und sie damit in einem erweiterten Sinn zitiert, ohne dass das von der Intention des oder der Zitierenden abhinge. Interessanter als das Zitat selbst ist das, was die Zitierenden aus ihm machen. [SH]
[1] Vgl. Lexikon des gesamten Buchwesens [= LGB], 2. Aufl., hg. von Severin Corsten, Günther Pflug und Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller, Bd. 2, Stuttgart 1989, S. 203.
[2] Vgl. Elisabeth Décultot: Winckelmanns Lese- und Exzerpierkunst. Übernahme und Subversion einer gelehrten Praxis, in: Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, hg. von Elisabeth Décultot, Berlin 2014, S. 133–159.
[3] Erhart Kästner: Über das bibliothekarische Mißvergnügen und noch ein zweiter Traktat, in Ders.: Über Bücher und Bibliotheken. Dresden und Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 1974, S. 45–62, hier S. 47.
[4] Zum Thema des Mobiliars in der Bibliothek vgl. das Lexikon des Bibliothekswesens, Bd. 1., hg. von Horst Kunze und Gotthard Rückel, unter Mitarbeit von Hans Riedel und Margit Wolle. 2. Aufl., Leipzig 1974, Sp. 239-240; vgl. auch das Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB), 2. Aufl., hg. von Severin Corsten, Günther Pflug und Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller, Bd. 1, Stuttgart 1987, S. 400-401.
[5] Vgl. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Berlin 2015, S. 36.
[6] LGB, Bd. 6, hg. von Severin Corsten, Stephan Füssel und Günther Pflug, Stuttgart 2003, S. 148.
[7] Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Von der Subversion des Wissens, hg. und übers. von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1978, S. 83–109, hier S. 89–90.
[8] Vgl. Daniel Ferrer: Bibliothèques réelles et bibliothèques virtuelles, in: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 30/31 (2010), S. 15–18.
[9] Vgl. Dietmar Strauch und Margarete Rehm: Lexikon Buch, Bibliothek, Neue Medien, 2. Aufl., München 2007, S. 46.
[10] Vgl. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, hg. von Jens Ihwe, Frankfurt am Main 1972, S. 345–375.
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