Aber ja doch: Do think twice, it’s alright!

Gerhard H. Hommer präsentiert in „Attraktionen der Straße. Eine Berliner Literaturgeschichte 1927–1932“ eine Fülle wegweisender Beobachtungen, Überlegungen und Thesen

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da glaubt man, ein bestimmter Literaturzeitraum und dessen nach heutigem oder damaligem Urteil prominente oder beachtete Autoren und Autorinnen bürgerlicher Couleur – nur um diese geht es hier – seien abgegrast, die Ernte eingebracht bzw. die Mägen, Därme, Hirne und der anderen Speicher mehr wohlgefüllt. Mit einer klugen, auf breitem (alltags-)kulturellen und multidisziplinärem Wissen, hoher Sprachsensibilität, analytischem Geschick und wachem Theoriebewusstsein fußenden und in dialektischem Denken geschulten literaturwissenschaftlichen Studie (zugl. Diss. Konstanz, 2019) zur Endphase der Weimarer Republik als einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) belehrt uns Gerhard H. Hommer eines Besseren.

Beiherspielend wird so daran erinnert, dass wir uns, weltanschaulich-theoretisch-methodisch bebrillt, wie wir nun einmal alle sind, stets nur auf dem Feld der mehr oder minder gut begründeten, der in ihren Voraussetzungen wünschenswerterweise objektivierten Ansichten und Vorläufigkeiten bewegen. Das gilt selbstverständlich auch für die nicht nur der Anzahl nach beeindruckenden gut 300 WissenschaftlerInnen aus diversen Disziplinen und Zeiträumen, die Hommer in seinem Analyse- und Argumentationsgang berücksichtigt.

Die Studie handelt „vom Dasein der vielfigürlichen und vielfarbigen Straßenequipe“ in der „Berliner Straßenklassik“ und interessiert sich dabei u. a. für die „Attraktionen der Straße zwischen Alltag und Spektakel“ sowie für jenes „ästhetische Tun“, für jenes „Make-up zwischen Repräsentation und Exploitation“ bzw. „literarische[] Face-Work“ (Erving Goffman), mit dem bürgerliche Intellektuelle in den fünf, sechs Jahren vor der Machtübergabe an Hitler „um ihre Gestalt, Deutungsmacht und Marktanteile ringen.“

Im Zentrum der nach „Themenkomplexen“ organisierten Studie stehen vor allem die Prosa und Publizistik, vereinzelt aber auch die Dramatik von AutorInnen wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Marin Beradt, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Siegmund Freud, Georg Glaser, Paul Gurk, Franz Hessel, Erich Kästner, Martin Kessel, Irmgard Keun, Siegfried Kracauer, Hans Ostwaldt, Joseph Roth, Georg Simmel und Alfred Sohn-Rethel. Es finden aber auch andere wie Rudolf Arnheim, Rudolf Binding, Ernst Bloch, Harry Domela, Wolf Durian, Georg Fink, Sammy Gronemann, Ernst Haffner, Hermann Kesser, Albert Lamm, Martin Lampel, Walter Mehring, Erich Ernst Noth, Robert Musil, Alfred Polgar, Carl Schmitt, Alexander Graf Stenbock-Fermor, Gabriele Tergit oder Carl Zuckmayer ihren Platz, darüber hinaus Filme von Wilfried Basse, Fritz Lang, Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer sowie von Hans Steinhoff. 

Der Aufbau der Studie folgt einem klaren Argumentationsgang. Dabei sind die Kapitel eins bis drei als theoretischer und historischer Kontext für bestimmte Einzelaspekte um 1930 zu verstehen. Zusammen machen diese drei Kapitel den „mentalitätsgeschichtliche[n] Abstand“ zwischen frühem 20. Jahrhundert und jener „Situation um 1930“ kenntlich, der das eigentliche Interesse der Studie gehört. Diese Einzelaspekte werden dann in den Kapiteln vier bis sieben auf erhellende, mit Innovationspotential einhergehende Art und Weise verhandelt.

Alle flüssig, passagenweise sogar unterhaltsam und ironisch-pointiert verfassten Kapitel sind, z. T. mehrstufig, weiter untergliedert und verzeichnen so sprechende, so trefflich-schöne Titel wie Versachlichung des Gehens (Unterkapitel zu IV.1), Kreativfunktionäre (ebd.) oder Hochmut nach dem Fall. Intellektuelle im Handgemenge (V.3).

Das erste Kapitel ist wie andere Abschnitte auch von Freud und hier von dessen Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909) inspiriert. Es wird rekonstruiert, welche mentale Strategien das nach 1918 auch in seinen Intellektuellen von „soziale[r] Nivellierung“ und „Proletarisierung“ (Walter Benjamin) bedrohte Bürgertum – Hommer spricht stets etwas eigenwillig von „die Bürgerlichen“ bzw. „Bildungsbürgerlichen“ und erlaubt sich auch sonst die ein oder andere saloppe ‚Schreibe‘ – und dessen Literatur „als Indikator und Profiteuer eines Ordnungssinns“ vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein gegenüber dem Phänomen „Straße“ als dem „Kontrapunkt“ zu den „kultisch verklärten […] Leitwerten Häuslichkeit und Intimität“ entwickelten. Stichworte sind hier u. a. „›innere‹ Urbanisierung“ (Gottfried Korff), „Domestizierung des großstädtischen Terrains“ und „ästhetisch verfeinerte Handhabe“, aber auch „Straßenangst“ (Siegmund Freud), „Vergewaltigungen“ (Georg Simmel), „unrealistische Überreaktionen“, „Paranoia und Panik“. 

Unter der Überschrift Freiheitsversprechen wird dann unter besonderer Berücksichtigung von Schriften Walter Benjamins (u. a. Chronik und Berliner Kindheit um neunzehnhundert, hier vor allem Bettler und Huren) der „Sexus der Straße“ als „Terrain eines Konkurrenzkampfes der Geschlechter“ in den Blick gerückt, jenes Potential an Attraktionen und Unwiderstehlichkeiten, das die „episodische[] Entgrenzung beengter Existenz“, den „Kurzurlaub von der abgeschmackten Fadesse“ versprach und es dem tradierten „Ordnungssinn“ schwer machte.

Wo dergestalt zwei Grundorientierungen konfligieren, bedurfte es der Erziehung und der Aufklärung durch „phänomenologische[], sozialpsychologische[] und soziologische[] Diagnosen“ literarischer Art, zum Ende der Weimarer Republik hin dann bspw. auch durch eine entsprechende und bei Hommer in zahlreichen Beispielen entfaltete Kinder- und Jugendliteratur (heute noch prominent Wolf Durian, Kai aus der Kiste und Erich Kästner, Emil und die Detektive). Gefragt waren aber auch sozialreformerisch getönte Texte (u. a. Ernst Haffner, Jugend auf der Landstraße Berlin, Justus Erhardt, Straßen ohne Ende, Georg Glaser, Schluckebier) und Filme (Hans Steinhoff, Scampolo, ein Kind der Straße, Fritz Lang, M – Eine Stadt sucht einen Mörder), die soziale (Straßen-)Wirklichkeiten – Stichwort: „Straßenwaisenkinder[]“ – fokussierten. Folgerichtig verhandelt das dritte Kapitel „Erziehungsmaßnahme[n]“. Die hatten vor allem bei im Kaiserreich sozialisierten bürgerlichen Intellektuellen weniger zu „Disziplinierung“ als vielmehr zu „Dissidenz“ geführt.

Im vierten Kapitel, das denjenigen Teil der Studie eröffnet, der Einzelaspekte diskutiert, geht es anhand von Franz Hessels Spazieren in Berlin („ästhetische Empfindlichkeit“ bzw. „verfeinerte[s] Ressentiment“ als „bildungsbürgerliche Verlegenheitslösung“), Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen („Escortservice“ als „Liebes- und Geschäftsprinzip einer Kleinstunternehmerin“) und Bertolt Brechts Dreigroschenoper („Vermarktung der Armut als ästhetischer Attraktion“) um die „Ökonomie der Straße“, d. h. um „Formen ästhetischer Bewirtschaftung der Straße zwischen Opportunismus und Dienstleistung.“  Welche „Gewinnerwartung[en]“, welche Gratifikationen verbanden die ‚Dissidenten‘ mit der Straße, die von Politikern und Planern immer mehr von „sozialen und lebensweltlichen Mehrzweckraum zum Verkehrskanal“ modelliert und auf „Nutzung“ reduziert wurde?

Sich „Gewinne“ welcher Art auch immer halber auf die Straße zu begeben und sich gar mit „der Massenkultur und dem „Mann der Straße“ einzulassen, führt allerdings dann in einen Zwiespalt, wenn man sich keinesfalls mit ihr gemein machen und vielmehr superior bleiben möchte. Davon handelt das fünfte Kapitel Intellektuellendilemma. Populär werden, Autorität bleiben, dass sich Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (der „Straßenhändlerganove“ zwischen Realistik und Kolportage), das Thema „Pragmatisierung der Literatur versus Literarisierung der Presse“ und dem „Varianten einer typischen ambivalenten Pose“ hervorbringenden „intellektuelle[n] Hochmut“ der Kracauer, Benjamin und Döblin vornimmt. 

Das sechste Kapitel Verlustanzeige. Archäologie der Nischenwirtschaften und das siebente Kapitel Schreckensbotschaft. Die Zeit der Einzelkämpfer gilt „[a]bgewirtschaftete[n], krisenhafte[n] Straßenexistenzen“. Zunächst werden über Martin Beradts Beide Seiten einer Straße, Hans Ostwaldts Die Berlinerin, Paul Gurks Berlin, Rundfunkvorträge Walter Benjamins und Reise-Feuilletons von Siegfried Kracauer und Alfred Sohn-Rethel „melancholische[]“ Verlustmeldungen thematisiert, „die den Verdrängungswettbewerb auf Berlins Straßen begleiten.“ Dann geht es anhand von Siegfried Kracauer-Feuilletons wie Schreie auf der Straße, Über Arbeitsnachweise, Kino in der Münzstraße und Reisen, nüchtern, der soziologischen Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel sowie Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? um „akustische und visuelle“ Schreckensnachrichten.

Die Studie endet thematisch mit einem Von Ende und Nachleben der Straße untertitelten „Schlussbild“, das herausstellt, wie die zur „Meistererzählung Ende‹ und ›Verlust‹“ neigende „bürgerliche Straßenhistorie“ und deren „Rhetorik Abgesang‹“ durch die „nationalsozialistische Eroberung der Straße maliziös und krass überboten“ wurde. Beschlossen wird die Studie von einem Apparat, der aus einem fast einschüchternden, gut 30 Seiten langen Literatur- und Filmverzeichnis (ca. 240 Primärtitel und Quellen, 4 Filme, ca. 420 Sekundärtitel) und einem Verzeichnis besteht, das 17 über die Studie verstreute Abbildungen (u. a. Fotos von Georg Pahl, Willy Römer, August Sander, Hans Schaller und Friedrich Seidenstücker) nachweist.

Aus der hier nicht annähernd wiederzugebenden Fülle an erhellend-provokanten, wie im Falle Erich Kästners nur zu begrüßenden Einzelbeobachtungen und Thesen, die die Studie so lesenswert macht, seien im Folgenden exemplarisch vier hervorgehoben, die auch außerhalb von Universität und Fachkulturen interessieren dürften:

In der zweiten Hälfte der 1920er sei die Frau sukzessive – Stichworte: „Diskussion der Frauenfrage“, „Frauenthema“ ist „Männersache“ – „zum öffentlichen Subjekt“ geworden. Das belegten mittelbar bspw. unter den Titeln Die Frau, die allein geht und Die unbegleitete Dame gesammelte Diskussionsbeiträge in der liberalen Vossischen Zeitung, aber auch ein Film wie Robert Siodmaks und Edgar G. Ulmers Menschen am Sonntag. In Die Angestellten, dem Ton nach „harmlos zugleich und ein wenig hochmütig“ (Adorno), betreibe der wie eine ganze „Kohorte Intellektueller“ (z.B. Alfred Döblin) paternalistisch auftretende Kracauer nicht nur eine „nachsichtige Entmündigung“ der Angestellten, sondern „im Pakt mit dem Publikum“ – „bürgerlich, gebildet, einflussreich und männlich“ – auch eine „Bloßstellung der Frau“.

Scheunenviertel, Alexanderplatz, Schlesischer Bahnhof: Unter den Namen dieser „Grenzstationen“ mit dem „Status eines inneren Orients“ sei Berlin von Autoren wie Martin Beradt „frontier-Charakter“ zugesprochen worden. Dessen dem „showing“ und nicht dem „telling“ verpflichtete und wie Berlin Alexanderplatz „umstandslos über Fremde und Fremdes verfügen[de]“ Roman Beide Seiten einer Straße gehe es um die „Vielstimmigkeit der Straße“, er verzichte von daher auf ein „Metanarrativ“. Wie Döblin liefere allerdings auch Beradt „Intellektuellenfolklore“, beide Romane seien „Kopfgeburten einer beflissen authentischen Volksmündlichkeit.“ Das gelte auch für am Marktgeschehen und am Dialekt interessierte und für Kinder und Jugendliche gedachte Rundfunkbeiträge Walter Benjamins (Straßenhandel und Markt in Alt- und Neuberlin), in denen „[i]mmer aufs Neue“ „Alltagsarchäologie und Folklore ineinander“ umkippten. Dagegen sei Paul Gurks Roman Berlin trotz „pathosschwangere[r] Kulturkritik“ und „stilistischen Eklektizismus“ „historisch erhellend“, da er eine in den zwanziger Jahren dominante „mentalitätsgeschichtliche[] Situation: Abschied als Geisteszustand“ wiedergebe – Hommer verweist in diesem Zusammenhang u. a. auch auf Kracauers Abschied von der Lindenpassage und Straßenvolk sowie auf Sohn-Rethels Ideal des Kaputten und spricht zusammenfassend von einer „Neigung“ der bürgerlichen Intellektuellen „zu Folklore und Sozialromantik der Nieschenbewirtschaftung“.

Erich Kästners „gehörig“ bei Wolf Durians Kai aus der Kiste Anleihen nehmende Roman Emil und die Detektive handele von der „Restitution der Besitzverhältnisse“ einer Klassengesellschaft – eine „harmonisierende Klassendidaktik“ sei vor allem in dessen Pünktchen und Anton inkorporiert – und erzähle „ein kleinbürgerliches Rührstück der Eigentumswiedergewinnung“. Mit seiner Apologie des „Wertekanon[s] der Erziehungsberechtigten“ und seinem „lustvollen Konformismus“, seinen „einvernehmlich[en], nicht eigensinnig[en], anständig[en], nicht eigenständig[en]“ Kindern und seiner auf „pädagogische[n] Showroom“ hinauslaufenden „Maniküre der urbanen Materialität“ sei Emil und die Detektive als „Ikone der Häuslichkeit“ ein „Schaustück“ für die „Entwicklung zur ›Kinder-Kindheit‹“ (Hartmut von Hentig), zum „mehr oder weniger realitätslose[n] Wartestand“ (Oskar Negt). „Die ›Tyrannei des Familiensinns‹ (Philippe Ariès)“ mache „sich darin als libidinöse Selbstzensur geltend. Die Kinder haben die Unlust am außerhäuslichen Lustgewinn erfolgreich verinnerlicht.“ Demgegenüber zeigten bspw. Durians Kai aus der Kiste und Hans Steinhoffs Scampolo Straße als „genealogische[en] Nullpunkt“ und „Straßenkindheit als Anfechtung erzieherischer Autorität.“

Eine (sozialgeschichtlich angereicherte) „Rezeptionsästhetik der Zeitung“ und deren „Textproduktion“ lasse zum einen erkennen, wie die „Institution Literatur“ zusehends „in den Sog der Straße“ gerate. Zum anderen werde deutlich, wie die neue, textlich auf „Kürze, Episode, Pointe und Aktualität“ und lesekulturell auf „kulturkonsumierenden Sofortgebrauch“ hinauslaufende Situierung der Zeitung „in Bodennähe der Straße“ das alte, aufklärerische Konzept bürgerlicher Öffentlichkeit verändere.

Titelbild

Gerhard H. Hommer: Attraktionen der Straße. Eine Berliner Literaturgeschichte 1927-1932.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
412 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339859

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