Die Gegenwartsliteratur als Literatur der (öffentlichen) Diskurse

Leonhard Herrmann und Silke Horstkotte legen mit „Gegenwartsliteratur. Eine Einführung“ ein neues Lehrwerk zum Thema auf

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gegenwartsliteratur zu analysieren und neue Tendenzen aufzudecken, fällt aufgrund der fehlenden zeitlichen Distanz zu den behandelten Themen oft schwer. Doch nicht den beiden Autoren Leonhard Herrmann und Silke Horstkotte. Denn mit ihrer aktuellen und kompakten Monografie Gegenwartsliteratur. Eine Einführung liefern sie den neuen Klassiker zum Thema.

Als die untere Zeitmarke für die Gegenwart wurden die Ereignisse der Jahre 1989/90 festgelegt, die neue Rahmenbedingungen, Gegenstände und Funktionsweisen von Literatur hervorbrachten. Dies bedeute jedoch nicht, dass die Literatur seit 1990 keine Gemeinsamkeiten mit derjenigen der 1970er oder 1980er Jahre aufweise, denn es seien viele Verbindungslinien erkennbar. Dennoch rechtfertigen die fundamentalen Veränderungen, die sich seit den frühen 1990er Jahren politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell und durch neue Entwicklungen in den Medien ergaben, von einem neuen literaturgeschichtlichen Abschnitt zu sprechen. Textkorpus sind literarische Werke aller drei Gattungen, die in der Gegenwart öffentlich diskutiert und so zum Bestandteil literarischer Kommunikation wurden. Ein weiteres Auswahlkriterium liegt im diskursgeschichtlichen Ansatz mit dem Ziel, die Interaktionsweisen zwischen den literarischen Texten und den seit 1989/90 in der deutschsprachigen Öffentlichkeit geführten Diskursen aufzuzeigen. Ausgenommen aus der Analyse wurden reine Unterhaltungs-, Kinder- und Jugendliteratur sowie sämtliche nicht fiktionalen Darstellungen, darunter auch Bio- und Autobiografien. Das Buch ist in zwölf Großkapitel unterteilt und diese wiederum in kurze und prägnant formulierte Absätze, die jeweils mit einer Überschrift versehen sind. Jedes Kapitel rundet eine kommentierte Literaturempfehlung für weitere Studien ab.

Nach einer allgemeinen Einführung werden zunächst einige große Literaturdebatten der untersuchten Zeitperiode vorgestellt. Hier gehen die Autoren u.a. auf den Streit um Christa Wolf und ihre Rolle in der DDR und während der Wende ein, thematisieren den kulturkritischen Essay Anschwellender Bocksgesang (1993) von Botho Strauß, in dem er eine geistige Leere im vereinigten Deutschland beklagt, und erinnern vor dem Hintergrund der verschwiegenen SS-Vergangenheit an die politisch engagierte Literatur von Günter Grass. Diese und weitere öffentliche Auseinandersetzungen führten, so die Autoren, zur Entwicklung einer neuen Literatur, die zwar alte Fragen – u.a. nach der Autonomie, der Selbstreflexivität oder dem Wirklichkeitsgehalt literarischer Texte und deren erkenntnistheoretischen und historischen Potentialen – aufgreift, doch nun zu anderen, zunehmend komplexeren Antworten führt.

Anschließend folgen thematisch aufgebaute Kapitel zur literarischen Auseinandersetzung mit der Wende und der DDR-Literatur, zur Wiederkehr des (neuen) Erzählens im Poproman, zum „Fräuleinwunder“, zum Verhältnis von Geschichte und Erinnerung sowie zur literarischen Verarbeitung des Kriegs und der Gewalt. Im Kapitel „Nach dem Menschen“ erläutern die Autoren, wie die bisherige Sichtweise auf den Menschen als sprachlich und diskursiv konstruiertes Individuum im Zeitalter der Biowissenschaften zunehmend einem Interesse für den Menschen als biologisches Wesen weiche. Das Posthumane geht mit der neuen Epoche der Menschheitsgeschichte einher, dem Anthropozän, in dem der Mensch die Macht erlangt, den ganzen Planeten zu beeinflussen wie zu zerstören. Im Kapitel „Globalisierung“ führen Herrmann und Horstkotte vor, dass diese nicht nur Romane hervorbringt, die sich mit Reiseerfahrungen oder Migration befassen, sondern auch eine neue (Welt-)Literatur entstehen lässt, die durch Einflüsse aus anderen nationalen Literaturen geprägt wird, was, so die Autoren, eine die Grenzen nationaler Philologien überschreitende Literaturwissenschaft verlange. Zudem komme der Literatur eine besondere Rolle als Instanz der (kritischen) Betrachtung der unmittelbaren Gegenwart zu, die jedoch das Nachdenken über mögliche Alternativen nicht ausklammert, was sich in zahlreich erscheinenden utopischen wie dystopischen oder sogar (post-)apokalyptischen Schilderungen äußert. Des Weiteren wird auf das moderne Theater, deren Akteure sich oft explizit als Mitwirkende am öffentlichen Diskurs verstehen, und auf die Lyrik eingegangen, die in der Gegenwart eine neue Relevanz erlangt zu haben scheint. Der Band schließt mit einem Blick auf den sich heutzutage schnell verändernden Literaturbetrieb und seine Institutionen.

Die konsequente Einbeziehung der Rezeption der besprochenen literarischen Werke durch die Literaturkritik erlaubt, auf die vorherrschenden Diskurse zu schließen. Gleichzeitig ist jedoch zu beachten, dass die Literatur selbst ein Teil dieser Diskurse ist und sie gleichermaßen einbezieht wie mitgestaltet, was eine gewisse Problematik des diskursanalytischen Ansatzes in Bezug auf die neueste Gegenwartsliteratur darstellt. Dennoch gelingt es den Autoren durch die Analyse der Verschiebungen in den Darstellungsmodi alter Themen, die neuen Sichtweisen der Gegenwart einzufangen und in einem breiten Kontext sichtbar zu machen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass mit dieser Monografie ein umfangreiches Werk zu den Entwicklungen und Tendenzen der Gegenwartsliteratur vorliegt, das sowohl Studierenden als auch Lehrenden mit Nachdruck empfohlen wird. Zudem eignet sich dieses Werk als eine hervorragende Ausgangsbasis für weitere wissenschaftliche Arbeiten zur Gegenwartsliteratur.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Leonhard Herrmann / Silke Horstkotte (Hg.): Gegenwartsliteratur. Eine Einführung.
Lehrbuch Germanistik.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
230 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476025784

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