Zäsur und Zivilisationsbruch

Deutungen und Diagnosen unserer Welt seit dem 7. Oktober

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat sich da ereignet, an diesem 7. Oktober vergangenen Jahres in Israel? Welche Worte und Begriffe eignen sich, um das, was geschah, nicht nur faktisch aufzuzählen, sondern in seiner ganzen Komplexität zu begreifen? Und welche erzieherischen, politischen oder sonstigen Konsequenzen müssen aus der Erkenntnis gezogen werden, dass seit dem 7. Oktober auch in Deutschland keine Woche ohne ein antisemitisches Ereignis vergeht? Das Unbegreifliche durch immer neue Anläufe, auch wenn sie nicht treffgenau sind, nur umkreisen zu können, unternehmen mehrere Bücher, die bereits Ende 2023 und Anfang 2024 auf den Markt kamen. Sie alle erheben den Anspruch, den 7. Oktober begreiflicher zu machen, doch einlösen können ihn nicht alle.

In seinem Essay Judenhass 7. Oktober 2023 unternimmt der bekannte Politiker, Rechtsanwalt und Journalist Michel Friedman den Versuch, dem Wesen der Geschehnisse an jenem Tag nachzuspüren. Friedman ist ein sehr persönlicher, trauriger und streckenweise desillusionierender Text gelungen: „Mein Herz blutet, und meine Seele schmerzt. Ich bin traurig. Verzweifelt“ (39). Er ordnet den 7. Oktober als einen Scheidepunkt auch für Deutschland ein, da es an dem Tag nicht nur um Judenhass, sondern auch um die Demokratie und Freiheit ging. Dennoch verengt Friedman mehrfach in seinem Text die Perspektive auf die der jüdischen Gemeinschaft und stellt in ihrem Namen die Gretchenfrage: „Haben wir hier eine Zukunft?“ (26). Denn angesichts des grassierenden Antisemitismus auf den Straßen, den Plätzen und auch den Universitäten der Republik müssten Juden ihr Jüdischsein verstecken und es sei besser, keine Kippa oder Davidstern zu zeigen. Friedman benennt in seinem Text problematische Entwicklungen, doch denkt er die Probleme allenfalls in die falsche Richtung. Denn ist es tatsächlich der „gutbürgerliche Antisemitismus“ oder die „rechte Szene“ (70), von welchen den Juden in Deutschland heute die größten Gefahren drohen? Ist es wirklich mit solchen Plattitüden getan, wie in diesem Buch, wenn Friedman mehr Demokratievermittlung (durch Erziehung, Schulen, Lehrerausbildung) fordert? All jene, die auf den Straßen und in den Universitäten ihre antiisraelischen und als Antizionismus maskierten antisemitischen Losungen hinausbrüllen, haben doch zumeist ihre Schuljahre hinter sich! Auch die Forderung, die deutsche Politik solle ihre Zusammenarbeit mit der DITIB beenden und den Einfluss Irans beschneiden, ist richtig. Doch würde sich dadurch im Zeitalter der Internetmedien irgendetwas an den Einstellungen der jeweiligen Bevölkerungsgruppen ändern? Friedmans Essay hinterlässt den Leser mit dem Gefühl, hier sei der „7. Oktober 2023“ nur als Verkaufsslogan auf den Buchdeckel gedruckt worden. Die Ausführungen tangieren den nach dem 7.10. virulent gewordenen muslimischen und woke-progressiven Antisemitismus nur peripher, die Hamas-Taten werden letztlich kaum in ihrer Tragweite erfasst und verstanden. Seine Sätze beeindrucken dafür mit der Authentizität seiner Stimme, seines Leids, des unendlich großen Schmerzes und der Trauer darüber, dass ein weiteres Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte vorbei ist, welches die Spanne 1945-2023 umfasst.

Philipp Peyman Engel ist Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“ und seit einiger Zeit aufgrund seiner mutigen, Klartext sprechenden Artikel ein zunehmend gern gesehener Gast in Talkshows und auf öffentlichen Podien. Er tritt dabei stets formvollendet korrekt, höflich und zurückhaltend im Stil, jedoch geradlinig und bestimmt in der Sache auf. In seinem Buch Deutsche Lebenslügen unterzieht er die deutschen Debatten über Israel sowie die neuesten Entwicklungen seit dem 7. Oktober einer minutiösen Beschreibung und Analyse. Von „Lebenslügen“ spricht er, weil er die unzähligen Male wiederholten Ausdrücke „Erinnerungskultur“ oder das berühmt-berüchtigte „Nie wieder“ als hohl, als einen Damm ohne Fundament empfindet. Spätestens seit dem 7. Oktober sei der Damm gebrochen, weshalb die Juden Deutschlands in seiner Wahrnehmung auf gepackten Koffern sitzen, um das Land rechtzeitig verlassen zu können. Denn es sei eben „eine Lebenslüge, dass dieses Land […] dem Antisemitismus abgeschworen“ habe (11). Schließlich gebe es einen „Kontrollverlust des Staates, die Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols“ (9) und damit einhergehend ein „Tabu, den enthemmten Hass auf Juden unter muslimischen Migranten“ anzusprechen (11).

Im Gegensatz zu Friedman erblickt Peyman Engel also nicht in einem bürgerlichen Antisemitismus und auch nicht in erster Linie im Judenhass der Neonazis die Quelle jener Gefahr, die jüdisches Leben in Deutschland verunmöglicht. Es sei vielmehr eine „unheilige Allianz: die postkoloniale Linke verschwistert sich mit antisemitischen muslimischen Migranten“ (40). Freilich könne dies nur geschehen, weil die wichtigsten Repräsentanten des Staates unwillig seien, hier einzugreifen. Der Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“ geht hart mit der Kulturstaatsministerin Claudia Roth ins Gericht und spricht mehrfach außerordentlich negativ über den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, auch wenn er dessen Haltung auf einem Israelbesuch nach dem 7. Oktober lobt. Doch gelangt im Laufe seiner Gedanken auch Peyman Engel zur Frage aller Fragen, ob Juden in Deutschland und Europa angesichts der seit dem 7. Oktober deutlich gewordenen Entwicklungen eine Zukunft haben. Der Verfasser ist pessimistisch und äußert angesichts der Radikalisierung vieler muslimischer Jugendlicher durchs Internet, des auch hierzulande registrierten Judenhasses des türkischen Präsidenten Erdogan und der ausbleibenden Solidarität der muslimischen Mehrheit mit den Opfern antisemitischer Gewalt seine Skepsis. Wenn nichts geschieht, seien in Deutschland Verhältnisse wie in Frankreich zu erwarten, wo durch radikale Islamisten bereits viele Juden getötet worden seien.Er warnt zugleich vor einer Radikalisierungsspirale, denn eine Zunahme des radikalen Islamismus würde die AfD stärken, worauf die radikalen Muslime mit weiterer Radikalisierung antworten dürften. Dann bliebe der jüdischen Gemeinde nur noch die Auswanderung oder ein Rückzug in die Unsichtbarkeit übrig.

Geht es den beiden Autoren Friedman und Peyman Engel um die politische Bedeutung des 7. Oktober, so ringen die Autoren zweier Sammelbände stärker um die geistig-philosophische Deutung des Massakers. Der von Tania Martini und Klaus Bittermann herausgegebene Sammelband vereint 25 zumeist hervorragende und bereits vorher erschienene Essays „über das genozidale Massaker und seine Folgen“. Im Vorwort der beiden Herausgeber wird um die adäquate Begrifflichkeit gerungen. Martini und Bittermann greifen auf die frühen Versuche zurück, den Holocaust angesichts des unfassbaren Planvollen, Systematischen und Totalen des Massenmordes in Worte zu fassen. Auch beim 7. Oktober handele es sich um eine „existenzielle Erschütterung“ für Jüdinnen und Juden in aller Welt. Das Massaker habe jenen „Gesellschaftsvertrag“ zerrissen, wonach der jüdische Staat auf seinem Gebiet für den Schutz aller Bürger sorge. Es habe sich angesichts des Umfangs und der Grausamkeit der Taten am 7. Oktober um ein genozidales Massaker gehandelt, dessen Ziel in erster Linie in der Einschüchterung der Juden bestand, die erkennen sollten, sie seien unterschiedslos ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer politischen Einstellung und sonstigen Identität nirgends sicher. Ähnlich wie die Herausgeber betont auch Doron Rabinovici, man habe eigentlich „keinen [rechten] Begriff davon [und] keinen dafür“, was sich am 7. 10.2023 an unzähligen Orten Israels abspielte. Für Rabinovici war diese „Untat“ ein Pogrom und es ging um die „Vernichtung Israels als Symbol des Westens“, des westlichen Lebensstils, westlicher Demokratie und Toleranz.

Während Rabinovici mit Blick auf westeuropäische Debatten unterstreicht, dass jeder Kontextualisierung der „Geruch der Relativierung“ anhafte, pointiert die Herausgeberin Martini in ihrem Beitrag in seltener, dafür umso bewundernswerter Luzidität: „Terror ist Terror. Terror ist nicht Widerstand, nicht Dekolonisation, nicht Befreiung. Jede Relativierung der Hamas ist antisemitisch“ (27). Faschismus ist Antisemitismus und lässt sich nicht kontextualisieren. Auch für die Soziologin Eva Illouz ist die vor allem von den Linken betriebene Relativierung eine Enttäuschung und das Narrativ Israels als eines kolonialistischen Staates eine unzulässige Simplifizierung komplexer Realitäten. Nele Pollatscheks Kritik an der Linken hebt darauf ab, dass wenn es dieser tatsächlich um universale Werte und Menschenrechte ginge, dann würde sie sich hinter Israel stellen und sich für den Schutz von Juden einsetzen. Mehr als lesenswert ist der Beitrag von Deborah Hartmann und Tobias Erbbrecht-Hartmann, weil sie sich in seltener Intensität der Deutung des Massakers widmen. Für sie stellte es deshalb eine Zäsur dar, da die Brutalität und die Höhe der Opferzahlen sowie auch die Intentionalität (so viele Menschen wie möglich, zu töten) im Vergleich mit früheren Attentaten neu waren. Die Autoren gehen davon aus, dass die Gräueltaten (und ihre mediale Verbreitung) die Juden ganz bewusst an den Holocaust und die Möglichkeit von dessen Wiederholung erinnern sollten. Sie zielten zudem auf „den Kern des menschlichen Grundvertrauens, sich in der Welt sicher zu fühlen“, so dass für viele Menschen vor Ort nun das Gefühl vorherrschend sei, dass es unmöglich ist, mit dem Leben einfach weiterzumachen.

Die international renommierte Politologin Seyla Benhabib, selbst palästinensischer Herkunft, stellt in ihrem Text Überlegungen dazu an, was das Massaker für die Palästinenser bedeute. Die Angriffe seien nämlich auch für deren Geschichte ein Wendepunkt und sie müssten sich daher „von der Geißel der Hamas befreien“ (75). Benhabib nennt das Massaker auch in aller Deutlichkeit „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und spricht in dem Kontext von einer „islamistischen Dschihad-Ideologie“. „Wir können nicht den Nihilismus und Zynismus der Hamas vernachlässigen“ – schließt sie ihre Ausführungen, die sie bei ihrem Ersterscheinen gegen die Stellungnahme mehrerer Philosophinnen wie Judith Butler oder Nancy Fraser richtete. Ebenfalls dem linken Antisemitismus, seiner Genese und unterschiedlichen Erscheinungsformen sowie dem Bündnis linker Aktivistinnen und Aktivisten mit dem Islamo-Faschismus widmen sich mehrere weitere Beiträge (u.a. von Armin Nassehi, Wolfgang Kraushaar, Ulrich Gutmair). Im Fokus dieser Beiträge steht also weniger das Massaker selbst als vielmehr jenes gesellschaftspolitische Umfeld, das mittlerweile dazu geführt hat, dass in vielen Medien die Relativierung und Verharmlosung der Hamas-Verbrechen überhandgenommen hat. Andere Autoren wie Meron Mendel, Christoph Koopmann und Sina-Maria Schweikle analysieren eher die politischen Debatten oder moderne Medien (TikTok) und verweisen darauf, wie viel Arbeitsbedarf noch besteht, um etwa das deutsch-israelische Versöhnungsprojekt voranzutreiben oder der Dominanz antisemitischer Propaganda etwas entgegenzusetzen. Im Abschlussbeitrag des Bandes unternimmt der Historiker Philipp Lenhard in einem überzeugenden Beitrag erneut den Versuch, Worte für das Unfassbare zu finden. Hierzu denkt er zum einen über Begriffe nach (Pogrom, Massaker, Blutbad), untersucht zum anderen Vergleichsmöglichkeiten wie Parallelen zu 9/11 (was er verwirft). Allenfalls einen Vergleich der SS mit der Hamas erachtet Lenhard als sinnvoll, doch verweist er auch auf intellektuelle Stichwortgeber heutiger Debatten und benennt den australischen Historiker Dirk Moses als einen jener fragwürdigen Intellektuellen, die versuchen „Israelfeindschaft als ehrbare Meinung zu etablieren“ (214). Somit endet der hellsichtige, Klartext redende Sammelband, dessen Essays ausnahmslos hochgradig lesenswert sind, mit einem weiteren empfehlenswerten Beitrag. 

„Siebter Oktober Dreiundzwanzig – Antizionismus und Identitätspolitik“, der von Vojin Saša Vukadinović herausgegebene Sammelband, vereint nach der Einleitung des Herausgebers 28 kürzere und längere Texte, die teils bereits vorher erschienen sind. Sie sind fünf Blöcken zugeordnet: „Erste Reaktionen“, „Politik und politischer Handlungsbedarf“, „Identitätspolitik in Aktion“, „Geschlechterpolitik und Queeraktivismus nach dem 7. Oktober“ und „Das Elend des Antirassismus“. Bereits der Auftakt des Bandes setzt Maßstäbe: „Wir leben in einer Zeit der Schande“ hält Güner Balci, Integrationsbeauftrage in Berlin-Neukölln, in ihrem Vorwort fest. Sie geißelt darin die Kurzsichtigkeit, die Einseitigkeit und den verbreiteten Judenhass vieler Linker, Queerer und Hipster, die auf Demonstrationen, in Universitäten und auf den Straßen immer vorneweg dabei seien, Parolen gegen Israel zu rufen. Ihre antiisraelische Verblendung sei jedoch Antisemitismus und sie merkten nicht einmal, dass in jenen von der Hamas dominierten Gebieten, für deren Schutz sie glauben, einzutreten, sie mit ihrer Lebensweise keinen Tag überleben würden.

In seiner Einleitung geht auch der Herausgeber Saša Vukadinović auf die antisemitischen Debatten, Stellungnahmen und Beiträge in der akademischen Welt in Deutschland und den USA ein und begleitet sie mit einer Kritik am Schweigen von Vertretern der Queer Theory. Aus den einzelnen Blöcken des Bandes sei hier auf den ersten besonders hingewiesen. Am Anfang erwarten den Leser etwa Berichte von Arye Sharuz Shalicar über Orte des Massakers oder Tamar Aphek über das Wüten der Hamas auf dem Nova-Festival. Roni Malkai beklagt in schmerzerfüllten Worten die ausbleibende Solidarität der Black Lives Matter-Bewegung mit den Opfern des Massakers, während Armin Navabi sich einmal mehr darüber wundert, wie innerhalb der LGBTIQ-Bewegung die Unterstützer der „Queers for Palestine“-Parole nicht erkennen, wie falsch sie mit ihrer Unterstützung Palästinas liegen würden: Hinsichtlich der Akzeptanz von LGBT-Belangen belege Israel in einer Studie aus dem Jahr 2021 den 44. Platz unter 175 Ländern und Gebieten, Palästina hingegen Platz 130. Im zweiten Block des Bandes beklagt Aras-Nathan Keul den westlichen Kulturrelativismus als ein „großes Friedenshindernis“ und die fatale Rolle der von Deutschland im Jahr 2022 mit über 200 Millionen Euro alimentierten UNRWA. Er schlägt als Maßnahmen gegen den Antisemitismus Konsequenzen wie Verschärfung des Strafrechts, die stärkere Fokussierung auf die gegenwärtigen Formen des Antisemitismus in den Schulen und die Kontrolle staatlicher Mittel, damit sie nicht an antisemitische Akteure und Institutionen vergeben werden. Einen besonderen und wichtigen gesellschaftlichen Akteur, die Gewerkschaften, nimmt Cem Erkisi unter die Lupe. Er kritisiert den „Geist des Postkolonialismus“, den er bei der GEW und der VERDI ausmacht sowie deren linksradikalen Nachwuchs. Ruşen Timur Aksak wundert sich ob des Desinteresses der Politik am Phänomen des Islamismus, nennt diesen eine Ideologie des Todes und Feind der Freiheit und steht verständnislos vor der Kurzsichtigkeit europäischer Politiker.

Identitäten, Identitätspolitik und -zuschreibungen stehen im Zentrum des dritten thematischen Abschnittes. Kirilly Grebenyiuks Aufsatz ist spannend, da er aufzeigt, welche Rolle der Druck der palästinensischen Community, der überlieferten und unhinterfragten Geschichtsbilder und Opferrollen selbst in den Äußerungen von selbstkritischen Mitgliedern der Community wie dem Comedian Abdul Kader Chahin spielen. Opfernarrative, verzerrte Israelbilder und Israelhass weist Grebenyiuk aber auch bei der Journalistin Khola Maryam Hübsch oder dem Influencer Tarek Baé bzw. der islamistischen Gruppe „Muslim Interaktiv“ nach, so wenn er Baé eine Israel-Obsession unterstellt und meint, er präsentiere das Land in seinen Beiträgen ausschließlich als Unterdrücker der Palästinenser. Die Selbstviktimisierung der Gruppe „Muslim Interaktiv“ diene schließlich dazu, ein Feindbild zu erschaffen und die Muslime von jeglicher Verantwortung zu entbinden.(Letztere Gruppe trat nach Erscheinen des Buchs mit zwei Demonstrationen in Hamburg in Erscheinung, auf welchen die Errichtung eines Kalifats gefordert wurde.) Ahmad A. Omeirate widmet sich aktuellen Formen des postmodernen Antisemitismus anhand von Greta Thunberg und der Klimabewegung sowie der politischen und universitären Linken. Über die „totale Flachheit eines Denkens, das gar nicht mehr denken will“, nämlich des „progressiven“ Teils der akademischen und nichtakademischen Welt, macht sich Miro Verdel Gedanken. Er führte diese Flachheit gleichermaßen auf die Weigerung, im Sinne Kants selbst zu denken, zurück, wie auch auf die Logik der „sozialen Medien“, die Erregtheit, Zuspitzungen und provokative Thesen anstelle dialektischer Analysen bevorzugten. Žarko Janković‘ Ausführungen kritisieren ebenfalls die „antiwestliche Linke“, während sich Emrah Erken in seinem Aufsatz mit Jean Ziegler als Ideologen beschäftigt.

Aus dem vorletzten Abschnitt seien die letzten drei Texte hervorgehoben. Veronica Szimpa sinniert über den „fortlaufenden[n] gendertheoretische[n] und queerfeministische[n] Verrat an jüdischen Frauen“. Szimpla verweist namentlich auf Judith Butler und Tarana Burke, doch geht sie auch mit der deutschen Journalistin Stefanie Lohaus ins Gericht, der sie Lippenbekenntnisse unterstellt, wenn es um Antisemitismus und ums Leid der am 7. Oktober vergewaltigten, gefolterten und gequälten Frauen geht. Mit Judith Butlers Denken und Antizionismus setzt sich der längste und theoretisch anspruchsvollste Aufsatz des Bandes auseinander, den Chantalle El Helou zeichnet. Sie analysiert mehrere Schriften der Ikone der Gender Theories, um zu zeigen, dass deren Hamas-Verharmlosung, Israel-Dämonisierung und Antizionismus keine Neuerscheinung, vielmehr genuin in ihrem Gesamtwerk angelegt sind. Bereits aus ihrem Erstling Gender Troubles lässt sich eine Verwirrung bestimmter Begrifflichkeiten wie „Identität“ oder „Souveränität“ ableiten. Daher verwundere es nicht, wenn sich Butler jüdisches Leben nur als Diasporadasein vorstellen könne, aber nicht als eine wehrhafte jüdische Mehrheitsgesellschaft in einem israelischen Staat. Von den Israelis erwarte sie daher letztlich die Hinnahme der (palästinensischen) Gewalt und den Verzicht auf die Selbstverteidigung. Im letzten, ebenfalls sehr empfehlenswerten Beitrag dieses Blocks zeichnet Niels Betori Diehl ein sehr vielfältiges und spannendes Bild der deutschen und internationalen Kunstszene mit der Berliner „Universität der Künste“ im Mittelpunkt. Ihm geht es darum, anhand einschlägiger Diskurse, Wertorientierungen und Kunstrichtungen jene Debatten nachzuzeichnen, die vor allem in der Kunst- und Kulturszene zur Dominanz antiisraelischer, antiwestlicher Haltungen und einer undifferenzierten Voreingenommenheit zugunsten der Palästinenser und darüber hinaus des „Globalen Südens“ geführt haben.

„Wie die Linke uns tatsächlich progressive Migranten verraten hat“ – der Titel des Beitrags von Marco Antonio Cristalli könnte pars pro toto für den letzten Block mit der Überschrift „Das Elend des Antirassismus“ stehen. Darin werden unterschiedliche migrantische Erfahrungen mit linken Milieus im Kampf gegen Islamismus und Antisemitismus bzw. für universale Werte und Rechte beschrieben. So schildert Peshraw Mohammed aus seiner Perspektive als kurdischer Flüchtling seine Erfahrungen mit Linken und Arash Guitoo wundert sich als liberaler homosexueller Iraner über seine Begegnungen mit dem akademischen Antizionismus und Kulturrelativismus. Ali Ertan Toprak plädiert in einem der besten Beiträge des Bandes für den Einsatz gegen eine falsch verstandene Toleranz linksidentitärer Kreise, die jede Forderung von „Nationalislamisten“ zu erfüllen vorhaben, migrantische Kritik an solchen hingegen ablehnen. Die Konsequenz dieser Realität spricht im letzten Beitrag der erwähnte Marco Cristalli aus: „Die bittere Wahrheit ist, dass wir linken, tatsächlich progressiven und antifaschistischen Migranten nun endlich einsehen müssen, dass wir politisch völlig heimatlos sind“.

Vier Bücher – unzählige Prismen, Deutungen und Sichtweisen auf den 7. Oktober. Unübertroffen in der Analyseschärfe, im Klartext und der Stringenz sind die beiden Sammelbände von Martini-Bittermann und Vukadinović, die zur Pflichtlektüre des akademischen Nachwuchses, von Journalisten und vielen Berliner Politikern gemacht werden sollten. Trotz der Bitterkeit und Entmutigung, die von den hellsichtigen Lagebeschreibungen und Analysen mitunter ausgehen, führt kein Weg an ihrer Verbreitung vorbei, will man das Feld gesellschaftspolitischer Debatten nicht vollends den Kräften überlassen, die unter dem Deckmantel einer antizionistischen „Israelkritik“ lediglich den alten Antisemitismus in neuer Form propagieren. Daher die Bitte, die Aufforderung und der Wunsch, die Sammelbände mögen gelesen und ihre aufklärerischen, universalistischen und humanistischen Botschaften mögen verbreitet werden.

Titelbild

Michel Friedman: Judenhass. 7. Oktober 2023.
Piper Verlag, München 2024.
112 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783827015150

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helmut Kuhn / Philipp Peyman Engel: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch.
dtv Verlag, München 2024.
192 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423284141

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Klaus Bittermann (Hg.) / Tania Martini: Nach dem 7. Oktober. Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen.
edition TIAMAT, Berlin 2024.
231 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783893203161

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Vojin Saša Vukadinovic: Siebter Oktober Dreiundzwanzig. Antizionismus und Identitätspolitik.
Querverlag, Berlin 2024.
456 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783896563446

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch