Gedankenspiele im Dämmerlicht

In „Abendspaziergang mit dem Kater“ hat Thomas Hürlimann Verstreutes aus vier Jahrzehnten seines Schriftstellerlebens versammelt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit nunmehr vier Jahrzehnten stellt der 1950 in Zug geborene Thomas Hürlimann eine feste Größe in der Deutschschweizer Literatur dar. Novellen und Romane, Theaterstücke und Philosophisches, Kritiken und Essays – das Spektrum seiner Veröffentlichungen ist breit. Zuletzt hat er mit dem Roman Heimkehr (2018) noch einmal alle sein Werk prägenden und zugleich einen Großteil der Themen angeschlagen, die die Deutschschweizer Literatur der letzten Jahrzehnte dominieren. Und auch in diesem, Hürlimanns bis dato umfangreichstem Werk, dem ersten nach seiner schweren Krebserkrankung, ist es ein Kater, der die Hauptfigur am Ende hinaus aus ihrem alten und hinein in ein neues Leben chauffiert.

Kein Wunder also, dass der Autor sich als Begleiter für den in seinem neuen Buch stattfindenden Spaziergang durch 24 kurze Prosastücke aus vierzig Jahren eben einen zugelaufenen Kater ausgesucht hat, sein heimliches Wappentier. Zwischen zwei und 26 Seiten umfassen die Texte und man begegnet kleinen Erzählungen und Anekdoten genauso wie Einblicken in Leben und Werk des Autors, streitbaren Auseinandersetzungen neben Elogen auf Vorbilder wie Gottfried Keller, Betrachtungen über die Schweiz und ihre Literatur, aber auch über Krankheit und Tod.

Die unter sieben generalisierenden Stichpunkten –  „Wege“, „Gottfried Keller“, „Schweiz“, „Krankheit“, „Höheres“, „Herkunft“ und „Der Berg“ – versammelten Texte zeigen Hürlimann als genauen Beobachter, früh zum Schreiben drängenden –  einen Stundenaufsatz über eine Baumgruppe schreibt der 14-jährige Eleve der Klosterschule Einsiedeln so gekonnt, dass ihm der ehrwürdige Subpräfekt der Einrichtung des Abschreibens bezichtigt und ihn mit einem Lineal auf die Handflächen „zum Dichter schlägt“ – und so philosophisch gebildeten wie fantasievollen Erzähler.   

Dem „große[n] Kollege[n] Keller“ huldigt neben zwei kürzeren Texten – einer herrlich komischen Anekdote und einem Einblick in die Welt des „doppelte[n] Gottfried“ – die aus Anlass von Kellers 100. Todestag 1990 entstandene Novelle Dämmerschoppen. Hürlimann hat sie seit damals an verschiedenen Orten in jeweils leicht voneinander abweichenden Textfassungen publiziert. Ursprünglich bildete sie das Mittelstück seiner Innerschweizer Trilogie (1991). Für den erneuten Abdruck hat der Autor jene Fassung gewählt, die erstmalig in dem Bändchen Das Holztheater (1997) zu lesen war und in der – damit geschickt auf die strukturelle Verwandtschaft von Novelle und klassischem Drama anspielend – statt der Kapitelnummern eine Gliederung des Prosatextes in fünf Akte zu finden ist.

Dämmerschoppen führt nicht nur so leichthändig wie meisterlich in die Gefühls- und Gedankenwelt des späten Keller ein. Die kleine Novelle arbeitet sich auch an dem Widerspruch von Tradition und Moderne ab, indem sie einen Dichter kurz vor dem Eintritt in sein letztes Lebensjahr präsentiert, der, oberhalb des Vierwaldstätter Sees und der der Gründungserzählung der alten Eidgenosssenschaft ihren mythischen Raum verleihenden Rütli-Wiese auf einer Hotelterrasse sitzend, von den Erscheinungen einer Gegenwart bedrängt wird, die Herkommen und Vergangenheit nur noch als vermarktbare Folklore wahrzunehmen in der Lage ist.

Im Dreiklang von „Land, Religion und Familie“ aufgewachsen, ist auch Thomas Hürlimann einer, dessen Naturell eher zum Bewahren des Überkommenen neigt. Man stößt in den vorliegenden Texten an vielen Stellen auf sein eher und durchaus im positiven Sinne konservatives Weltbild. Wenn er über seinen aktuellen Wohnort in einem alten Fährhaus in Walchwil am Zugersee schreibt, zählt er zu seinem Besitz vor allem „den Lehnsessel des Vaters, die Kommode der Mutter, ein Stehpult und volle Bücherregale“, alles Dinge also, die mit Vergangenheit und Herkommen aufgeladen sind, nichts Überflüssig-Modernes, das ebenfalls da sein mag, aber einer Erwähnung nicht wert scheint.

Erstmals in Abendspaziergang mit dem Kater findet man auch den berührenden Nachruf Thomas Hürlimanns auf seinen im Alter von 20 Jahren am 7. Februar 1980 an Knochenkrebs gestorbenen Bruder Matthias. Darin beschreibt er den um neun Jahre Jüngeren mit der Unterstützung von Zitaten aus dessen Tagebuch fast als den innerfamiliären Gegenpol zu sich selbst. Dass des Bruders „Absage an jegliche Normen, Formen, Traditionen, Konventionen […] das Bürgerliche, das Gewöhnliche, das Sesshafte, das vorgetäuscht Zufriedene, das Genügsame, das Abgestumpfte […] das Unempfindliche, das man pflegt, um die eigene Situation nicht zu empfinden“, wie es als Credo in den Aufzeichnungen des bewusst auf seinen Tod Zulebenden formuliert wurde, ihn immer wieder in Konflikte mit dem Vater brachte, ist dabei das eine. Andererseits sieht sich der ältere der beiden Brüder in vielerlei Hinsicht als eine Art literarischer Testamentsvollstrecker, in dessen Werk von Anfang an Leben und Sterben des Bruders präsent geblieben sind.   

Wie wichtig Hürlimann die Familie war und ist, geht auch aus den beiden Texten hervor, in denen er sich auf Spurensuche in die Welt seiner Großeltern begibt und in einer Art bebildertem Familienalbum vom eigenen Aufwachsen und dem Schicksal seiner Eltern und Geschwister erzählt. Im galizischen Przemysl findet der Enkel zwar die Straße nicht, in der seine Großmutter mütterlicherseits aufwuchs, dafür verwandelt jeder Schritt, den er hier tut, die Wirklichkeit in Literatur – oder umgekehrt. Der brave Soldat Schwejk des tschechischen Dichters Jaroslav Hašek begegnet ihm gleich in mehreren Exemplaren, Straßen und Plätze erinnern mal an Texte von Georg Trakl, mal an Joseph Roth oder Karl Emil Franzos und auf einem der Friedhöfe Przemysls findet sich gar ein Grabstein mit dem Namen, den Hürlimann in der Novelle Fräulein Stark (2001) seinen Vorfahren gegeben hat: „Katz“.

Womit wir wieder bei dem Begleiter des Dichters auf dem Weg durch seine Texte wären, dem Kater. Er hat in Hürlimanns Sammlung die Aufgabe erhalten, die Lücken zwischen den einzelnen Buchteilen zu füllen. Allein er ist kein Lückenbüßer, sondern gehört dazu – von seinem ersten Auftauchen, über das man bereits in der kleinen Geschichtensammlung Die Satellitenstadt aus dem Jahr 1992 lesen konnte – „Er kam eine Stunde vor der Dämmerung, strich um meine Beine, miaute und maunzte, und blieb ich sitzen, um einen angefangenen Satz zu beenden, schnellte er lautlos aufs Pult, langte mit der Vorderpfote nach dem Bleistift oder fläzte sich flach aufs Papier […]“ – bis zu jenem abschließenden fantastischen Erzählteil, in dem Kater und Dichter zu einem Lebewesen verschmelzen.

Zwischendurch erfahren die LeserInnen einiges über Wesen und Charakter des „schmusige[n] Raubtier[s]“ und von Hürlimanns Überzeugung, dass es wie kein anderes dazu „prädestiniert [ist], Literatur zu werden“. Nur um die Spitäler – in einem der längsten Texte des Bandes, Meine Reise ins eigene Innere, hat Hürlimann seinen jüngsten Leidensweg von Spital zu Universitätsklinik, von Notaufnahme zu Unfallkrankenhaus, von Urologie zu Radioonkologie als einen makabren Führer zu den Orten festgehalten, an denen der Mensch die Verfügungsgewalt über sein Leben an Operateure und Maschinen abgeben muss – machen Katzen einen Bogen. Hier ist man ohne seinen pelzigen Begleiter ganz auf sich zurückgeworfen.

Schaut man sich in Thomas Hürlimanns Texten um, so scheint neben den überall präsenten Katzen die Dämmerung eine wichtige Konstante zu sein. Bereits sein melancholisch-altersmüder Gottfried Keller hat sich die Stunde zwischen Tag und Nacht ausgesucht, um seinen Dämmerschoppen zu trinken und über den Verfall von Traditionen nachzusinnen. Zur selben Tageszeit finden nun die Waldspaziergänge mit dem Kater statt: „Die Stämme wurden schwarz, das Licht dazwischen flüssig, gleich würde es einnachten.“ Und eine „Abendglut […], die in allen Farben schimmerte“ überschattet auch die drei Seiten, mit denen das vorliegende Buch endet. Dass es nicht die letzten aus der Feder dieses Autors bleiben mögen, ist zu hoffen. Denn natürlich gilt auch für seine Werke, wenn Thomas Hürlimann, seinen ersten Verleger Egon Ammann zitierend, feststellt: Bücher sind „Lebensmittel – Überlebensmittel, Anleitungen zur Transzendenz.“

Titelbild

Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970401

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