Verschlungene Wege nach draußen

Eine Reise zu den berühmtesten Labyrinthen und Irrgärten der Welt

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der traditionelle Begriff des Labyrinths meint ein unübersichtliches, aber durchaus auch sachdienliches Gebäude. Als dessen Urbild gilt der um 1500 v.Chr. errichtete Königspalast von Knossos auf Kreta. In dessen Ruinen, die 1922 freigelegt wurden, sah man – ohne nachvollziehbare Begründung – die eines Labyrinthes und man verband den Fund mit dem Sagenkreis von Minotaurus, Theseus, Ariadne und Daidalus. Im Archäologischen Nationalmuseum Athen befindet sich ein 1957 ausgegrabenes Tontäfelchen (vor 1200 v. Chr.) aus dem Palast von Pylos mit der Darstellung eines Labyrinths – es ist die älteste genau datierbare Version des klassischen Labyrinths. Das gleiche Motiv findet sich, mal rund, mal eckig, mal als Gravur, mal als begehbares Labyrinth überall auf dem europäischen Kontinent und in Indien, also im ganzen Verbreitungsgebiet der Indoeuropäer.

Von dem „kretischen Labyrinth“, dem noch mittelalterliche christliche Beispiele eines Labyrinths folgen, sind aber jene symmetrischen Anlagen zu unterscheiden, die von einem einzigen, einem strengen Muster folgenden Weg durchzogen werden, der vom Rand zur Mitte und wieder zurück führt. Die überlieferten kultischen Bedeutungen und die Symbolik des Labyrinths als menschlicher Lebensweg, als Irrgang durch die Welt oder als Abstieg in die Unterwelt und wieder zurück ans Licht beziehen sich zumeist auf die letzteren. Ausgehend vom Manierismus finden sich seit dem 16. Jahrhundert einwegige Gartenlabyrinthe und vielwegige Irrgärten, die zur Gestaltung herrschaftlicher Gärten und Parks und zur Unterhaltung von Gästen verwendet wurden. Stein- und Rasenlabyrinthe werden bis in unsere Zeit gepflegt, erneuert und neu angelegt. Der Reiz des Geheimnisvollen und des unbekannten Ursprungs des Labyrinths regt immer wieder zur Meditation und auch zum Überdenken des eigenen Lebensweges an.

„Eine Reise zu den berühmtesten Irrgärten der Welt“ unternehmen die englischen Fachbuch-Autoren Angus Hyland und Kendra Wilson – zu den uranfänglichsten Rätseln unserer Kultur. Was gäbe es hier nicht alles zu bedenken bei dieser Reise durch Raum und Zeit, die Umrisse des Labyrinthischen, seine wichtigsten Gestaltungen, die unterschiedlichen Epochen seiner Geschichte nachzuvollziehen. Aber die Autoren kommen mit nur einer Seite Einführung aus, viel zu wenig für ein kulturhistorisch so anspruchsvolles Thema. Sie geben in alphabetischer Abfolge – kurioserweise folgt so „Altjeßnitz“ (Deutschlands ältester original erhaltener Hecken-Irrgarten aus den 1730er Jahren) auf „Algier“ (das Bodenmosaik  aus dem Jahr 324 n. Chr. in der Kathedrale Sacré-Coeur, das älteste bekannte Kirchen-Labyrinth) – lexikonartige Beiträge zu mehr als 60 realen und imaginären Labyrinthen und Irrgängen aus der ganzen Welt. Thibaud Hérem hat dazu Illustrationen angefertigt, die die Strukturen der Labyrinthe aus der Vogelperspektive zeigen. Man kann also mit dem Finger den Wegen und Irrwegen folgen und so nicht nur optisch, sondern auch haptisch ein Erlebnis nachvollziehen, das zwar nicht den Besuch der originalen Stätten erspart, wie uns die Autoren glauben machen wollen, aber doch zu einem kurzweiligen „Rätselbuch“ einlädt. Denn wie jedes Rätsel ist auch das Labyrinth aus einzelnen Elementen zusammengesetzt, die, jedes für sich, einen richtigen Hinweis auf die Lösung enthalten, zusammen genommen aber in die Irre führen.

Für die antiken Mosaikkünstler spielte das Motiv des Minotaurus eine große Rolle. In der teilweise ausgegrabenen Stadt Conimbriga in Nordportugal finden sich Steinmosaiken mit Stierköpfen im Zentrum des Labyrinths (1–100 n. Chr.), die aber auch schon auf den Stierkult deuten können. In dem frühen Mosaik-„Labyrinth“ (100–200 n. Chr.) der Villa des Theseus im Archäologischen Park Pafos auf Zypern – es wurde 1969 von polnischen Archäologen entdeckt – setzt Theseus sich mit dem Minotauros vor einer Art Grotte auseinander. Eine solche Grotte wurde dann auch zu einem beliebten Element späterer Hecken-Irrgärten. Auch das Theseus-Mosaik im Kunsthistorischen Museum Wien (300–400 n. Chr.) zeigt eine lineare Version des Mythos von Theseus, Ariadne und dem Minotaurus. Eine Mittelmeerinsel – Menorca, vor Spaniens Südostküste gelegen – hat Steinbrüche mit versteckten Gängen, die einen Eindruck von dem antiken Totenreich, dem Kerker des Minotauros vermitteln. Hier ist 1996 ein Irrgarten entstanden, der 2014 neu angelegt wurde.

Eines der schönsten Beispiele klassisch-christlicher Boden-Labyrinthe befindet sich in der Kathedrale Notre-Dame von Chartres (1200–1220): Es hat einen Durchmesser von 12,8 Metern und die zentrale Rosette ist von 11 Kreisen und einem kreuzungsfreien Weg umschlossen. Der fast perfekte Kreis ist in vier Segmente unterteilt. Im Zentrum treffen sich die „Balken“ eines Kreuzes, das für die Stadt Jerusalem steht. Ein Gang durch das Labyrinth galt hier als Ersatz für eine Pilgerreise nach Jerusalem. Das Labyrinth (um 1350) auf den Steinfliesen der Abtei Saint-Bertin ist eine Nachbildung des Vorbilds in Chartres. Dagegen sieht der Fußboden der Basilica di San Vitale in Ravenna (1530er Jahre) wie ein kompliziertes Spielbrett aus, ein Teil wurde als Labyrinth gestaltet, in dem Pfeile aus der Brettmitte auf verschlungenen Pfaden bis in die Mitte der Basilika führen. In den ersten Jahren des Christentums symbolisierte das Labyrinth häufig die Sünde und den Weg zur Läuterung. Daher versinnbildlichte die Suche nach dem Ausweg die geistliche Wiedergeburt.

Ein Gestaltungselement der Gartenkunst sind die Irrgärten. Mit ihrem Netz von Wegen und Abzweigungen, Kreuzungen, Sackgassen und Wegeschleifen verleiten sie absichtlich zum Verirren. Der Irrgarten in der Villa Pisani, in der italienischen Region Veneto, konzipiert 1720 von Gerolamo Frigimelica, ist bekannt durch seine komplizierten Pfade, die als die schwierigsten der Welt gelten. Die hohen Hecken sind in neun konzentrischen Kreisen gepflanzt und verschleiern alles außer dem zentralen Ziel, einem weißen Turm mit zwei kleinen Wendeltreppen nach oben, wo sich die Statue der Weisheitsgöttin Minerva erhebt. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gelangte der Irrgarten-Gedanke auch nach England, wo sich der heute noch existierende berühmte Irrgarten von Hampton Court, des königlichen Palastes an der Themse im Westen von London, befindet. Er wurde als Teil der Gärten für William of Orange zwischen 1689 und 1695 von George London und Henry Wise trapezförmig angelegt und umfasst eine Fläche von 1350 Quadratmetern, mit Pfaden und Hecken, die über 800 Meter lang sind. Durch einen Wirrwarr unzähliger Buchsbaumhecken führen etwa 800 gewundene Wege. Aus mehr als 16 000 Eibenhecken wurde 1975 der spektakuläre Irrgarten von Longleat, Wiltshire von der Designerin Greg Helle angelegt. Er gilt mit einer Länge von 2,75 Kilometern und einer Gesamtfläche 60,7 Hektar als einer der verwirrendsten der Welt. Anders als die meisten konventionellen Hecken-Labyrinthe ist er eigentlich dreidimensional, mit sechs Holzbrücken, die verlockende Blicke in Richtung Zentrum des Labyrinths bieten. Der Borges-Irrgarten aus dem Jahr 2003 auf einem Weingut im argentinischen San Rafael beruht auf Anregungen des Schriftstellers Jorge Luis Borges, eines Mitbegründers des Magischen Realismus, und hat im Grundriss die Form eines aufgeschlagenen Buches – von oben ist Borges’ Name erkennbar. 2011 wurde auf der Insel San Giorgio Maggiore in der Lagune von Venedig eine Nachbildung des Irrgartens in Argentinien geschaffen.

Trojaburgen, Steinsetzungen in schlingenartiger Form, die ein begehbares Wegsystem bilden, finden sich häufig im skandinavischen Raum und in England, in Küstennähe und auf Inseln. Lindbacke in Schweden und Toy Town auf der britischen Scilly-Insel St. Agnes werden angegeben, doch man hätte durchaus auch das Rasenlabyrinth, die Trojaburg von Steigra in Sachsen-Anhalt einbeziehen können. Der größte vertikale Irrgarten der Welt ist der 2012 errichtete 57stöckige Wolkenkratzer Al Rostamani Maze Tower in Dubai, der die Form eines Mäander trägt. Eine runde Video-Leinwand, das „Auge“ des Irrgartens, sendet nachts Bilder in die Ferne. Dieses Bauwerk ist mehr eine Attraktion für das Guiness-Buch der Rekorde als eine architektonische Innovation.

Die Besonderheit der Rätsel dieser Labyrinthe besteht eben darin, dass sie den Betrachter physisch mit einbeziehen, dass sie sich erst im Abschreiten erklären, wie sich ja schon der legendäre Prototyp labyrinthischer Architektur, das Labyrinth des Dädalus, im Abschreiten eines bestimmten Weges erschloss und sein Rätsel löste. Das in einem labyrinthischen Bauwerk verborgene Architekturrätsel, die geheimnisvollen Boden-Labyrinthe in den Kirchen oder die verwirrenden Stein-, Rasen- und Hecken-Anlagen erschließen sich in der Tat erst im Abschreiten und über das Durchwandern seiner Räume.

Titelbild

Angus Hyland / Kendra Wilson (Hg.): Labyrinthe. Eine Reise zu den berühmtesten Irrgärten der Welt.
Illustriert von Thibaud Hérem.
Übersetzt aus dem Englischen von Bettina Eschenhagen.
Laurence King Verlag, Berlin 2018.
144 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783962440510

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