„Ich habe angefangen, von Smartphones zu träumen“

Ein Gespräch mit der französischen Schriftstellerin Marie Darrieussecq über Literatur, Technologie und Entgrenzungen

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Marie Darrieussecq wurde 1969 in Bayonne, im französischen Baskenland, geboren. Nach ihrem Studium der Literaturwissenschaft an der École Normale Supérieure promovierte sie zu Autofiktion und tragischer Ironie. Darrieussecqs erster Roman, Truismes, 1996 (Schweinerei, 1997), wurde ein internationaler Beststeller. Seitdem hat sie zahlreiche weitere Bücher veröffentlicht, zuletzt den autobiographischen Essay Pas dormir (2021) über Schlaflosigkeit.  Für Il faut beaucoup aimer les hommes (Man muss die Männer sehr lieben, 2015) hat sie 2013 den Prix Médicis erhalten. Sie arbeitet außerdem als Literaturübersetzerin und hat Virginia Woolf, James Baldwin und Ovid ins Französische übersetzt. Mit literaturkritik.de hat sie über Literatur, Technologie und Entgrenzungen gesprochen.

 

Franke: Sie haben kürzlich einen Kurs an der University of Arizona zum Thema „The Art of Storytelling“ gegeben. Wo verorten Sie Ihre eigene Kunst des Erzählens?

Darrieussecq: Ich stehe mit meinem Schreiben in mehreren Traditionen, in französischen, frankophonen und sicher auch ein wenig in angelsächsischen. Ich selbst bin eigentlich eine klassische Geschichtenerzählerin, aber versuche, dabei zu tricksen [frz.: ruser]. Ich mag die Idee des Tricksens, der List im Sinne von Odysseus. Lesbare und, wenn möglich, spielerische, unterhaltsame Geschichten anzubieten, aber dabei eine formale Ambition, die Erkundung und Befragung von Sprache, aufrechtzuerhalten. Ich schreibe nicht für eine Elite, ich möchte das Publikum nicht entmutigen, auch wenn einige meiner Bücher relativ schwer zu lesen sind.

Mein Vorbild ist Björk. Jemand, der Geschichten erzählt und gleichzeitig einen extremen formalen Ehrgeiz hat. In der Literatur bewundere ich die erzählerische Kraft von Virginie Despentes. Aber ich fühle mich auch von viel formaleren Experimenten angezogen, wie beispielsweise den poetischen Texten von Olivier Cadiot. Ich denke, ich bewege mich zwischen vielen verschiedenen Formen und Weisen des Geschichtenerzählens.

Sie haben öfters diese Anekdote über Jean-Luc Godard erzählt, der Ihren Debütroman Truismes (Schweinerei) über die Verwandlung einer Frau in eine Sau verfilmen wollte und daran gescheitert ist, weil das Buch „zu gut“ sei …

Seiner Meinung nach!

Wieso ist es so schwierig oder vielleicht sogar unmöglich, Truismes in filmische Sprache zu übersetzen?

Naja, ich hoffe doch, dass das kein Fluch ist, und dass es eines Tages eine Verfilmung geben wird. Wir bekommen sehr oft Angebote. Die meisten Bücher bei meinem Verlag P.O.L sind übrigens sehr schwer zu verfilmen, da es sich um Bücher handelt, bei denen es mehr um die Suche nach einer neuen Sprache als um eine Geschichte geht. Auch wenn ich darauf bestehe, eine Geschichtenerzählerin zu sein – die Geschichte an sich ist nicht so wichtig, sondern es kommt darauf an, wie man sie erzählt. Alles in Truismes ist mit dem Blick dieser Sau auf die Welt und auf ihre eigene Transformation verbunden. Im Buch wird sie sozusagen nicht gezeigt, denn man ist als Leser kontinuierlich im Kopf der Ich-Erzählerin. Die Perspektive „zoomt“ auf bestimmte Stellen ihrer Haut, aber ihren Ringelschwanz kann sie nur im Spiegel sehen. Im Film dagegen ist man beinahe gezwungen, sie zu zeigen. Godard hatte sehr gute Ideen, er wollte Zeichentrick verwenden. Man muss akzeptieren, dass die Geschichte im Film ein wenig von ihrer Ironie verlieren wird. Denn alles im Buch beruht eigentlich auf der Diskrepanz zwischen der Perspektive der extrem naiven Erzählstimme und dem, was man als Leserin wahrnimmt und im Kopf ergänzt.

Wurde das Buch auch deshalb ein solcher Skandal? Wegen dieser Herausforderung der Leserschaft?

Nach der Publikation habe ich unzählige Drohbriefe erhalten, keine Morddrohungen, sondern Vergewaltigungsandrohungen. Das – nennen wir es mal – faschistische Gehirn erträgt offenbar keine Ästhetik, die dem Publikum Verantwortung überträgt. Der ganze Schrecken, zum Beispiel einer Vergewaltigung wie im Fall von Truismes, entfaltet sich durch Formen der künstlerischen Verfremdung in den Köpfen der Leser. Ich denke, das faschistische Gehirn hält es nicht aus, wenn man es durch Abstraktion dazu auffordert, sich geschehenes Unrecht selbst vorzustellen. Es ist gewohnt an Szenarien der Verurteilung, der Ordnung, aber nicht daran, auf die eigene Vorstellungskraft zurückgreifen zu müssen, um Horrorszenarien zu visualisieren. Das sieht man auch gerade wieder im Fall des Angriffs vonseiten des Rassemblement National auf ein Gemälde der Künstlerin Miriam Cahn im Palais de Tokyo in Paris.

Wo Sie gerade von einem Gemälde sprechen – Sie haben mit Etre ici est une splendeur (2016) (Hier sein ist herrlich, 2019) eine literarische Biographie der Malerin Paula Modersohn-Becker veröffentlicht. Auf welche Weise ist Ihr Schreiben von anderen Kunstformen und Medien wie der Malerei beeinflusst?

Ich fühle mich sicher, wenn ich über Malerei schreibe, da ich schon sehr viel über bildende Kunst geschrieben habe. Wenn ich über Musik schreiben müsste, wäre ich dagegen überfordert. Ich kann nur in der Stille schreiben, ich höre nie dabei Musik, weil das Schreiben ja schon Musik ist. Das Schreiben hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Harmonie. Die Malerei bringt mich nicht aus der Ruhe, die Musik schon. Ich habe sehr viele Freunde und Freundinnen, die Maler, Bildhauer und Filmemacher sind. Komischerweise bin ich nicht mit vielen Musikern befreundet.

Wie ging es Ihnen damit, technologische Produkte wie Smartphones in Ihr Schreiben zu integrieren? In La Mer à l‘envers (2019), einem Roman über die Begegnung einer Pariserin auf Mittelmeer-Kreuzfahrt mit einem Geflüchteten aus Niger, ist das Smartphone erstmals ein zentrales Element der Erzählung. Haben Sie gezögert?

Ich habe schon lange Freude am Genre der Science-Fiction. So kommen in White zum Beispiel Hologramme vor, eine Technologie, die heute nicht einmal besonders viel genutzt wird. Momentan stelle ich mir zum Beispiel konkret die Frage nach den sozialen Netzwerken. Ich habe einen neuen Science-Fiction-Roman im Kopf, der in der nahen Zukunft spielt. Es geht um eine Moderatorin eines sozialen Netzwerks, die damit überfordert ist, dass es einen Geist gibt, der das Profil einer verstorbenen Person noch weiterhin belebt. Und dieses Gespenst beeinflusst auch andere Social-Media-Konten – im Grunde genommen handelt es sich um Cyber-Belästigung durch ein Gespenst.

Im Rahmen Ihres Aufenthalts in der Villa Albertine in Los Angeles haben Sie gesagt, es sei an der Zeit, dass Ihre Figuren Social Media benutzen …

Während dieses Aufenthalts im Jahr 2022 hatte ich die Gelegenheit, mich mit Leuten von Snapchat zu unterhalten und es gab bereits genau die Probleme, die wir jetzt gerade in Bezug auf KI besprechen. Sie sind völlig überlastet, weil sie nicht genug Moderatoren haben. Ich habe mich drei Stunden lang mit dem Erfinder der Snapchat-Karte [Snap Map] unterhalten. Ein 40-jähriger, sehr sympathischer Typ mit einem Dr. phil. in Harvard – eigentlich ein großer Intellektueller. Er sagte, dass sie mit der Kreatur, die sie da geschaffen haben, wirklich überfordert sind… Dann hatte ich auch noch ein Treffen mit Tiktok, das war ganz anders und sehr beängstigend. Damit habe ich eine Menge Material für meinen Roman gesammelt. Die Geschichte wird über das Mobiltelefon hinausgehen, die Figur der Moderatorin ist isoliert, schafft es nicht mehr zu moderieren und wird in eine schreckliche Angst gestürzt.

Was halten Sie von dem neuen KI-Programm ChatGPT? Einige Autoren arbeiten ja schon damit. Auch manche Verlage benutzen es zur Auswertung von Manuskripten.

ChatGPT habe ich natürlich ausprobiert, das ist total verrückt und ein bisschen verstörend. Ich habe eingegeben „Schreibe einen Roman à la Marie Darrieussecq“, das war ziemlich lustig. Es leuchtet mir sehr ein, wie man damit schlechte Romane schreiben kann.

Nur schlechte?

Ja, voll von Stereotypen.

ChatGPT beunruhigt Sie als Schriftstellerin also nicht besonders?

Es gibt so viele besorgniserregende Dinge… Ich mache mir mehr Sorgen wegen des Dritten Weltkriegs und der globalen Erwärmung [seufzt]. Wir werden sehen. In den USA musste ich einen Vortrag halten, dessen Thema relativ offen war. Es war die Abschlusskonferenz eines großen Symposiums zum Thema ‚Wüsten‘. Und kurz vor der Konferenz fragte ich mich, was wohl ChatGPT sagen würde. Ich habe also eingegeben: „Schreib mir einen Vortrag über Wüsten bei Marie Darrieussecq“. Ehrlich gesagt war der gar nicht so schlecht. Ich denke, für ein Schulniveau kann das funktionieren, wenn man einfache Themen eingibt wie „Freiheit bei Voltaire und Diderot“. Da ist der Aufsatz, der dabei herauskommt, wahrscheinlich ganz gut. Aber ein neues Stück von Shakespeare – nein, das glaube ich absolut nicht. Und da bin ich nicht die Einzige.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie nie von neueren Technologien träumen. In Ihren Träumen kämen keine Smartphones vor. Hat sich das mittlerweile verändert?

Ja, das stimmt, ich hatte dieses Gespräch neulich wieder mit Freunden, die in meinem Alter sind, und die nicht von ihren Mobiltelefonen träumen. Alle jungen Leute um uns herum aber schon. Als gäbe es um die Generation der 35- bis 40-Jährigen einen Bruch. Doch seitdem ich bemerkt habe, dass ich nicht von Smartphones träume, habe ich angefangen, davon zu träumen. Ich erinnere mich ab und zu an einen Traum, in dem mir jemand eine Nachricht schickt. Ich träume allerdings nie von Zoom-Meetings [lacht] – obwohl ich ziemlich viele Online-Kurse gebe und das schrecklich finde. Oder von Google-Suchen. Sagen wir, mein Unterbewusstsein beginnt langsam, sich an die Anwesenheit dieser Prothese zu gewöhnen. Aber ich wurde nicht damit geboren, im Gegensatz zu meinen Kindern.

Entsteht vielleicht heute eine neue Art der Naissance des fantômes (1998) (Gespenster sehen, 1999, wörtlich: Geburt von Gespenstern)? All diese Personen, die im Alltag ständig über Interfaces zugleich anwesend und abwesend sind?

Nicht umsonst habe ich das Element des Hologramms in mehreren meiner Romane verwendet, vor allem in White und Le Pays. Die einzige Möglichkeit, diese Frage momentan zu beantworten, ist für mich, meinen neuen Roman zu schreiben und virtuelle Geister zu erforschen… Ich weiß es nicht, eigentlich müsste man diese Frage ChatGPT stellen [lacht].

Der Gewinner des letzten Deutschen Buchpreises, Kim de l‘Horizon, hat ein ganzes Kapitel seines Buches auf Englisch geschrieben, mit Hilfe des Machine-Learning-Programms DeepL. Sie selbst sind auch Übersetzerin. Könnten Sie sich vorstellen, die Sprache zu wechseln und zum Beispiel auf Englisch zu schreiben?

Ja, manchmal denke ich darüber nach, und sei es nur, um mein Publikum zu erweitern. Ich glaube, dass ich in der Lage bin, auf Englisch zu schreiben. Das wird zwangsläufig zu einem anderen Text führen und, um ehrlich zu sein, könnte es interessant sein, dieses neue Science-Fiction-Buch auf Englisch zu schreiben. Mir gefällt die Idee, dass mein Englisch zwangsläufig eine ärmere Sprache als mein Französisch sein würde – obwohl ich gut Englisch spreche. Ebenso wie Truismes bewusst in einem „ärmeren“ Französisch geschrieben ist. Es wäre sicherlich interessant, mich auf diese Weise in die Rolle einer Moderatorin zu versetzen, die nicht die Chance hatte, eine Universität zu besuchen, und einen von diesen Click Jobs macht.

Spätestens seit Ihrem dritten Roman, Bref séjour chez les vivants (2001), bewohnen Ihre Figuren eine Welt, die unserer Gegenwart sehr ähnlich ist, eine globalisierte Welt: Sie reisen um den Globus, sie benutzen mittlerweile Google Maps, begegnen geflüchteten Menschen. Das Motiv der Grenzen bzw. der Grenzüberschreitung scheint zentral in Ihrem Schreiben zu sein.

Bei meinem Verleger, P.O.L [Paul Otchakovsky-Laurens, verstorben 2018], hieß es, dass Schriftsteller das Französische als eine Sprache unter vielen betrachten sollten, die von fremden Sprachen durchdrungen ist – von der Sprache der Kindheit zum Beispiel. P.O.L. spürte, dass seine Autoren von einer anderen Sprache bewohnt sind. Er sagte auch, dass die Modernität in der Literatur darin bestehe, den ganzen Planeten einzubeziehen und die französische Literatur aus ihren symbolischen Grenzen herauszuholen. Das heißt, seine Figuren frei über Grenzen hinweg reisen zu lassen.

Glauben Sie, dass die Kategorie der Nationalliteratur oder eine Kategorie wie die der Frankophonie in der Zukunft irgendwann verschwinden wird?

Die Frankophonie ist ein komplizierter Fall. Ich bewundere Schriftsteller wie den Senegalesen Boubacar Boris Diop, der in seiner Muttersprache Wolof geschrieben hat. Man hat mir oft vorgeworfen, dass ich nicht auf Baskisch schreibe. Von mir sehr geschätzte baskische Intellektuelle sehen mich auch als Verräterin. Als jemand, der in der Sprache der Kolonialherren schreibt. Ich bin da sehr empfindlich, dieses kleine Land ist mir sehr wichtig. Die Pariser können das absolut nicht verstehen, wenn man ihnen sagt, dass das Baskenland eine Form der Kolonialisierung erlebt hat. Das muss man ernst nehmen. Gleichzeitig hat es mich nach draußen in die Welt gezogen und ich hatte das Glück, reisen zu können. Ich bin dreimal um den gesamten Globus gereist und habe eine furchtbare CO2-Bilanz.

Es ist Ihnen also wichtig, irgendwo verwurzelt zu sein?

Mir liegen die Geschichte und der Kampf um die Unabhängigkeit des Baskenlandes am Herzen, aber das ändert nichts daran, dass ich in einer utopischen Vorstellung von der Welt völlig gegen Grenzen und für Gastfreundschaft im großen Stil bin – ich denke da an die Migrationskrise. Jeder Mensch auf diesem Planeten hat das Recht auf einen sicheren Ort. Für mich ist das Baskenland ein sicherer Ort und ich beherberge in meinem Haus dort oft Migranten, vielleicht, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Es ist ein unglaubliches Glück, überhaupt Menschen beherbergen zu können. Ich habe das Glück, auf der sichereren Seite des Planeten geboren zu sein. Das ist alles.

 

Übersetzung: Vanessa Franke