Gender-Trouble à la Suisse
Kim de l’Horizon bringt in dem Roman „Blutbuch“, der eigentlich kein Roman ist, sondern eher eine geniale Zumutung, erklärtermaßen lauter Mütter zur Welt und demonstriert, dass sich queer zwar leben, aber kaum beschreiben lässt
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAutofiktionales steht hoch im Kurs – wie überhaupt alles Biografische und Autobiografische als literarische Suche und Antwort auf unser Herkommen und unsere Befindlichkeiten, als Nabelschau und Selbstentblößung. Woher kommt das? Aus unserer kulturellen Hochachtung für Individualität, dem Hohelied auf das selbstbestimmte Ich trotz aller generativen Verbindlichkeiten? Warum sind Familiengeschichten so en vogue und die Ich-Sager fast zum literarischen Normalfall geworden?
Gerade erst hat eine Autorin den Literaturnobelpreis zugesprochen bekommen, die das soziologische Schreiben in Perfektion betreibt – Annie Ernaux. In einem Kommentar las ich, es sei unzutreffend, ihr Schreiben als autofiktional zu bezeichnen, denn in Wahrheit entfiktionalisiere sie das, worüber sie schreibt. Im Übrigen schreibe sie über sich in der dritten Person, denn das Ich von heute war schließlich nicht bei dem dabei, was damals geschah. Das sei ein anderes Ich gewesen. Was freilich nichts an unserem scheinbar unbezähmbaren Trieb ändert, gerade über unsere Verwurzelungen wie über die Relativität des Ichs zu schreiben.
Der hier zu besprechende Roman Blutbuch ist dafür ein Beispiel. Schwer zu sagen, wie es in Unkenntnis der persönlichen Fakten darin um die Fiktionalisierung beziehungsweise um ihr Gegenteil steht. Unverkennbar jedoch pflegt Kim einen ausgeprägten Hang fürs Mythische, verbunden mit dem Bewusstsein, dass jede Familien- und Stammbaumforschung letztendlich auch den Blut-und-Boden-Mythos in sich trägt. Dem Unterhaltungswert tut dies freilich keinen Abbruch – so wenig wie in anderen literarischen Fällen. Da die Person, die Blutbuch schrieb, sich offenbar als nicht-binär definiert und mich als Leserin aber nicht ihr Pronomen wissen lässt, werde ich in dieser Besprechung genderneutral nur von Kim sprechen.
„Für meine Meere“ lautet die Widmung, übersetzt „Für meine Mütter“, denn Meer ist im Berndeutschen die Abwandlung des Französischen Mère – was zugleich an das Ozeanische denken lässt, nämlich an la mer. Gemeint sind Kims Mutter und Großmutter. „Ich bringe meine Mütter zur Welt“, heißt es an einer Stelle. Vor allem Letztere spielt eine eminent wichtige Rolle, und ebenso zentral ist dazwischen und daneben Kims Queerness, die in den Erinnerungen an Grossmeer und an die eigene Kindheit und Jugend zu einer dicht verwobenen Erklärung für das von Anfang an immer schon vorhandene Anderssein wächst. Denn auch das Queer-Sein besitzt eine Geschichte.
Und weil diese Vorgeschichte sich sowohl in der Kultur, also in den Lebensverhältnissen der Menschen und deren Eigenheiten abbildet, wie auch in der Natur, spielt eine Rotbuche im Garten der Familie eine gleichermaßen magische Rolle. „Ich fühlte mich ihr [gemeint ist die Rotbuche, N.E.] verbundener als den Menschen. Sie hatte etwas Monströses, Zwitterhaftes.“ Dieser Baum beschert uns nebenbei eine umfangreiche Recherche über das Aufkommen der Blutbuche und seine herausgehobene Rolle in der Geschichte der europäischen Park-Kultur. Abschweifung gehört zu den Eigenheiten des Romans. Deshalb finden wir darin auch eine Sammlung von kurzen Hexen-Biografien oder, genauer gesagt, Biografien von Frauen, die als Hexen verleumdet, gefoltert und verbrannt wurden.
In mehreren Anläufen gibt uns Kim Beschreibungen der Großmutter, die dann beispielsweise so beginnen: „Grossmeers Hände waren Tiere.“ „‘Ich habe Männerfüsse‘, sagte Großmeer immer […].“ „Grossmeers Mund war eine Landschaft in ständiger Bewegung, im Zeitraffer.“ „Grossmeer trug immer Lippenstift.“ „Grossmeer warf nie ein Stück Brot fort.“ „Grossmeers Zähne waren gross und weiss, wie die Berge, und sie blitzten ständig, da Grossmeer immer redete.“ „Meine Grossmeer heißt Rosmarie, und sie war ein Monster.“ „Grossmeer hat fünf Häute.“ „Grossmeers Geranien waren überall.“ Ihre Wohnung gehört zu Kims klarsten Kindheitserinnerungen. Dort darf sich Kim ab und zu verkleiden und fühlt sich dabei wunderschön. „Das sagst du der Meer nicht, gell, das ist unser kleines Geheimnis, gell.“ Ein andermal dann das genaue Gegenteil: Das seien doch Mädchenkleider, „du bist doch kein Mädchen“. Das Kind ist beschämt und beginnt Grossmeer zu hassen, aber die Anziehung bleibt wie die Angst. Kindheit und Märchen sind scheinbar eins – auch in dieser ständig vermenschlichten Natur.
Queere Menschen würden keine Geschichte haben, heißt es an einer Stelle, „nichts, was sich zu einem wohltemperierten Familienroman zusammenhämmern liesse“. Doch Kim ist auf 334 Seiten darum bemüht, eine Geschichte zu erzählen, nämlich die eigene, die das Wohltemperierte durch Brüche und Widersprüche, durch Ausgrenzung und Ablehnung ersetzt. „Die Kinder in der Schule machen sich lustig über mich. Manchmal bin ich ein Junge und manchmal ein Mädchen. Aber du kannst nicht beides sein.“ Das Leben lehrt indes: Man kann beides sein. Nur steht dem immer der „Binaritäts-Faschismus der Körpersprachen“ entgegen, weshalb Kims Glieder ein Kauderwelsch sprechen, „ein in Wirrnis hin und her torkelndes Dazwischen und Damit“. Hier passt das als Motto verwendete Zitat von Alok Vaid-Menon: „Die Binarität der Geschlechter ist wie ein Partygast, di*er ankommt, bevor du überhaupt den Tisch gedeckt hast.“
Und weil es damals nur zwei Geschlechter gab, stürzt sich Kim „neonfarbenen Schuhes in die Schwulenkultur rein, wo mein Körper – dachte ich – am ehesten ins Dasein kommen könnte“. Das „small-town-baby“ verwandelte sich „in einen Otter“, der sich von Pornos und Sex ernährt mit Frei-Haus-Lieferung einiger Kostproben. Doch verbalisierter Sex klingt meistens nur komisch, zumindest konnte Kim mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Doch die schwule Option passt irgendwie nicht, „weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und dass mensch auf dasselbe Geschlecht steht“. Einige Seiten später folgen dann Selbstzweifel. Vielleicht sei Queerness doch nur so etwas Metropolitanisches, aus den USA Importiertes, das zur Identifikation einlade, weil es cool und edgy sei.
Die Probleme mit der Körperlichkeit bleiben, jedoch nicht so sehr beim Sex, denn der ist bei Kim brutal und eindeutig und so körperlich echt, doch die Probleme bleiben mental: „Ich war nie mein Körper.“ Und dann heißt es plötzlich: „Ich spüre meinen Körper nur, wenn ich ihn fortgebe, wenn ich ihn anderen anbiete, jemensch in mich eindringt, die selbst errichtete Grenze durchdringt.“ Aber der Mensch ist immer und ausnahmslos gerade das, nämlich ein Körper, gleich ob er queer, trans* oder sonst was ist. Die Mär vom falschen Körper sollten wir wirklich ad acta legen. Darauf hatte Judith Butler in Körper von Gewicht schon die richtige Antwort gegeben, indem sie die körperliche Freiheit höher ansetzt „als die einschränkenden Wirkungen der Hetero-Normativität“. Denn Körper sind auch außerhalb der Norm noch Körper. Eigentlich weiß das Kim, oder wie wäre sonst die Einsicht zu verstehen, „Natürlichkeit ist ja immer Propaganda“?
Ja, Blutbuch ist eine fesselnde, anstrengende, ärgerliche und zugleich faszinierende Lektüre. Man stolpert nur so über die Widersprüche, aber sie gehören nun mal zu einer Literatur, die den Spagat zwischen Verwurzelung und Fluidität ausprobiert und dabei eine „zynische, aufgekratzte Erzählstimme“ annimmt. Manchmal wirkt das Queere eher wie eine Attitüde, dann wieder völlig authentisch. Und manchmal wirkt das Buch wie ein Abladeplatz für ein staubiges Familienarchiv voller Gespenster und Chimären inklusive Hexen-Geschichte und einer kleinen Kulturgeschichte der Blutbuche.
Hinweis der Redaktion: Zur Verleihung des Deutschen Buchpreises an Kim de l’Horizon am 17.10.2022 siehe das Video auf der Seite https://literaturkritik.de/buchpreis-gewinn-zum-auftakt-der-buchmesse,29211.html!
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