Vom Kleinkriminellen zum Millionär
Wilhelm Voigts "Lebensbild" "Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde" ist ein literarisches Gaunerstück
Von Gunther Nickel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer kennt sie nicht, die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick? Ins kulturelle Gedächtnis ging sie vor allem durch Carl Zuckmayers Dramatisierung des Stoffes ein. Das Stück wurde am 5. März 1931 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt und war sofort ein Kassenschlager. Rund 160.000 Mark, mehr als das Lebenseinkommen eines Schwerstarbeiters, erhielt Zuckmayer innerhalb von nur neun Monaten an Tantiemen. Viermal wurde der Stoff verfilmt, zuerst 1931 von Richard Oswald mit Max Adalbert, 1956 von Helmut Käutner mit Heinz Rühmann in der Titelrolle. War Oswalds Verfilmung auch ein kommerzieller Mißerfolg, so sahen die von Käutner in den ersten fünf Monaten nach der Uraufführung mehr als zehn Millionen Menschen. Es gelang daraufhin, sie in 53 Länder zu exportieren, darunter auch die USA. Noch jüngst sorgten Harald Juhnke und Katharina Thalbach für eine weitere Popularisierung: Von 1996 bis 2001 lief "Der Hauptmann von Köpenick" en suite vor meist ausverkauftem Haus im Berliner Maxim Gorki Theater.
Zuckmayers Stück basiert auf einem Vorfall, der sich 1906 abgespielt hat: Der mehrfach vorbestrafte Wilhelm Voigt zog sich eine ausgediente Hauptmannsuniform an, die er von einem Trödler erworben hatte, und erteilte einer Wachmannschaft in Plötzensee den Befehl, ihm nach Köpenick zu folgen. Dort verhaftete er keinen Geringeren als den Bürgermeister. Angeblich wollte er sich nur einen Pass besorgen (den man ihm vorher verweigert hatte), aber im Köpenicker Rathaus konnten gar keine Pässe ausgestellt werden, sodass Voigt sich mit der Tageskasse von 3557,45 Mark begnügen musste. Zehn Tage später wurde er verhaftet.
Die Köpenickiade fand schon damals lebhaftes öffentliches Interesse. Die Journalisten überschlugen sich. Der bekannte Kriminalschriftsteller Hans Hyan brachte 1906 einen illustrierten Gedichtband mit dem Titel "Der Hauptmann von Köpenick, eine schaurig-schöne Geschichte vom beschränkten Untertanenverstande" heraus. Hyan schrieb auch das Vorwort für die Lebenserinnerungen, die Wilhelm Voigt nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft 1909 veröffentlichte, als er bereits mit dem Verkauf von Fotopostkarten und mit Auftritten in Varietees und Spelunken überaus erfolgreich war. 1910 sorgte Voigt sogar in New York mit seinen Auftritten für Furore. Von den stattlichen Einkünften konnte er sich 1912 in Luxemburg ein Haus kaufen und zur Ruhe setzen. In den Inflationsjahren nach dem Ersten Weltkrieg verlor er sein Vermögen aber wieder, sodass er nach seinem Tod 1922 auf einem Armengrab beigesetzt werden musste.
1926 verfilmte Siegfried Dessauer Voigts Köpenicker Coup (mit Hermann Picha in der Hauptrolle). 1930 legte ihn Wilhelm Schäfer einem - mäßigen und auch nur mäßig erfolgreichen - Roman zugrunde. Und ein Jahr später begann dann - wie gesagt - die anhaltende Erfolgsgeschichte der Zuckmayer'schen Dramatisierung. Fritz Kortner hatte Zuckmayer auf den Stoff aufmerksam gemacht (weshalb er eine Beteiligung an den Tantiemen forderte und auch erhielt). Zuckmayer ließ sich daraufhin, heißt es in seiner Autobiografie "Als wär's ein Stück von mir", von seinem Verlag die alten Zeitungsberichte und Prozessakten über den vorbestraften Schuster Wilhelm Voigt beschaffen und machte sich, beraten von seinem Freund Albrecht Joseph, an die Arbeit. Es entstand eine erste Fassung, die mit dem Satz endete: "Komm Bebel, es lebe die Arbeet! Besonders wenn manse hinter sich hat!" Diese allzu direkte Anspielung auf den Sozialdemokraten August Bebel strich er jedoch wieder. Die Nazis mochten das Stück trotzdem nicht, was ein, aber nicht der einzige Grund war, aus dem Zuckmayer ins Exil gezwungen wurde.
Zuckmayers Studium der vom Verlag herbeigeschafften Akten kann nicht sehr intensiv gewesen sein. Er folgte wohl weitgehend den Zeitungsberichten des Jahres 1906. Die Lebenserinnerungen Wilhelm Voigts kannte er angeblich nicht. Sie wären aber auch eine unzuverlässige Quelle gewesen, sind sie doch, wie Winfried Löschburg 1978 in seinem Buch "Ohne Glanz und Gloria" gezeigt hat, ein Fabulierstück ersten Ranges. Denn tatsächlich ging es Voigt nicht um einen Pass, sondern um zwei Millionen Mark, von denen er gehört hatte, dass sie im Köpenicker Rathaus im Panzerschrank lägen. Schon Hans Hyan befand in seinem Vorwort, das Voigt "seine Taten in reinerem Licht" geschildert habe, als es eigentlich erlaubt sei, doch als "kriminelles Dokument" bliebe sein Text trotzdem von "hohem Wert".
Leider ohne dieses Vorwort, dafür mit einem Nachwort von Ludwig Lugmeier und ergänzt um eine Chronik, haben Werner Labisch und Jörg Sundermeier Voigts Lebenserinnerung aus Anlass des 100. Jahrestages der Köpenickiade neu herausgegeben. Niemand als Lugmeier ist geeigneter, diesen Fall noch einmal zu kommentierten, schrieb er doch selbst mit spektakulären Raubüberfällen bundesrepublikanische Kriminalgeschichte und tourt, vertreten durch die Agentur "Tom Produkt", seit der Veröffentlichung seiner 2005 im Kunstmann Verlag erschienen Autobiografie "Der Mann, der aus dem Fenster sprang" durch Deutschland. Und selbstredend ist Voigts Buch in keinem anderen Programm besser aufgehoben als dem des Verbrecher Verlags, der allerdings auch (damit kein Missverständnis aufkommt, muss das gesagt sein) Titel von Gisela Elsner, Irmtraud Morgner und Dietmar Dath veröffentlicht.