Auf Anhieb gelungen
Joachim Bumkes Einführung in den "Erec" hat das Zeug zum Standardwerk
Von Daniel Könitz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer "Erec" Hartmanns von Aue ist nicht nur der erste Artusroman in deutscher Sprache, sondern er gehört auch zu den meistbeackerten Feldern in der altgermanistischen Forschung. Jahr für Jahr erscheinen zahlreiche Forschungsbeiträge zu den unterschiedlichsten Aspekten. Doch eine Einführung zu Hartmanns berühmtem Text suchte man bislang vergebens.
Unter den prominenten Werken der mittelhochdeutschen Blütezeit gibt es wohl kaum einen anderen Text, der sich in dieser Hinsicht so vernachlässigt fühlen muss, wie der "Erec". Peter Wapnewskis Hartmann-Band "war zu seiner Zeit ein großer Wurf und ist noch heute wichtig", aber bereits über 25 Jahre alt. Ähnlich verhält es sich mit dem von Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer verfassten Handbuch zu Hartmann von Aue aus dem Jahre 1993, wobei für das nächste Jahr die lang ersehnte und (hoffentlich) überarbeitete dritte Auflage angekündigt ist. Joachim Bumke, der schon mit seinem Metzler-Band zu Wolfram von Eschenbach Maßstäbe in Sachen Einführung setzte, hat es sich also zur Aufgabe gemacht aus einer Not - es fiel ihm nichts ein, was er den Teilnehmern im Vorfeld seines Proseminars zum "Erec" empfehlen konnte - eine Tugend zu machen. Seine 175 Seiten starke Einführung in den "Erec" Hartmanns von Aue ist ein Glücksfall für alle zukünftigen Studenten der Altgermanistik und schließt eine jahrelange und unerklärliche Lücke der "Erec"-Forschung.
An den Anfang seiner Einführung stellt Bumke den Dichter Hartmann von Aue selbst, seine Herkunft und Bildung ("ein ritter sô gelêret was, daz er an den buochen las") und verweist auf die unveränderte Problematik, bei der zeitlichen Einordnung von Hartmanns Werken nach wie vor auf eine "relative Chronologie" angewiesen zu sein. Da - nach Meinung des Autors - "[d]er Lektüre eines mittelalterlichen Textes [...] eine Vergewisserung über die Textgrundlage vorausgehen" muss, folgt als zweites ein Überblick zur Überlieferungsgeschichte des "Erec". In diesem Teil wird auch auf die Zwettler "Erec"-Fragmente Bezug genommen, die neben den medialen Wellen (sie waren zuerst für Fragmente des Nibelungenlieds gehalten worden) auch für eine Neubelebung der philologischen Diskussion um die verschiedenen Fassungen des "Erec" gesorgt haben.
Die Qualität von Bumkes Einführung zeigt sich in der inhaltlichen Analyse des "Erec", die durch ihre Klarheit und ihren umfassenden Informationsgehalt herausragt. Die Überschrift des 3. Kapitels (Inhaltsanalyse) macht deutlich, dass der Autor eine Gleichzeitigkeit von Inhaltswiedergabe und Analyse einem Nacheinander vorzieht. Bumke unterteilt seine ausführliche Untersuchung - sie erstreckt sich über ein Drittel des Buches - in sechs Abschnitte, wobei er sich an den verschiedenen Handlungsstationen des "Erec" (z. B. 'Erec und Enites Hochzeit und verligen', 'Joie de la curt') orientiert. Zusätzlich zur Analyse von Hartmanns Text bindet der Autor auch dessen französische Quelle - Chrétiens de Troyes "Érec et Énide" - ausführlich mit ein, was dem Leser die Gelegenheit gibt dezidiert nachzuvollziehen, an welchen Stellen und auf welche Art und Weise Hartmann von Aue in seinem "Erec" die Vorgaben Chrétiens quantitativ und qualitativ übernommen, variiert oder weggelassen hat.
Aufgrund der sehr großen Gemeinsamkeiten zwischen Hartmanns "Erec" und Chrétiens "Érec et Énide" ist die von Bumke gewählte komparatistische Annährung unverzichtbar, da gerade durch die Gegenüberstellung der beiden Texte die markanten und vom Autor gut herausgearbeiteten Um- bzw. Bearbeitungen (z. B. Figurenkonzeption und Handlungsmotivation) deutlich werden. Die Inhaltanalyse gewinnt auch dadurch an Übersichtlichkeit, dass sich die inhaltlichen Passagen von der abschließenden Analyse jeweils durch eine unterschiedliche Formatierung abheben. Der Leser kann somit auf den ersten Blick zwischen beiden Aspekten differenzieren und sie auch unabhängig voneinander lesen. In diesem Zusammenhang soll an dieser Stelle ganz grundsätzlich die klar verständliche und gut lesbare Sprache des Autors hervorgehoben werden, die für die primäre Zielgruppe (Studenten der ersten Semester) angemessen ist und der es dennoch nicht an Präzision fehlt. Darüber hinaus verzichtet Bumke wohl auch zu Gunsten der Lesbarkeit fast ausschließlich auf Fußnoten, statt dessen integriert er entsprechende Nachweise, die im Haupttext eingeklammert sind.
Im Anschluss an die Inhaltsanalyse wendet sich der Autor den grundlegendsten Themen des "Erec" zu: 'Bauform und Poetik', 'Erec und Enite', 'Reden und Schweigen', 'Erzählstil' und 'Stoff und Quellen'. Doch dem Autor geht es bei der Vermittlung von unterschiedlichen Interpretationen nicht um das Vermitteln definitiver Lösungen. Stellvertretend soll dies am Beispiel des in der "Erec"-Forschung viel und lang diskutierten Strukturproblems verdeutlicht werden. Bumke stellt dem Leser unterschiedliche Forschungsansätze (z. B. Doppelweg) vor und versucht dann erneut unter Zuhilfenahme von Chrétiens "Érec et Énide" auf komparatistischem Wege plausibelste Ergebnisse zu erarbeiten. Letztlich verweist er aber darauf, dass das präsentierte Ergebnis jedoch nur ein Vorschlag sei und auch andere Gliederungen möglich seien.
Den Abschluss der Einführung bildet eine umfangreiche und gut gegliederte Bibliografie, welche die einschlägige Forschungsliteratur der vergangenen Jahrzehnte in einer Auswahl verzeichnet. Gemessen an der Gesamtzahl der bisher erschienenen Publikationen zum "Erec" würde eine Gesamtbibliografie für die primäre Zielgruppe des Buches schlicht eine Überforderung darstellen. Daher begnügt sich Bumke damit, gesondert auf die umfangreichen Bibliografien zum "Erec" oder zu Hartmanns Gesamtwerk hinzuweisen und ansonsten dem Leser die wichtigsten und aktuellsten Forschungsbeiträge in Rubriken gegliedert ('Textprobleme', 'Untersuchungen und Interpretationen', 'Ausgaben und Übersetzungen') aufzuführen.
Joachim Bumke präsentiert auf insgesamt nur 175 Seiten eine konzentrierte und ergiebige Einführung in den "Erec" Hartmanns von Aue, wobei er - wie oben dargelegt - auch über den altgermanistischen Tellerrand hinausschaut. Bei Aspekten der Textinterpretation stellt er verschiedene Ansätze vor, hält sich als Autor aber mit subjektiven Bewertungen zurück. Um mögliche Wege für eine weitere kritische Beschäftigung aufzuzeigen, beschränkt Bumke sich im Einzelfall darauf, Fragen aufzuwerfen. Kurz: Er behält stets im Hinterkopf, für wen eine solche Einführung nützlich und hilfreich sein soll.
Eine grundlegende Arbeit zum "Erec" tat lange Zeit Not. Verwunderlich ist, dass diese Tatsache so lange unbeachtet geblieben ist. Umso erstaunlicher, dass das Vorhaben gleich auf Anhieb gelungen ist und das entstandene Werk potenziell zu einem Standardwerk der "Erec"-Forschung avancieren könnte. Schließlich ist es auch erfreulich, dass sich auch das Dilemma, aus dem das vorliegende Buch heraus entstanden ist, aufgelöst hat, denn jetzt kann Joachim Bumke - wenn auch leicht errötend - den Studenten seiner Proseminare mit gutem Gewissen (s)ein Buch empfehlen.