Auf dem Weg zur totalen Kontrolle

Ein Band versucht die sozialtheoretische Schärfung des Blicks auf die "Normalität"

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erschienen die frühen kleineren Texte von Michel Foucault in den 70er-Jahren in Deutschland erstmals noch im kleinen Merve Verlag, damals noch in der Reihe "Internationale Marxistische Diskussion", so hat sich das spätestens seit dem Foucault-Hype der 90er Jahre geändert. Seitdem das Foucault'sche Werk als maßgeblicher Stichwortgeber der Sozial- und Kulturwissenschaften fungiert, ist auf dem Buchmarkt eine regelrechte Flut von Publikationen von und über Foucault festzustellen. Statt konspirativer Kleinverlage sind nun die großen und an der Spitze der Suhrkamp-Verlag am Drücker - der schon seit den 70er-Jahren die umfangreicheren Werke Foucaults publiziert hat. In jenem Hause erscheint mittlerweile alljährlich ein Band aufgearbeiteter Mitschriften von den Vorlesungen, die Foucault am Collège de France von 1970 bis 1984 gehalten hat.

Eine der ersten systematischen und wissenschaftlichen Beschäftigungen mit Foucault im deutschsprachigen Gebiet ist der Anschlussversuch des Germanisten Jürgen Link in seinen Analysen zum (flexiblen) "Normalismus". Hierbei knüpft er seit Beginn der 90er Jahre an die Foucault'schen Analysen der Disziplinargesellschaft und Normalisierungsmacht an, die jener in den 70er Jahren entwickelt hatte.

Foucault äußerte, auf sein Werk rückblickend, dass das durchgängige Interesse seiner Machtanalysen dasjenige war, zu analysieren, wie wir zu dem werden konnten, was wir heute sind. Seine Analysen der Gefängnisse, Irrenhäuser, Kliniken, Kleinfamilien etc. unternahm er mit dem Anspruch, Mechanismen freizulegen, die so etwas wie das kulturell Unbewusste der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft konstituieren. Insofern standen jene Orte, an denen die bürgerliche "Normalität" produziert wurden und werden, im Zentrum der Foucault'schen Analysen der Normalisierungsmacht.

Die Maschen der normalisierenden "ideologischen Staatsapparate" bilden ein fein gestricktes Netz, bestehend aus unterschiedlichen Wissensformen, Strategien und Akteuren/Therapeuten, die im Feldzug gegen soziale Anomalien mobilisiert werden: Krankheiten wie die Pest, onanierende Kinder, das Phänomen der hysterischen Frau ("Bovarysmus"), die Formen der Delinquenz, der Wahnsinnige und sonstige "Monster". Das Wissen um den modus operandi der Normalisierungsmacht, wie es Foucault in breit angelegten historischen Studien entwickelt hat, bildet den Ausgangspunkt aktueller Analysen über Normalität (und deren jeweiliges Gegenüber), wie sie in Sozial- und Kulturwissenschaften in kritischer Absicht verfolgt werden - so auch in den Link'schen Normalitätsanalysen.

Normalismus wird von jenem und den restlichen Herausgebern des vorliegenden Bandes verstanden als "die Gesamtheit aller sowohl diskursiven wie praktisch-intervenierenden Verfahren, Instanzen und Institutionen, durch die in modernen Gesellschaften ,Normalitäten' (im engeren Sinne) produziert und reproduziert werden". Wie schon bei Foucault stehen hier die Humanwissenschaften und die Performativität, d. h. Wirkungsmächtigkeit des wissenschaftlichen Wissens in sozialen Praktiken im Mittelpunkt des Interesses. Die Soziologie, die Medizin, die Psychologie etc. stellen in Form von Durchschnittswerten, Abweichungen, Extremwerten und Toleranzkorridoren ein Orientierungswissen zur Verfügung, das eine Durchleuchtung, Bemessung und Bewertung sowohl der Einzelnen als auch des gesamten Gesellschaftskörpers in seinen unterschiedlichen Schattierungen ermöglicht - entlang der Schwelle von Normalität und Abweichung.

Die Beantwortung der Fragen: bin ich normal, bin ich verrückt, bin ich schlecht, bin ich pervers? sind ohne den Wissenskomplex der Normalisierungsmacht nicht möglich. Die subtile Mächtigkeit dieses Orientierungswissens, im Lichte dessen die eigene Normalitätsprüfung geschieht, zeigt sich auf der Ebene des Selbst-Überwachens und Kontrollierens der eigenen Vorstellungswelt, auf der Ebene der Entwicklung einer normalisierten Innerlichkeit.

Die Herausgeber des vorliegenden Bandes gehen davon aus, dass eine vertiefende Beschäftigung mit dem Normalismus neue Einsichten in die Entstehungsbedingungen, die Funktionsweise und das Konfliktpotenzial westlicher Gesellschaften erschließen kann. Die Beiträge, die im Rahmen einer Tagung der von Jürgen Link geleiteten interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe "Leben in Kurvenlandschaften. Flexibler Normalismus in Arbeitsleben und Alltag, Medien, elementarer und belletristischer Literatur" entstanden sind, sind größtenteils auf theoretische Probleme fokussiert.

Gemäß dem gesetzten Ziel der "Klärung der einschlägigen grundlegenden soziologischen Kategorien des Problemfeldes" zielen die Beiträge auf eine begriffliche Klärung des Gegenstandsbereichs von Normalismusforschung wie auch des einzusetzenden konzeptuellen Begriffsarsenals ab. Denn es habe, so die Herausgeber, obwohl in vielen zeitgenössischen soziologischen Theorien von der "Normalität" die Rede ist, seit August Comte und Émile Durkheim kaum mehr eine explizite Diskussion und Erörterung der Kategorie der "Normalität" stattgefunden.

Obwohl der Band vorwiegend Aufsätze mit begriffsklärender Absicht umfasst, die unterschiedliche sozialtheoretische Ansätze auf ihre Kompatibilität mit der Normalismusanalyse überprüfen, finden sich auch Ausführungen, die gegenwärtige Normalisierungserscheinungen beschreiben und analysieren. Der Gegenstandsbereich dieser empirischen Untersuchungen erstreckt sich vom Normalitätsverständnis in der Amerikanischen Psychologie über die Psychotherapie in Ostdeutschland bis hin zur Normalisierungswirkung von Werbung in den Massenmedien. Trotz dieser empirischen Auflockerungsübungen überwiegt in dem Band das theoretische Interesse.

Interessant sind die Ausführungen Alois Hahns, die sich im Anschluss an Jürgen Link mit der "Selbstnormalisierung moderner Personen" beschäftigen. Die Prozesse der Überwachung, wie sie z. B. Foucault in "Überwachen und Strafen" analysiert hat, haben sich Hahn zufolge von ihrer ursprünglichen Funktion als Fremdüberwachung gelöst und in allen Lebensbereichen seit Beginn der Neuzeit nicht nur vermehrt sondern auch teilweise verselbstständigt. Ausgehend vom Normalität definierenden und beobachtenden Komplex von Institutionen operiert die moderne Form der "flexiblen Selbstnormalisierung" über Selbstüberwachungstechniken: Die Aufmerksamkeit auf sich selbst erstreckt sich hierbei nicht mehr nur auf krasse Symptome wie z. B. Fieber, starke Schmerzen und Angstzustände, sondern es wird zunehmend eine ununterbrochene Daueraufmerksamkeit auf die leichtesten Veränderungen etabliert. Die Ausführungen Hahns erwecken weitere Assoziationen, die einen z. B. an das neoliberale Konzept des "aktivierenden Sozialstaats" oder an die Normalitätsproduktion im Zeitalter des Fitness- und Diät-Wahns etc. denken lassen. Allein an dem Beitrag von Hahn wird schon deutlich, wie aktuell und gegenwartsbezogen die Anwendung von Normalismusanalysen sein kann.

Auch die eher theoretisch angelegten Aufsätze des Bandes vermögen zu überzeugen, zumal sie auch jenseits von übertriebenem Sprachlogizismus argumentieren. Der Romanist Joseph Jurt vergegenwärtigt die theoriegeschichtlichen Umstände, in denen Pierre Bourdieu sein Konzept des "Habitus" entwickelt hat - ausgehend von einem Kommentar zu den Mentalitätsstudien des Kunsthistorikers Erwin Panofskys. Im Habitus-Begriff, der in der zeitgenössischen Soziologie eine intensive Behandlung erfährt, wird abgezielt auf die mentale, emotionale ,,subjektive' Verarbeitung und Verinnerlichung von ,objektiven', gesellschaftlichen Strukturen. Durch diesen Fokus auf die Verinnerlichung von objektiven Strukturen liegt die Analogie des Habitus-Begriffs zu den Normalismusstudien mit ihrem Interesse auf die auf Innenorientierung und -lenkung setzende Spielart der "subjektiven Normalisierung" auf der Hand. Der Überschneidung der Foucault'schen und Bourdieu'schen Konzeptionen widmen sich weitere Beiträge des Bandes, in kritischen Bemerkungen zu Bourdieus Soziologie (Friedrich Balke) und in systematischer Absicht im Sinne einer "Diskursanalyse der Normalisierungsgesellschaft" (Hannelore Bublitz).

Karl-Siegbert Rehberg versucht schließlich in seiner breit angelegten Abhandlung, die Normalismusanalyse in eine Theorie der institutionellen Mechanismen zu integrieren. Rehberg geht hierbei zu Recht auch auf das Wechselverhältnis von Normalisierungsstrategien und der Arbeitsorganisation im Betrieb ein. Er betont, dass entsprechende gesellschaftspolitische Leitideen und deren Deutungshoheit, d. h. deren hegemoniale Definitionen von Normalitäten, immer schon "Kampfprodukt" von sozialen Auseinandersetzungen sind. Um der Kontingenz gewisser gesellschaftlicher Leitbilder über Normalität in der Gesellschaftsanalyse gerecht zu werden, schlägt er schließlich einen Mix von institutionen- und ideologietheoretischen Ansätzen vor. Eine derartige "disziplinäre Arbeitsteilung" könnte zudem die häufig kritisierten Leerstellen auch der marxistischen Theorie füllen.

Der vorliegende Band ist trotz der stark sozialtheoretischen Gewichtung auf keinen Fall trocken. Sowohl die auf theoretische Dialoge fixierten Beiträge wie auch die empirischen Untersuchungen können davon überzeugen, dass eine Beschäftigung mit den Foucault'schen Thesen über die Normalisierungsmacht sinnvoll sein kann und dabei einige zutreffende, wenn auch schmerzhafte zeitdiagnostische Erkenntnisse hervorgebracht werden können. Nicht mehr nur in den klassischen Institutionen der Beichte, der Psychiatrie und der Psychoanalyse wird deutlich, dass das Individuum in der Moderne zum ,Bekenntnistier' und zum Objekt einer tendenziell totalen Kontrolle (,Panoptismus') geworden ist. Die in dem vorliegenden Band zusammengefassten Beiträge zeigen diesen Wandel des Normalismus, der immer flexiblere Formen annimmt, in denen der "Große Bruder letztlich zur Funktion des eigenen Gehirns" wird.


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Jürgen Link / Hartmut Neuendorff (Hg.): "Normalität" im Diskursnetz soziologischer Begriffe.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2003.
231 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3935025270

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