"Verlorene Liebesmüh"

Peter Ackroyds Shakespeare-Biografie gerät zur langatmigen Geschichtsstunde

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Ironie der (Literatur-) Geschichte: Während man die Viten unzähliger unbedeutender Schriftsteller ohne weiteres minutiös rekonstruieren könnte (wenn man denn nur wollte), so lässt sich ausgerechnet über das Leben des englischen Nationaldichters kaum etwas mit Bestimmtheit sagen. Zwischen dem (angenommenen) Geburts- und dem (verbürgten) Sterbedatum William Shakespeares sind nur wenige, zumeist recht unspektakuläre Ereignisse überliefert: Es finden sich Akten zu diversen Rechtstreitigkeiten, in die der Dramatiker involviert war, offizielle Aufzeichnungen zu Vorstellungen seiner Stücke und natürlich sein viel zitiertes Testament, in dem er seiner Frau sein zweitbestes Bett vermacht.

Daneben gibt es jedoch vor allem eins: offene Fragen. Warum etwa verließ Shakespeare seine Frau schon kurz nach der Hochzeit, was machte er während der so genannten "lost years", jener Zeit zwischen 1585 und 1592, in der sich seine Spur völlig verliert - und war der Grundbesitzer William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon überhaupt identisch mit dem Autor William Shakespeare, oder war der in diversen Schreibweisen überlieferte Name nur der nom de plume einer hochgestellten Persönlichkeit der Tudorzeit, die es vorzog, bei ihrer schriftstellerischen Tätigkeit anonym zu bleiben?

Die Vielzahl der unbeantworteten und letztlich wohl auch nicht zu beantwortenden Fragen, die Shakespeares Leben begleiten, dürften das Verfassen seiner Biografie zum Alptraum für all jene machen, die sich diesem Unterfangen mit positivistischer Akribie zu nähern versuchen. Doch trotz problematischer Faktenlage sind Lebensbeschreibungen Shakespeares nach wie vor en vogue: Allein in den letzten zwei Jahren erschienen mehr als ein Dutzend Biografien des britischen "Barden". Da verwundert es kaum, dass sich jüngst auch Peter Ackroyd diesem Gegenstand widmete, hat sich der Autor doch nicht nur als Schriftsteller längst einen Namen gemacht, sondern auch als Verfasser einer bemerkenswert großen Anzahl viel gelobter Biografien.

Neben seinen Lebensbeschreibungen von William Blake, Charles Dickens, Thomas More, Ezra Pound und T. S. Eliot versetzte Ackroyd Leser wie Kritiker im Jahr 2000 gleichermaßen mit seiner Biografie Londons in Begeisterung; seine Popularität als Biograf ist so groß, dass ihn sein britischer Verlag unlängst sogar mit dem Verfassen einer ganzen Serie von Kurzbiografien ("Brief Lives") betraute, von denen bisher Bände zu Chaucer, Newton und Turner erschienen sind.

Doch obwohl sich Ackroyd nach eigenem Bekunden seinem Thema weniger als "Experte" denn als "begeisterter Shakespeare-Leser" nähert, sind in diesem Fall Kürze oder gar falsche Bescheidenheit seine Sache nicht. Ganz im Gegenteil. Bereits der Untertitel seines "Shakespeare" erhebt den Anspruch auf Ausschließlichkeit - es ist nicht etwa 'eine' Biografie Shakespeares, die Ackroyd vorzulegen wünscht, sondern "Die Biografie", die mit ihren mehr als 600 Seiten schon durch ihre bloße physische Präsenz überrascht, gleichzeitig aber auch große inhaltliche Erwartungen weckt.

Bereits ein erster Blick in das Inhaltsverzeichnis verdeutlicht den relativ konventionellen Aufbau des Buchs: Ackroyd versucht, das Leben Shakespeares chronologisch nachzuzeichnen und beginnt daher ab ovo mit einer kurzen Schilderung der Geburt des Dichters. Da sich diese aber in völliger Ermangelung jeglicher Informationen eigentlich gar nicht schildern lässt, verlegt sich der Autor darauf, eine typische Geburt im England des 16. Jahrhunderts zu skizzieren und diese als Analogon zur Geburt Shakespeares zu präsentieren - ein Verfahren, das in der Folge zur Methode wird. Für Ackroyd ist Shakespeare zunächst ein Durchschnittsmensch, mit einem Durchschnittsleben: "Bis auf ein paar wenige individuelle Taten oder Geistesblitze ist die Masse der Menschheit ziemlich gleich. Offensichtlich scheint Shakespeare zu bezeugen, dass dies wahr ist." Diese postulierte Gleichheit erlaubt es dem Biografen, immer wieder Rückschlüsse von der allgemeinen Lebensweise auf Shakespeares spezifische Lebensumstände zu ziehen und sich somit seinem Gegenstand anzunähern. Dass diese Annäherung immer nur spekulativ sein kann, stellt Ackroyd selbst heraus. Schon bald wird der Konjunktiv zum vorherrschenden Modus und Worte wie "vielleicht", "wahrscheinlich", "unwahrscheinlich", "möglicherweise" und "vermutlich" bilden die sprachlichen Leitmotive des Buchs; dies wiederum demonstriert, wie Ackroyd aus der Not der mangelnden Informationen eine Tugend der Vermutung zu machen versucht.

Dass dabei notgedrungen die wissenschaftliche Überprüfbarkeit weitgehend auf der Strecke bleibt, wird man dem Autor verzeihen - umso mehr, als er bei all jenen Aspekten, zu denen er über gesicherte Informationen verfügt, ausgiebig mit seinem Wissen brilliert. Dass diese Verfahrensweise allerdings auch teilweise zu recht abstrusen Rechtfertigungsversuchen führt, wiegt schon schwerer: "Zugegeben, diese Erklärung hört sich irgendwie zu einfach an, muss deshalb aber noch lange nicht unzutreffend sein."

Es sind vor allem Wahrscheinlichkeiten und der (völlig zu Recht diskreditierte) "gesunde Menschenverstand", auf deren Grundlage Ackroyd argumentiert und anhand derer er ein Leben Shakespeares entwirft, das unterschiedliche Facetten des Dichters hervorhebt. So wird zunächst der junge Shakespeare imaginiert, wie er wahrscheinlich "dreißig, vierzig Stunden" pro Woche über seinen Lateinbüchern brütete, anschließend eventuell als Anwaltsgehilfe arbeitete - wobei er unter Umständen auch schon auf das Ophelia-Motiv gestoßen sein könnte - und dessen folgenschwerer Entschluss, Schauspieler zu werden, ihn vielleicht dazu veranlasste, seine Lehrzeit bei den Lord Strange's Men zu verbringen.

Im Anschluss daran stellt sich der Biograf Shakespeare als ein über sein eigenes Talent erschrockenes Genie vor, als jemand, der "in späteren Jahren [vielleicht] selbst verblüfft und erschrocken über seine grandiosen Schöpfungsakte [war]" und der sich zum erfolgreichen Schauspieler, Dramatiker und Lyriker, aber auch zum gewinnorientierten Geschäftsmann entwickelte. Selbst über Shakespeare als Familienvater spekuliert Ackroyd, wenn er dessen Reaktion auf den Tod seines Sohnes Hamnet beschreibt: "Vielleicht war er untröstlich, vielleicht auch nicht." Mag diese Aussage in ihrer Prononciertheit auch primär der insgesamt nicht übermäßig eleganten Übersetzung geschuldet sein, die insbesondere eine stilistisch fatale Präferenz der Übersetzer für "irgendwie" aufweist, so kann sie dennoch als Quintessenz des Shakespeare-Bilds Ackroyds gelten: Vielleicht war es so, vielleicht war es aber auch ganz anders.

Begründet liegt der spekulative Charakter dieser Lebensgeschichte vor allem darin, dass Ackroyd - abgesehen von einigen Anregungen zur Erweiterung des Shakespeare-Kanons - leider nichts essentiell Neues über den Dichter zu sagen vermag. Sein geradezu euphorisches Bekenntnis "Es ist und bleibt eine vergnügliche Spekulation" dürfte angesichts dieser Erkenntnis wohl nur von besonders fantasiebegabten Leserinnen und Lesern vorbehaltlos geteilt werden. Es werden wohl auch nur diese sein, die sich in der Folge nicht scheuen, zusammen mit dem Autor über Shakespeares potentielles "Lampenfieber" während einer Aufführung vor Elisabeth I. zu spekulieren.

Dabei ist keineswegs alles an Ackroyds Buch Spekulation: Vor allem seine sehr genauen Beschreibungen der Lebensumstände im elisabethanischen London und der Theaterwelt der Tudorzeit zeugen nicht nur von einer profunden Kenntnis - auch wenn er zunächst (fälschlicherweise) den Ausspruch "this wooden O" aus "Heinrich V." der Bauweise des Curtain Theatre zuschreibt, um ihn anschließend (korrekterweise) auch noch auf das Globe Theatre zu beziehen - sondern auch von seinem Wunsch, diese ausgiebig mit seinem Lesepublikum zu teilen.

So erhält man etwa gleich zu Beginn detaillierte Informationen über Stratford-upon-Avon, seine präzise geografische Lage, die Etymologie des Ortsnamens, die Entwicklung der Einwohnerzahl vom späten Mittelalter bis zu Shakespeares Zeit, die Anzahl der Vieh- und Jahrmärkte sowie die Beschaffenheit und Konstruktionsweise der Wohnhäuser, aber auch zur Kindersterblichkeit, der Teuerungsrate und dem Durchschnittseinkommen von Handwerkern im elisabethanischen England. Ackroyd zeichnet faszinierende Szenen des Londoner Alltagslebens des 16. Jahrhunderts und wartet mit ausführlichen biografischen Informationen zu fast allen Personen auf, mit denen Shakespeare in Kontakt kam - oder mit denen er in Kontakt hätte kommen können. Je nach Interessenlage wird man diese zumeist sehr umfangreichen Passagen als retardierende Momente oder auch als informative Interludien wahrnehmen; da Ackroyd jedoch letztlich über den historischen Hintergrund ungleich mehr zu berichten weiß als über Shakespeare, tritt der eigentliche Fokus des Interesses immer wieder für weite Strecken völlig in den Hintergrund.

Sollte man sich also nach der Lektüre der insgesamt 91 Kapitel von Ackroyds "Shakespeare" fragen, was man denn eigentlich Neues erfahren hat, so wird man (sicherlich erfreut) feststellen, dass man sich nun sehr genaue Vorstellungen über den kulturhistorischen Kontext machen kann, in dem Shakespeares Stücke entstanden sind. In Bezug auf Shakespeare selbst allerdings - so wird man sich (sicherlich weniger erfreut) in den Worten eines anderen Dramatikers eingestehen müssen - ist man so klug als wie zuvor.


Titelbild

Peter Ackroyd: Shakespeare. Die Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Otto Lucian und Michael Müller.
Knaus Verlag, München 2006.
656 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3813502740

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