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Jan Josef Liefers liest Paul Austers Roman "Die Brooklyn Revue"

Von Sandra RührRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Rühr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Faszination Auster

Befragt zum so genannten Paul Auster-Phänomen, können Fans innerhalb kürzester Zeit mehrere Gründe für ihre Faszination an dessen Werk anführen. Paul Auster wird als "Meister des Zufalls" bezeichnet. Nicht ohne Grund heißt einer der frühen Romane "Die Musik des Zufalls". Seine Geschichten entspinnen sich aus unerwartet eintreffenden Ereignissen heraus und er liebt es dabei, seine Leser auf frische und unter Umständen zunächst auch falsche Fährten zu locken, die diese in noch tiefere Verwirrung stürzen. Fiktive Begebenheiten werden mit real Stattfindendem verknüpft.

All seine Romane sind kleine Liebesbezeugungen gegenüber seiner Heimatstadt Brooklyn. Dabei ist Brooklyn niemals nur reiner Schauplatz, sondern stets Protagonistin der Handlung. Das Besondere am Auster'schen Werk ist außerdem, dass der Autor seine Leser stets in eine Art literarischen Diskurs verwickelt, indem er seinen Figuren Thesen in den Mund legt, die die Leser zu Ende denken dürfen. Somit entfaltet auch die Literatur einen eigenständigen Charakter. Weiterhin öffnen seine Bücher die Pforte zu einer neuen Welt.

Der Schlüssel dazu ist stets - richtig - der Zufall. Dieser ist auch der rote Faden, der nicht nur das einzelne Werk, sondern das gesamte literarische Schaffen Paul Austers hindurchzieht. Mal werden Figuren aus früheren Romanen wieder eingeführt wie David Zimmer in "Das Buch der Illusionen", der bereits in "Mond über Manhattan" eine Rolle spielte. Dann wird Paul Auster selbst Teil der Geschichte, indem er wie bei seinem Erstling "Stadt aus Glas" die Figur des Detektivbürobetreibers gleichen Namens mimt. Das Pseudonym, das Vorgeben einer anderen Identität vermittels eines anderen Namens, spielt eine ebenso wichtige Rolle. Nicht nur bei den Figuren, die sich nicht als das entpuppen, was sie zu sein scheinen, sondern auch bei Auster selbst. Er begann seine literarische Karriere mit dem Verfassen von Lyrik und Essays und publizierte unter dem Decknamen Paul Benjamin einen Kriminalroman. Durch seine Art des Schreibens ist Paul Auster eine Art Webmeister, der aus Fiktion und Realität einen bunten Teppich flicht. Der Autor ist dabei Teil des Romans, welcher wiederum in Realistisches eingebettet ist.

Nomen est omen

Namen spielen in den einzelnen Geschichten eine tragende Rolle und besitzen einen eigenen Aussagecharakter. So hat es durchaus etwas zu bedeuten, wenn die Figuren wie im aktuellen Roman "Die Brooklyn Revue" Namen tragen wie Nathan, Aurora, Lucy oder Honey. Oder gar Harry Dunkel, der sich mittlerweile Harry Brightman nennt. Wie in vielen Geschichten Austers ist die Ausgangslage in "Die Brooklyn Revue" durch eine gescheiterte Lebenssituation der Hauptfigur(en) geprägt. Die entscheidende Wende tritt in einer so genannten literarischen Parallelwelt ein, die den Gescheiterten zum Nachdenken über sein bisheriges Leben animiert: Literarische Parallelwelt deshalb, weil das Resümieren wie bereits bei "Nacht des Orakels" schreibend vonstatten geht. War die Pforte zum Neubeginn dort ein blaues Notizbuch in einem Papierwarenladen, so sind es hier zunächst ein Bagel-Laden und ein Versprecher, die zum Verfassen eines "Buchs der menschlichen Torheiten" anregen.

Was für Nathan Glass, den ehemaligen Versicherungsvertreter, der auf 59 Lebensjahre, eine Scheidung und eine überstandene Krebserkrankung zurückblickt, als eine Art Selbsttherapie und eine Form der Ablenkung von Selbstmordgedanken beginnt, wandelt sich schließlich entscheidend beim Aufsuchen eines Brooklyner Antiquariats. Dies ist die eigentliche Pforte des Zufalls, denn hier trifft er seinen Neffen Tom Wood nach mehreren Jahren wieder.

Das schreibende Erinnern weicht zunehmend dem persönlichen Austausch unter Gleichgesinnten. Denn alle Figuren haben eines gemeinsam: ihr Leben ist durch verschiedenste Ereignisse aus den Fugen geraten. Tom, einstmals Literaturstudent, hat seine Promotion an den Nagel gehängt, um sich fortan zunächst als Taxifahrer, dann als Aushilfe in besagtem Antiquariat zu verdingen. Seine Schwester Aurora versuchte sich erst als Kellnerin und Sängerin, konsumierte Drogen, wurde mit Lucy schwanger und erfuhr eine Art Läuterung durch den religiösen Fanatiker David, der sie ehelichte, um sie wieder auf den rechten Weg zu bringen.

Der schwule Harry ändert nach einer gescheiterten Galeristenkarriere, die er wegen Betrugs im Chicagoer Gefängnis beendet, seinen Namen von Dunkel in Brightman und wagt einen Neubeginn als Antiquar in Brooklyn. Was mit der Umänderung des Namens bereits angedeutet wird, ist bei Auster ein umso deutlicheres Sprachspiel: "[...] Harry, den ehemaligen Dunkel von Dunkel Frère, der aus dem dunklen Wald seines früheren Ich geflohen war, um als helle Sonne am Firmament des falschen Spiels wieder aufzutauchen." Das falsche Spiel wird sich später als erneuter Betrug erweisen, der für Harry zwar tödlich endet, womit jedoch das Leben der anderen Figuren ein wenig strahlender wird.

Lucy taucht eines Tages aus dem geheimnisvollen Carolina-Carolina auf und bringt, da sie zunächst kein Wort sprechen will, das Leben von Nathan, Tom und Harry ordentlich durcheinander. Doch Lucy würde nach Auster'scher Manier nicht Lucy heißen, wenn sie nicht in irgendeiner Form Licht ins Dunkel bringen würde. Ihr oder auch der Musik des Zufalls ist es zu verdanken, dass Nathan und Tom zunächst einen Vorgeschmack auf ihr "Hotel Existenz" in Vermont bekommen, um es dann in Brooklyn vollends zu realisieren. Im "Hotel Existenz", so erträumte es sich Tom einst, leben alle glücklich zusammen und so kommt es dann auch: alle Figuren finden zueinander und kommen zu neuem Liebes- und Lebensglück.

Bei soviel Romantik und Kitsch, denn natürlich werden einige der Protagonistinnen auch schwanger, sucht man unter Umständen einen Gegenpol. Den hat der Autor in Form realistischer Fakten eingestreut. So wird man Zeuge der amerikanischen Wahlen im Jahr 2000 und kann sich, zumindest im Geiste, an den zwischen Intellektuellen stattgefundenen Debatten beteiligen, die der Autor hier Tom und Honey in den Mund legt.

Austers Werk "Die Brooklyn Revue" endet am Morgen des 11. September. Während der Himmel über Brooklyn blau ist, als Nathan nach einer vermeintlichen Herzattacke das Krankenhaus verlässt, wird nur 46 Minuten später das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Centers rasen. Die Versöhnung des Einzelnen mit dem Leben steht dem massenhaften Tod gegenüber.

Die Hörbuchumsetzung

Bei einer Transformation des gedruckten Buchs in die Hörbuchvariante finden mehrere Stufen der künstlerischen Übersetzung statt. Zunächst entscheidet der Verlag, ob die Vorlage nahezu unangetastet beibehalten wird. Dies ist besonders bei einer ungekürzten Lesung wie bei der Hörbuchversion von "Die Brooklyn Revue" der Fall. Jedes Wort, jede Zeile, jede Seite wird eins zu eins übernommen. Allerdings wirken dann Sätze wie "Ich möchte die Geduld des Lesers nicht überstrapazieren." oder "Jetzt quassle ich schon ein Dutzend Seiten, [...]" in einem Hörbuch fehl am Platze, da es hier weder den Leser noch Seiten gibt, sondern es handelt sich um eine neue Form.

Der nächste Eingriff in das Werk des Autors wird mit der Wahl des Sprechers, hier Jan Josef Liefers, und seiner stimmlichen Interpretation vorgenommen. Wie lässt sich der Lebensbericht eines Endfünfzigers von jemandem lesen, dessen Stimme eher wie die spitzbübische Variante des netten Jungen von nebenan klingt? Ganz einfach: Paul Auster hat sich hierfür einen klugen Coup einfallen lassen. Obwohl aus der Sicht von Nathan Glass erzählt, ist nicht er, sondern Tom die Hauptfigur des Romans. "[...] die Hauptfigur dieser Erzählung, die Ehre, als Held dieses Buchs aufzutreten, gebührt meinem Neffen Tom Wood, dem einzigen Sohn meiner verstorbenen Schwester June."

Wenn man dies berücksichtigt, ist Jan Josef Liefers eine gelungene Besetzung für die Interpretation von "Die Brooklyn Revue". Seine Stimme vermittelt jugendlichen Charme und ist auch über die Länge von neun CDs noch sehr angenehm für den Hörer. Obwohl in der "Brooklyn Revue" eine Vielzahl an Figuren auftauchen, entscheidet sich Liefers dafür, die verschiedenen Charaktere lediglich durch leichte Nuancierungen anzudeuten. Dabei bildet die Charakterisierung von Nathan die Ausgangslage: ihn präsentiert Liefers mit einer tieferen Stimmlage und gruppiert so die anderen Personen in einem klanglichen Potpourri herum.

Warum er dann allerdings bei Harry und Flora in eine Art Sprechspiel verfällt, ist unklar. Die beiden Figuren werden so herausgehoben und erhalten eine besondere Gewichtung. Harry erhält den näselnden Ton eines Schwulen, Flora wird zur Versinnbildlichung der Schizophrenen. Was zunächst erheitern mag, wirkt in zunehmendem Maße störend. Nicht, weil es nicht gekonnt umgesetzt wäre, sondern weil Liefers bei den anderen Figuren darauf verzichtet, deren Charakterzüge stimmlich zu inszenieren. Der Sprecher arbeitet gerne mit Tempovariationen. Hält der sich Erinnernde inne, so wird auch Liefers' Sprechfluss ruhiger und der Hörer bekommt die Möglichkeit, den Inhalt zu rekapitulieren. Ansonsten behält Jan Josef Liefers ein relativ zügiges Lesetempo bei. Damit vergehen die neun CDs wie im Fluge und mit dem Rauschen der Stereoanlage nach dem letzten Satz stellt sich Enttäuschung beim Hörer ein, der in Jan Josef Liefers' Stimme bereits einen festen Bestandteil seines Alltags erkannte.


Titelbild

Paul Auster: Die Brooklyn-Revue. 9 CD.
Sprecher: Jan Joseph Liefers.
Argon Verlag, Berlin 2006.
572 Minuten, 29,95 EUR.
ISBN-10: 3870244380

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