Einmal mit dem Schicksal auf Augenhöhe sein

Daniel Goetsch legt ein literarisches Kleinod vor

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Am liebsten würdest du das Ganze löschen." Aber braucht es das noch? Im Leben der Protagonisten von Goetschs Romanen ist schon einiges gelöscht. In "X" war der namenslose junge Protagonist ein halbes Jahr lang in Schlafkur. Danach bemüht er sich, das zu finden, was er vorher schon kaum hatte: Anschluss ans Leben seiner Mitmenschen. Nach dem Schlaf ist vor dem Schlaf, nach wie vor gehört er weder zu den Erfolgreichen noch zu den Starken, doch nach der Abwesenheit ist seine Ahnungslosigkeit und Distanziertheit gleichsam objektiv verdichtet. Wer so lange am Leben nur organisch teilnahm, kann der seinen Erinnerungen und den mit ihnen vermischten Wahrnehmungen noch trauen? "Seit ich zurückgekehrt war, erschien mir jede Geste zweideutig [...]. Jedes Lächeln konnte der Anfang einer hämischen Grimasse sein, jeder Blick ein Hinterhalt." Aber nicht Menschen, auch Gegenstände werden trügerisch. "Lauter Dinge" sieht der Namenlose, "die behaupteten, mit mir aufgewachsen zu sein." Wenn nicht komatös, so zumindest verschlafen handeln Goetschs Protagonisten, wie hinter einem Gaze-Schleier stehen sie der Realität gegenüber.

In beiden Romanen finden die Protagonisten etwas heraus. In "X" bemüht sich der Namenlose darum, seine unerwiderte Jugendliebe zu finden, in "Ben Kader" wird Dan geradezu dazu verführt, das Manuskript des autobiografischen Rechenschaftsberichts, die Lebensbeichte seines kranken Vaters zu lesen. Beide staunen über ihre Mitmenschen, bei denen sie nicht wissen, wie sie sich zu ihnen stellen sollen. Verteilen und suchen sie auch arglos Sympathie, so werden sie genauso von Fremdheit und Angst zurückgestoßen. Beide sehen sich einer Organisation respektive einer Gemeinschaft gegenüber, zu der die meisten der Freunde und Bekannten gehören oder zu gehören scheinen. Auch sie selber könnten dazugehören, ein wenig tun sie es schon, aber sie haben sich nie richtig darum bemüht. Deswegen hängen sie nun in der Luft, froh, nicht so zu sein wie die anderen, aber auch verärgert und unglücklich über ihren Zustand - und dann aber auch noch über die eigene Schwäche, diese Unsicherheit nicht aushalten zu können, wenn sie sie schon nicht beenden können.

In "X" arbeiten alle für eine neue Firma, sie 'haben es geschafft'. Aber die Firma scheint mit dem Verschwinden der Jugendliebe zusammenzuhängen, und indem die Freunde aufstiegen, veränderten sie sich auch, wurden gehetzter, ängstlicher und deshalb aggressiver, glatter. In "Ben Kader" realisiert Dan nach und nach, dass nicht alle nur Kultur-Moslems sind wie er, sondern 'richtige', obendrein mit einem Hang zum Extremismus. Ständig wird er gefragt, ob seine Freundin eigentlich Jüdin sei. Man ethnifiziert sich zu 'Arabern', für die die "Reue eine zutiefst europäische Pose ist" und verachtet die Europäer, die - schön wär's - "ohne Sinn für das Schicksal" sind. Einer Diskussion mit dem Wirt seiner Lieblingsbar zu fortgeschrittener Stunde entrinnt Dan nur, indem er immer wieder schwört, dass er kein Zionist sei. Alte Freundschaften funktionieren nicht mehr und neue strategische Bündnisse, die obendrein auf Missverständnissen beruhen, können sich jederzeit zur Bedrohung wandeln.

Nicht allzu häufig, aber eben nicht nur wenn für den Namenlosen der Augenblick kommt, "da ich feststellen musste, dass ich mir ein Stück weit abhanden gekommen war", dann quietscht Goetschs enormes erzählerisches Talent in seinen Schanieren. Nähert er sich gesellschaftlichen Themen - und dies muss er, davon leben seine Romane -, dann wird es fahrig, wirkt Goetsch unentschlossen. Der Namenlose seufzt unter der "Diktatur des Unbelebten", der "totalen Verdinglichung" - ist dies Lebensphilosophie oder Gesellschaftskritik? Und was sollen diese wie Sichtvermerke eingeworfenen theoretischen Stichworte? Dan macht manches Mal die Rationalisierungen des Israel-Hasses seiner 'Brüder' gegenstandslos. Aber wenn er über das Manuskript seines Vaters erfährt, dass ein Ex-Vichy-Kollaborateur bei den Folterungen im algerischen Kolonialkrieg federführend war, will Goetsch dann eine gerade Linie vom Nationalsozialismus zum Kolonialismus ziehen, gar einen Vergleich herstellen? Es wird nicht klar, ob Goetsch sich über seine Protagonisten erhebt. Es ist nicht zu hoffen, und man mag noch viel weniger annehmen, dass Goetsch sie zu Anti-Helden aufbauen möchte. Auch wenn er das nicht sollte, so werden sich immer noch welche finden, die sich mit ihnen identifizieren möchten. Das ist dann ihr Problem.


Titelbild

Daniel Goetsch: X. Roman.
bilgerverlag, Zürich 2004.
159 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3908010667

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Titelbild

Daniel Goetsch: Ben Kader. Roman.
bilgerverlag, Zürich 2006.
255 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3908010810

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