Das Schweigen der Väter

Ute Scheubs biografischer Beitrag zu einer Traumatologie der Täterkinder

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Skandalon des Evangelischen Kirchentages von 1969 in Stuttgart fand bald darauf Eingang in Günter Grass' autobiografisches Buch - der Untertitel 'Roman' jedenfalls fehlt - "Aus dem Leben einer Schnecke": Einer der Besucher schließt seine Wortmeldung mit einem Gruß an seine "Kameraden von der SS", setzt ein Glasfläschchen mit Zyankali an die Lippen und bricht vor aller Augen sterbend zusammen. Es kann heute nicht verwundern, dass sich der auf dem Podium sitzende Günter Grass so sehr von dem Vorfall betroffen zeigte, dass er mit der Familie des Mannes Kontakt aufnahm. Kaum weniger erstaunt es, wie Grass erzählendes Alter ego die Tat empfindet, als Passion, als Opfertod eines Mannes, dessen Typus ihm selbst allzu bekannt ist, eines Mannes, der sich mit einem Befreiungsschlag von einer Schuld lösen will, die seit Jahrzehnten auf ihm lastet: "Ich kannte ihn schon lange. Wir hätten uns in Delmenhorst, Mainz oder Ulm wie zwei alte Bekannte zuzwinkern können. Wenn er nicht auftritt, vermisse ich ihn: ohne Augst fehlt was. Als er auf dem Kirchentag wirklich sprach (und auch handelte), überraschte mich seine Tat nicht: die Einlösung vieler Ankündigungen. Ich kannte die Aufgeregtheit fünfzigjähriger Männer, die alles, aber auch alles in einem einzigen, randvollen Bekenntnis los werden, quitt machen wollen."

Ute Scheub ist die damals dreizehnjährige Tochter des Mannes, der in Grass' Buch Manfred Augst heißt. Auf den ersten Blick bedient sie die Schublade des Tochterbuchs à la Wibke Bruhns und scheint demnach den Anschluss an eine schon verblassende Mode zu suchen, bei der es um die Rekonstruktion der Biografie eines unbekannt gebliebenen Vaters geht - gleichsam eine Familienaufstellung vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der die eigene Genealogie Repräsentanzcharakter annimmt und die Frage nach deutscher Schuld und Verantwortung im familialen Rahmen veranschaulicht und substitutiv ausgetragen wird.

Hatte die Heranwachsende den Tod des schwierigen Vaters als Erleichterung empfunden, so flammt ihre Neugierde auf dessen Person erst durch einen zufälligen Fund auf dem Dachboden des Elternhauses Jahrzehnte später auf. Sie findet geradezu einen schriftlichen Nachlass des Vaters mit Texten, deren Spektrum von verquaster religiös-politischer Programmatik über tagebuchartige Notate bis zum Abschiedsbrief reicht. Mit der Lektüre durch die Tochter nimmt das Scheitern des Vaters, der nach dem Verlust seines nationalsozalistischen Glaubensgrundes 1945 keine Ruhe mehr im Leben fand, nicht mehr nur berufliche oder private Züge an. Es erweist sich auch als das Scheitern eines Mannes, der sich sprachlich nicht oder nur unbeholfen zu artikulieren vermochte, dessen 'Schweigen' oder 'Stammeln' wörtlich zu nehmen ist und nicht nur als Metapher für den Umgang der Tätergeneration mit der eigenen Vergangenheit.

Scheubs Dialog mit dem Vater ist ein intertextuelles Gefecht, das sich die wortgewandte Journalistin mit dem radebrechenden Altnazi liefert. Ihrem Vater nach-denken, das heißt: seine Texte lesen und ihn daraufhin neu verstehen lernen. Seine menschliche Distanz, die Gleichgültigkeit auch der Familie gegenüber, seine Depression und sein fanatisches Christentum werden kenntlich als die Kehrseite des nicht verbalisierbaren Schuldkomplexes, den er an seine Tochter weiterreichte. Scheubs Vater wäre ein ideales Studienobjekt für den Mythologien-Switch, der sich unmittelbar nach 1945 vollzog, als vielen gläubigen Nationalsozialisten die Konversion zu einem muffigen, sittenstrengen Christentum gelang. Kein Wunder, dass "Manfred Augst" in studentenbewegten Zeiten auch in seiner sich dem Neuen öffnenden Kirche nicht mehr heimisch war. Sein Selbstmord ereignete sich im Zeichen einer Epochenschwelle, von der an das Schweigen nicht mehr probat, zumindest nicht mehr selbstverständlich war. Es sollte ausgerechnet der Stuttgarter Kirchentag sein, auf dem der Abkömmling wortkarger und obrigkeitsgläubiger schwäbischer Pietisten sich entschloss, sein Schweigen zu brechen und zugleich zur Tat zu schreiten.

Scheubs Sprache zeugt von emotionaler Bewegtheit, sie versucht Selbsterfahrung und -beobachtung so explizit wie möglich zu machen: Der Tochter gelingt das, was dem Vater versagt war, nämlich Intimität zu kommunizieren. Gewiss: es handelt sich hier nicht um eine Biografie, sondern um einen Beschwörungsversuch; der tote Vater möge endlich seine Geheimnisse preisgeben. Wo Zeugnisse fehlen, geht die Einbildungskraft manchmal mit der Autorin durch, versucht sie sich die Ekstasen des später so spröden Jungnazis vorzustellen und lässt ihrem Hass freien Lauf.

Die eigentliche Problematik des überaus lesenswerten Buches liegt dort, wo Ute Scheub aus der Familienperspektive heraus den Nationalsozialismus als sozialpsychologisches Phänomen restlos zu erklären versucht, wenngleich sie sich mit ihrem psychoanalytischen und besonders traumatologischen Wissen von den naiveren ProtagonistInnen der Vatersuche wohltuend abhebt. Zugleich aber handelt dieses Buch, ohne es ganz deutlich auszusprechen, nicht nur vom Psychogramm eines Täters, sondern auch von den Traumata eines Täterkindes, das zum Opfer geworden ist: "Auch ich habe mich an die Lehrbücher der Psychoanalyse gehalten und die Symptome ausgebildet, die Tätertöchter ausbilden: Schuldgefühle. Hass auf den Vater. Autoaggression. Ängste, ungreifbar wie wabernde Nebelschwaden. Das Gefühl, ein Nichts zu sein. Unwertes Leben zu sein. Bindungsängste. Männerangst und Männerhass."

"Wie ein Verrückter" hatte ihr Vater Texte produziert, die Jahrzehnte verborgen geblieben waren - in einem intertextuellen Vater-Tochter-Dialog wiederholt Scheub nun den Versuch des Vaters, sich Schuldgefühle von der Seele zu schreiben. In ihrem eindrucksvollen Buch legt sie Zeugnis ab von der therapeutischen Kraft eines Schreibens, das mangelndes Urvertrauen und "eingesargte Lebensgefühle" zu kompensieren versucht. Es muss freilich offen bleiben, ob tatsächlich zwei Drittel aller Deutschen nach 1945 traumatisiert waren und ihre Traumata an ihre Kinder und Enkel weitergaben. Der Leser bleibt am Ende aufgefordert, die eigene Familiengeschichte neu zu durchdenken.


Titelbild

Ute Scheub: Das falsche Leben. Eine Vatersuche.
Piper Verlag, München 2006.
304 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3492048390

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