Konkurrierende Strömungen

Rainer Baasners "Einführung in die Literatur der Aufklärung"

Von Andreas KorpásRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Korpás

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe "Einführungen Germanistik" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt ist 2006 eine "Einführung in die Literatur der Aufklärung" erschienen. Ihr Autor ist Rainer Baasner, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Rostock mit dem recht seltenen Arbeitsgebiet "Hypertext-Informationssysteme". Rainer Baasner ist Mitherausgeber zweier 1998 und 1999 unter den Titeln "Aufklärung und Empfindsamkeit" und "Sturm und Drang. Klassik" bei Reclam in Stuttgart erschienener CD-ROMs. Gemeinsam mit Thomas Anz hat er 2004 den Band "Literaturkritik. Geschichte - Theorie - Praxis" herausgegeben.

Die "Einführung in die Literatur der Aufklärung" behandelt überblicksartig die gesamte Epoche von den Anfängen um 1690 bis zu ihrem Ende um 1800. Einer Einführung angemessen wird die Übersicht mit "Epochenbegriff" und "Epochenstruktur" eingeleitet. Baasner übernimmt die etablierte Einteilung in Frühaufklärung (1690-1730), Hochaufklärung (1730-1770) und Spätaufklärung (1770- nach 1800). Der Leser wird zunächst mit den "Grundideen der Aufklärung" ("Universalität", "Vernunft", "Naturbegriff", "Wahrheit", "Öffentlichkeit", "Kritik" etc.) vertraut gemacht. Auch zur philosophischen Aufklärung (Stichworte: "Selbstdenken", "Optimismus", "Maßstab Mensch", "Perfektibilität", "Skepsis") finden sich knapp umrissene Erläuterungen. Im zweiten Punkt der "Einführung in die Literatur der Aufklärung" erscheint ein knapper "Forschungsbericht", der in einer ernüchternden Feststellung kulminiert: "Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts [...] sind die Zeiten einer lebhaften Aufklärungsforschung vorbei." Das "vorläufige Innehalten" kennzeichne die gegenwärtige Auseinandersetzung der germanistischen Literaturwissenschaft mit ihrem Gegenstand, der Literatur der Aufklärung.

Der Band nähert sich von den äußeren Rahmenbedingungen ("Staat und Gesellschaft", "Kindheit, Schule und Bildung") der sozialen Wirklichkeit der Aufklärer, die sich als "Gelehrter Stand" an den Universitäten und in den neu entstehenden Wissenschaftlichen Akademien wiederfinden. Das "Verhältnis der Geschlechter" wird von Baasner ebenso thematisiert wie die "Religion im Aufklärungszeitalter", die unter den Stichwörtern "Konfessionalität", "Theologie", "Physikotheologie", "Pietismus", "Selbstbeobachtung" und "Säkularisierung" behandelt wird.

Die großen philosophischen Diskussionen der Epoche werden in äußerst knapper Form präsentiert. Kann die Aufklärung überhaupt als einheitliche Epoche betrachtet werden? Allein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts steht sie in "Konkurrenz" zu vier literarischen Epochen - Empfindsamkeit (ab ca. 1750), Sturm und Drang (ab ca. 1770), Klassik (ab ca. 1786) und Frühromantik (ab ca. 1790), wobei Empfindsamkeit und Sturm und Drang mitunter auch als Strömungen innerhalb der Aufklärungsliteratur betrachtet werden. Während die Autoren der Frühaufklärung sich noch mit dem Erbe des Barock auseinandersetzen und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen, kann die literarische Hochaufklärung schon eigene Wegmarken setzen, die insbesondere in der Schaffung von Grundlagen für die kommenden Schriftstellergenerationen bestehen. Johann Christoph Gottscheds "Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen" (1730) bildet die wichtigste Regelpoetik des gesamten Jahrhunderts. Eine Charakterisierung der Spätaufklärung fällt erheblich schwerer. Sie "lässt sich", laut Baasner, "weniger an einem eigenen konstitutiven Ereignis festmachen als am Auftreten der erwähnten konkurrierenden literarischen Strömungen." Es "wird für die Zeitgenossen selbst erkennbar, dass das ehedem zuversichtlich betriebene Projekt 'Aufklärung' an Grenzen stößt."

Einen bedeutenden Beitrag widmet der Autor dem Komplex der "Religion im Aufklärungszeitalter". Es lässt sich, ihm zufolge, eine parallele Entwicklung zwischen geistiger Innovation und protestantischer Konfession konstatieren. Es ist auch die Zeit eines wichtigen Umwälzungsprozesses und großer Veränderungen innerhalb der Theologie: "Es ist jedoch besonders die Theologie der Lutheraner, die im Laufe des 18. Jahrhunderts durch aufklärerische Einflüsse belebt wird und selbst Aufklärung befördert. Die Rezeption der Wolffischen Philosophie in diesem Fach ist wesentlicher Beitrag dafür, dass Teile der Theologie ihre eigene Tradition brechen und sich letztlich der Philosophie unterordnen", schreibt Baasner.

Genannt werden wichtige Entwicklungen und Strömungen innerhalb des Protestantismus wie die "Physikotheologie", also die Verbindung der neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen mit dem Glauben an einen perfekt planenden Schöpfer, und der Pietismus, einer vor allem im 18. Jahrhundert in ihrer Bedeutung für die deutsche Geistesgeschichte kaum zu überschätzenden verinnerlichenden Richtung innerhalb des Protestantismus. Die Zentren des Pietismus sind der Südwesten Deutschlands und die Universität Halle. Diese Entwicklung einer Individualisierung der religiösen Praxis geht einher mit einer gesamtgesellschaftlich zu beobachtenden "Säkularisierung" in Deutschland. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, darin einen "Sieg" der Aufklärung zu sehen, denn ihr kam es gerade nicht auf eine Beseitigung der religiösen Praxis an, sondern auf eine Untermauerung der Theologie mit den Formeln der Vernunft. Gegen eine vernünftige Theologie könnte argumentatorisch nicht mehr vorgegangen werden, sie hätte den Sieg gegen alle Angriffe davongetragen. Der Angriff Kants richtet sich gegen eine blinde Religion, welche die Vernunft auszuschalten sucht, indem sie den Glauben an ihre Stelle setzt. Ob allerdings eine "vernünftige Religion" noch Religion genannt werden kann, darüber lässt sich trefflich streiten.

Eine für das Aufklärungszeitalter besonders dramatische Veränderung betrifft die rasante Entwicklung des deutschsprachigen Lesepublikums und des Buchmarktes. Deutlich wird die Veränderung durch die Entwicklung des Leseverhaltens. Zeichneten sich um 1700 noch über 44% aller verkauften Bücher durch einen religiösen Inhalt aus, schrumpfte dieser Anteil bis 1800 auf 6%. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der "Schönen Literatur" von 3% auf 26%. Zugleich ist ein Anwachsen der lesefähigen Bevölkerung im Vergleichszeitraum von 10% auf 50% festzustellen. Dadurch erst wird das Berufsbild des Schriftstellers möglich, wobei eine auf das Schreiben allein gegründete Existenz einem ökonomischen Experiment glich, welches in der Mehrzahl aller Fälle zum Scheitern verurteilt war. Bis auf wenige Ausnahmen schrieben selbst die prominenteren der Aufklärungsliteraten ausschließlich in ihren freien Stunden. Erst ab etwa 1750 setzten sich Autorenhonorare durch, obwohl es für Verleger und Buchhändler noch keineswegs selbstverständlich war, Autoren zu entlohnen.

Die erfolgreiche Kommerzialisierung des Buchmarktes wird durch den rasanten Anstieg der jährlichen Neuerscheinungen von 27 (1700) auf 1066 (1800) besonders eindrucksvoll belegt. Baasner fokussiert in seinem Band auf diese Entwicklung und verweist dabei auf eine parallele Entwicklung der Zeitungs- und Zeitschriftenkultur. So genannte "Moralische Wochenschriften" bestimmen die Zeitungslandschaft der Frühaufklärung und finden ein immer größeres Lesepublikum. Die bekanntesten unter ihnen sind "Die Discourse der Mahlern" (1721-1722), "Die vernünftigen Tadlerinnen" (1725-1726) und "Der Biedermann, eine moralische Wochenschrift" (1727-1729). In der Spätaufklärung erregt vor allem der "Teutsche Merkur" (1773-1789; ab 1790-1810 "Der Neue Teutsche Merkur") Christoph Martin Wielands das Interesse des Publikums. Der "Merkur" druckt in regelmäßiger Folge Romane, insbesondere des Herausgebers, ab. Mit der Entwicklung des Buch- und Zeitungsmarktes einher geht die Entwicklung einer ausgesprochenen Briefkultur. Fremde Länder und deren Bewohner fesseln das Interesse. Das Genre der "Reiseliteratur" befriedigt das Bedürfnis nach Exotik.

In größerem Umfang wendet sich die "Einführung in die Literatur der Aufklärung" unter Punkt IV ("Aspekte und Geschichte der Literatur") den "Voraussetzungen und Ziele[n] der literarischen Aufklärung" zu. Erst unter Punkt IV.4 ("Literarische Gattungen in ihrer Entwicklung") erreicht sie den Kernbereich des Literarischen. Der Autor nennt typische Gestaltungsformen der Literatur der Aufklärung - Didaktische Dichtung ("Lehrgedichte", "Physikotheologische Naturbeschreibung", "Säkulare Lehrgedichte", "Fabel", "Äsopische Fabel" und so weiter), Lyrik ("Casualpoesie", "Ode", "Artifizielle Ode", "Gesellige Ode", "Empfindsame Naturlyrik" etc.), Drama ("Tragödie", "Bürgerliches Trauerspiel", "Komödie", "Rührende Komödie"), Versepik und Erzählprosa ("Epos", "Epyllion", "Idylle", "Galanter/Höfischer Roman", "Robinsonade", "Empfindsamer Roman" und "Psychologischer Roman"). Bemerkenswert ist die Feststellung, welche Baasner für die Lyrik des 18. Jahrhunderts trifft: "So sollte der Terminus 'Lyrik' keineswegs von der Frühaufklärung an zur Bezeichnung von Gedichten verwendet werden. [...] Lyrisches, im heutigen Sinne zu verstehen als Darstellung individueller Empfindungen, wird erst spät im Laufe des 18. Jahrhunderts möglich, seine Herausbildung gehört zu den zentralen Entwicklungsprozessen der Gattung 'Gedicht'."

Gleichfalls bilden sich bedeutende Neuerungen im Bereich des Theaters heraus. So bewegt sich die neue Richtung zwischen "experimentelle[n] Ästhetisierungen" und "nivellierende[n] Trivialisierungen", womit auf das Bedürfnis eines sich verändernden Publikums reagiert wird. Diese bedeutende Richtung der Literatur des 18. Jahrhunderts, welche heute unter dem Begriff der Trivialliteratur abgehandelt wird, findet in kaum einer Literaturgeschichte größeren Raum. Die bis heute lebendigen Dramen Lessings waren wohl einem eher überschaubarem Publikum zugänglich. Das Theater beginnt sich von der Vagantenbühne hin zur institutionalisierten Schauspielbühne zu entwickeln. Auch wenn wandernde Theatertruppen in der Regel die permanenten Theater bespielen, bedeutet doch ein fester Spielplan und häufige Aufführungen einen enormen Entwicklungsschub für die Dramatik der Aufklärung. Das erzieherische Ideal kann hier am direktesten verwirklicht werden - das Theater ist der zentrale Ort der Aufklärungsliteratur.

Die "Einführung in die Literatur der Aufklärung" beschließt Rainer Baasner mit sechs Einzelanalysen sehr unterschiedlicher Werke. Es handelt sich dabei um Johann Elias Schlegels "Die stumme Schönheit", Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti", Barthold Hinrich Brockes "Kirschblüte bei der Nacht", Albrecht von Haller "Die Alpen", Friedrich Gottlieb Klopstocks "Die Welten" und Christian Fürchtegott Gellerts "Leben der schwedischen Gräfin von G***". Während Schlegels Komödie in Vergessenheit geraten ist, werden Lessings Dramen noch heute auf allen deutsprachigen Bühnen gespielt. Im 18. Jahrhundert wurden die Dramen Schlegels und Lessings noch als durchaus gleichwertig betrachtet. J. E. Schlegels Komödientheorie setzte sich bewusst in Konflikt zu den gültigen Vorgaben für die Dramatik. Die Komödie soll, nach Schlegel, nicht auf die mittlere Stillage beschränkt bleiben. Die dramatischen Kategorien sollen gleichermaßen in der Tragödie und in der Komödie Anwendung finden.

Als typisches aufklärerisches Lehrgedicht wird Brockes "Kirschblüte bei der Nacht" vorgestellt. Dieses Gedicht entstammt der Sammlung "Irdisches Vergnügen in GOTT" (1721-1748). Wie der Titel bereits ankündigt, sind die Gedichte als Lobpreis Gottes und seiner vollendeten Schöpfung angelegt. Die Gedanken sind von den Schriften William Derhams und der englischen Physikotheologie beeinflusst. In einem anderen Kontext erscheint das Lehrgedicht des Schweizer Mediziners und Dichters Albrecht von Hallers. Es enthält bereits die später von Rousseau vorgetragene Zivilisationskritik und beschreibt die Natur als Plattform utopischer Projektionen. Klopstocks Spätwerk "Die Welten" gehört zwar in den Kontext aufklärerischer Lyrik, liest sich jedoch durch seinen experimentellen Charakter überaus modern. Die Einführung der freien Rhythmen in die deutsche Lyrik gehört zu Klopstocks bleibenden Innovationen. Das Übermaß an Gefühlsausdrücken und der artifizielle Stil teilte bereits zu Lebzeiten das Lager seiner Leser in vehemente Kritiker und ausgesprochene Fans. Christian Fürchtegott Gellerts Roman "Leben der schwedischen Gräfin von G***" (1747-1748) steht im Mittelpunkt der letzten Einzelanalyse. Dieser Roman zeigt eine neue Erzählhaltung, die vom Ich-Erzähler des Pikaro-Romans und von der gleichfalls gebräuchlichen auktorialen Erzählhaltung abweicht. Im "Leben der schwedischen Gräfin von G***" präsentiert Gellert eine Ich-Erzählerin, die in empfindsamer Manier berichtet. Der Roman besteht zu einem großen Teil aus Briefen, weshalb er, Baasner zufolge, auch als erster deutschsprachiger Briefroman bezeichnet werden kann. Ein Merkmal der aufkeimenden empfindsamen Literatur ist die direkte Belohnung tugendhaften Verhaltens durch einen Zuwachs an Reichtum. Dieses Glück wird der schwedischen Gräfin zuteil.

Die Reihe "Einführungen Germanistik" hat mit der "Einführung in die Literatur der Aufklärung" eine notwendige und wichtige Ergänzung gefunden. Dem Autor ist ein gut lesbarer und alle wesentlichen Informationen zur Literatur der Aufklärung enthaltender Band gelungen, der sich besonders gut für eine erste Auseinandersetzung mit der Epoche, als Begleitung für das Studium oder auch zur Vorbereitung auf Prüfungen eignet. Besonders lobenswert zu erwähnen ist die kommentierte Bibliografie, die sowohl Quellentexte als auch eine größere Zahl an Fachliteratur bereithält, wohlgeordnet nach Standardwerken zum Thema und weitergehender Literatur. Der Band wird sich ohne Zweifel, auch auf Grund seines günstigen Preises, in vielen Regalen gegenwärtiger und zukünftiger Studenten der germanistischen Literaturwissenschaft wiederfinden.


Titelbild

Rainer Baasner: Einführung in die Literatur der Aufklärung.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2006.
156 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 353416900X

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