Grundlagen, Epochenüberblick und zentrale Diskurse

Ein neues Lehrbuch zur Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters

Von Daniel KönitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Könitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das von Dorothea Klein vorgelegte Lehrbuch "Mittelalter" besteht hauptsächlich aus drei Teilen, in denen sich die Autorin zunächst den kulturellen und medialen Voraussetzungen der mittelalterlichen deutschen Literatur zuwendet, dann deren Epochen im einzelnen beleuchtet, bevor sie schließlich im dritten Teil gesellschaftlich-kulturelle Themen und Diskurse vorstellt, die sich werk- und gattungsübergreifend in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters entwickelt haben.

Im Mittelpunkt des ersten Teils stehen die "Grundlagen und Verständnisperspektiven" der deutschen Literatur des Mittelalters. Nach einer anfänglichen abgrenzenden Definition der Begriffe "Mittelalter", "deutsch" und "Literatur" und der Gegenüberstellung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Mittelalter geht Klein auf die beiden wichtigen Kulturtransfers des Mittelalters ein. Zuerst auf den Übergang vom Lateinischen zum Deutschen, der sich durch vereinzelte deutsche Texte bereits in den Tagen Karls des Großen angekündigt hat. "Der lateinisch-deutsche Kulturtransfer betraf nahezu alle Ebenen des literarischen Systems: Sprache, Themen und Inhalte, Überlieferung, Lebens- und Gebrauchssituationen, Rhetorik und Poetik, hermeneutische Denkfiguren und Verfahren." Von einer Ablösung des Lateinischen und der lateinischen Literatur könne dennoch nicht die Rede sein, da sie proportional mit dem Zuwachs des volkssprachlichen Schrifttums ebenfalls gestiegen sei. Ihre "Dominanz" blieb bis in die Frühe Neuzeit nahezu unverändert.

Der zweite Kulturtransfer, der wesentlichen Einfluss auf die deutsche Literatur des Mittelalters genommen hat, war jener zwischen dem romanischen und dem deutschen Sprachraum. Auf der Ebene der Literatur lassen sich der Einfluss und die interkulturelle Vernetzung besonders gut anhand der Hauptgattungen der höfischen Zeit (Lyrik und höfischer Roman) beobachten. Allem voran - so die Autorin - ließen sich bei den "Liederdichtern der zweiten Generation" (Heinrich von Veldeke, Friedrich von Hausen) die Einflüsse des romanischen Minnesangs am deutlichsten ausmachen. Von "noch größerer Bedeutung" sei jedoch die um 1150/60 in der deutschen Literatur des Mittelalters einsetzende Adaption der französischen Erzählliteratur gewesen, die in den Werken Heinrichs von Veldeke, Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach ihren literarischen Höhepunkt erreichte. Doch nicht nur auf der Ebene der Literatur lässt sich der Einfluss der französischenKultur feststellen. Auch gesellschaftliche, soziale und kulturelle Errungenschaften und Bräuche wurden angenommen und deren französische Bezeichnungen gleich mit. Das habe zu einer Vielzahl von Lehnwörtern innerhalb der deutschen Sprache geführt, die sich auch mitunter in großer Anzahl in Werken wie beispielsweise dem "Parzival" Wolframs von Eschenbach wiederfänden.

Neben diesen grundlegenden Voraussetzungen für das Verständnis der deutschen Literatur des Mittelalters geht Dorothea Klein in diesem ersten Teil des Buches auch noch auf die "Bedingungen der literarischen Kommunikation" (literarische Zentren, Gönner und Auftraggeber, Autoren, Publikum und Überlieferung von Literatur) sowie unter der Überschrift "Vers und Prosa" auf die Bedeutung der mittelalterlichen Dichtung als Formkunst und den letztlichen Durchbruch der Prosa ein.

Auf die "Grundlagen" folgt der Abschnitt "Das Mittelalter als Literaturepoche". Hier liefert die Autorin einen guten Überblick über die einzelnen Epochen der mittelalterlichen deutschen Literatur. Nachdem anhand der unterschiedlichen Gliederungen der einschlägigen Literaturgeschichten auf die allgemeinen Probleme und Unterschiede der literaturgeschichtlichen Periodisierung und Binnengliederung hingewiesen wurde, favorisiert Klein den Zeitraum für die deutsche Literatur des Mittelalters von der Mitte des 8. Jahrhunderts (750/60) bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts (1500/20). Damit schließt sie sich der gemeinhin gängigen Forschungsmeinung an. "Was die Binnengliederung angeht, so unterscheidet man üblicherweise und in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Historiker drei Epochen, die weiter untergliedert werden können: die Literatur der frühen, des hohen und des späten Mittelalters." Bei der Epochengrenze für die Literatur der höfischen Klassik - deren Beginn unstrittig auf die Jahre 1160/70 datiert wird - gibt Klein "dem frühen Zeitansatz von 1220/30 den Vorzug" und nicht der ebenfalls vertretbaren Grenze um 1300/20. Damit wolle sie den literarischen Neuerungen des beginnenden 13. Jahrhunderts (stärkere Verschriftlichung der Volkssprache, neue Gattungstraditionen) ausreichend Gewicht zumessen.

Die Epochenkapitel sind weitestgehend identisch aufgebaut: Der detaillierten Beschäftigung mit den in der jeweiligen Zeit vorherrschenden literarischen Strömungen und Gattungen geht eine Beleuchtung der wichtigsten "Voraussetzungen und Grundzüge" der jeweiligen Epoche voraus.

Der dritte und letzte Hauptabschnitt des Buches konzentriert sich auf "sich jenseits einzelner Texte und Gattungen entfaltende Themen", wie zum Beispiel die Diskussion adliger Lebensentwürfe in den narrativen Großformen, das durch alle literarische Formen beobachtbare Interesse an der Geschichte oder aber auch der Diskurs über Sterben und Tod. Die einzelnen für die deutsche Literatur des Mittelalters zentralen Aspekte werden dann ausführlich in verschiedenen Einzelwerken überprüft und durchgespielt.

Das zum Schluss des Buches präsentierte Literaturverzeichnis kommt erfreulich kompakt und übersichtlich daher. Dies ist zum größten Teil dem guten Einfall der Autorin geschuldet, die einschlägige Literatur dem jeweiligen Kapitel direkt anzuschließen. So wird dem Leser umständliches Blättern und Suchen erspart. Das Schlussverzeichnis beschränkt sich somit lediglich auf Nachschlagewerke, Handbücher und Standard- und Grundlagenwerke. In erster Linie müssen die Literaturangaben als weiterführende Hinweise und nicht als vollständige Auflistung verstanden werden. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Autorin bei der Zusammenstellung der Literaturangaben die eine oder andere in den letzten Jahren erschienene Neuauflage entgangen ist.

Der Verzicht auf Fußnoten, die für den Lesefluss einer solchen Einführung häufig eher von Nachteil sind, fällt positiv auf. Die wenigen Fälle, in denen sekundäre Quellen zitiert werden, finden sich in den Haupttext integriert. Nicht ausreichend ist in diesem Zusammenhang allerdings die Angabe der Person als einzige Referenz. Diese lässt sich zwar in den jeweiligen Literaturangaben leicht zuordnen, jedoch ist ein Nachschlagen des angeführten Zitats ohne konkrete Angabe der Seitenzahl mit unnötig großem Aufwand verbunden.

Abschließend sei noch das Fehlen eines Begriffsindexes bedauert. Gemessen an der großen Anzahl literaturwissenschaftlicher und mediävistischer Begriffe und Fremdwörter, die in dem Lehrbuch erwähnt und zum größten Teil auch erläutert werden ("Gnomik", "Peripetie", "panegyrisch" wurden beispielsweise nicht für erklärungsbedürftig angesehen), wäre dem Leser mit einem solchen Register - ähnlich wie es für die Namen und Werktitel gemacht wurde - ein gutes Nachschlageinstrument an die Hand gegeben worden.

Es bleibt ein "Lehrbuch Germanistik" zur deutschen Literatur des Mittelalters, das den angestrebten "pragmatischen Versuch", Grundlagen vermitteln zu wollen, erfolgreich gemeistert hat und dabei die Entwicklungen auf der literarischen Ebene immer auch mit den gesellschaftlich-kulturellen Geschehnisse dieser Zeit in Beziehung gesetzt hat. Eine inhaltlich gut gegliederte Struktur und sprachliche Klarheit empfehlen dem interessierten Leser dieses Buch zur Lektüre.


Titelbild

Dorothea Klein: Mittelalter. Lehrbuch Germanistik.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2006.
318 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3476019683

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