Von der Masse zur Avantgarde

Thomas Heckens Arbeit am Weinberg der Populärkultur

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Karriere der Populärkultur in den Wissenschaften hat in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen. Endlich, so scheint es, nehmen auch die seriösen Textwissenschaften, ja sogar die sonst so gemächliche Germanistik, wahr, dass sich außerhalb des Kanons von Goethe bis Mann etwas bewegt, dem sie mit ihren Instrumentarien kaum beizukommen ist, so schnell und so wendig ist das Phänomen, und am Ende auch noch so einflussreich. Es sind vor allem jüngere Literaturwissenschaftler, die sich dem Phänomen widmen, nicht zuletzt weil sie mit ihm unbefangener und zugleich souveräner umzugehen verstehen als ihre Lehrer. Die nämlich haben zwar oft genug der Populärkultur zum selbstverständlichen Durchbruch geholfen, indem auch sie ihre Lebenspraxis umgestellt und neu ausgerichtet haben: Jeans, Popmusik, selbst entwickelte Lebensstile, ja eine Zeit lang sogar die langen Haare und die Verweigerung jeder Kooperation mit dem Establishment bis hin zum zivilen Ungehorsam der Bürgerinitiativen der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. All das gehört in Summe zu den lebensweltlichen Schätzen, die diese, die ältere Generation, angehäuft hat. Allerdings hatte sie zugleich das Denkparadigma der Kritischen Theorie mitzuschleifen, mit dem nicht das Befreiungspotenzial der populären Kultur gesehen wurde, sondern sie nur als weitere Selbstentfremdungsschleife des Systems gegeißelt und entsprechend miserabel benotet wurde.

Keine Frage, die Nachmittagsformate der TV-Kultur, der Verfall der Radiokultur, die kreischenden Horden der juvenilen Fankulturen, die Selbstentblößung des White Trash, ja sogar die Medialisierung der Hochkultur bestätigen im Wesentlichen diese Sicht auf die Welt. Allerdings erlauben sich jüngere Wissenschaftler ein wenig mehr Offenheit, wenn nicht Entspanntheit, wenn es um solche Phänomene geht. Die Priorität der Hochkultur verliert bei ihnen, trotz des Rollbacks in Richtung Kanon und Kernfachgermanistik an den Universitäten, an Verbindlichkeit. Goethe, Schiller, Herder, Thomas Mann, Bertolt Brecht und Kolleginnen und Kollegen bleiben zwar immer noch ihre bevorzugten Untersuchungsobjekte. Aber daneben rücken mehr und mehr auch Themen, die bis dahin das Malum des Trivialen, Seriellen, Industriellen, Geschmack- wie Geistlosen zu tragen hatten. Das wird begleitet von literarischen Phänomenen, die aus der Jugendkultur quasi durch den Dienstboteneingang Zugang zur Hochkultur und damit -literatur finden: Rap und Poetry Slam zum Beispiel. Die Pop- und Massenkultur lässt auf einmal deutsche Professorinnen und Professoren nicht mehr nur wegen ihrer geringen Qualität die Schauder über den Rücken laufen.

Thomas Hecken gehört zu diesen jüngeren Literaturwissenschaftlern, die die Konjunktur des Populären vorantreiben, nun mit einer Studie, die er ganz steinschwer "Populäre Kultur" nennt. Dass es sich hier nicht nur um ein leichtes Genre handelt, hat er mit zwei früheren Studien gezeigt, in denen er den Zusammenhang zwischen den politischen, populären und künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts diskutiert hat. Hier nun, in "Populäre Kultur" geht er grundsätzlich vor, soll heißen, er diskutiert die Grenzen und Übergänge des Populären zum Gediegenen, also die Abgrenzungen von Hoch- zu Massenkultur. Er geht dabei in einem Dreischritt vor: Im ersten diskutiert er das Verhältnis des Reizes, der in der Populärkultur eine zentrale Rolle spielt, zur Kunst (und zwar in ihrer Kritik wie Affirmation). Im zweiten referiert er die Stimmen der wichtigsten Kulturkritiker seit dem 18. Jahrhundert, soweit sie das Verhältnis von Volk, Masse und Kultur, eben auch Populärkultur diskutiert haben. Schließlich wiegt er das Verhältnis der Populärkultur zu dem Phänomen ab, das zumindest in seiner Wahrnehmung parallel aufgebaut worden ist, zur Demokratie. In beiden nämlich, in den Hitlisten der Populärkultur und den Wählerlisten der demokratischen Gesellschaften, werde eine Wahl getroffen, in der aus der Menge des Wählbaren das gekürt werde, das an der Spitze zu stehen habe.

Inwieweit beides freilich wirklich vergleichbar ist und vor allem was das denn zu bedeuten hat, lässt Hecken merkwürdig in der Schwebe. Darin ist vielleicht bei aller Kundigkeit seiner Darstellung deren Manko gleich mitgeliefert. Hecken folgt den Linien der Diskussionen und Stellungnahmen mit großer Umsicht und Konsequenz. Allerdings verdeckt er dabei seine eigene Position bis zur Unsichtbarkeit. Das wird auch in seinem Zusatzteil über Girl und Popkultur erkennbar, in dem er zwar eine Linie von den Keun'schen Figuren à la Gilgi und Doris bis zu den Groupies der sechziger Jahre und den Mädchen der Gegenwart zieht. Am Schluss dieses Abschnitts bewertet er auch - und das ist beinahe unverhofft - die individualistische Leistungsethik, die zu den Konzepten, die hinter diesen Figuren stehen, gehören. Aber die gesamte Abhandlung lässt eine These schmerzlich vermissen. Denken wir das nur exemplarisch: Wenn es so ist, dass die Girls und Groupies letztlich auf eine individuelle Leistungsethik setzen und die Prämisse setzen, dass der/die Einzelne sich auf seine/ihre eigenen Kräfte verlassen muss, dann lässt das auf ein Realitäts- und Gesellschaftsverständnis schließen, das weitere Frage aufwirft. Auch Heckens Eingangsstatement, dass nämlich die Kritik des Bildungsbürgers an der demokratischen Wahl darauf beruht, dass mit ihr auch der Ungebildete Einfluss hat, eröffnet Fragen, die Hecken aber unberührt lässt, nämlich zum Beispiel die nach dem historischen Profil des Bildungsbürgers und seiner Modifikation im 19. und 20. Jahrhundert.

Hinzu kommt, dass es eigentlich nur für einen im bildungsbürgerlichen Vorzeigeberuf Literaturwissenschaft tätigen Menschen von Interesse ist, was denn nun gerade diese relativ kleine und, wie zu hören ist, mittlerweile verschwundene soziale Gruppe zur demokratischen Wahl denkt. Es ließe sich also auch darüber nachdenken, inwieweit nicht gerade die kulturkritische Perspektive auf die Popkultur, die Hecken - beinahe notgedrungen - in seiner Abhandlungen präsentiert, den Zugang zu den wesentlichen Funktionen dieses kulturellen Segments verstellt. Wenn immer nur vor Augen geführt wird, dass die Segnungen der Popkultur eigentlich nur affirmativen Zwecken dienen können, also dem System oder wie man es auch immer nennen will, dann bleibt von seinen emanzipativen Potenzialen am Ende nichts. Dann bleiben wir allerdings auch immer (ob mit U- oder E-Kultur ist dann gleich) im Hamsterrad der gesellschaftlichen Funktionalisierung und Entfremdung gefangen. Dann gibt es kein gelungenes Leben im falschen, egal welche Einrichtung man auch wählt, welchen Kleidungsstil oder welche Musik.


Titelbild

Thomas Hecken: Populäre Kultur. Mit einem Anhang "Girl und Popkultur".
Posth Verlag, Bochum 2006.
215 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3981081412

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