Brennpunkt Nordossetien

Julia Jusik lässt die Opfer der Tragödie von Beslan zu Wort kommen

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beslan, eine russische Kleinstadt in Nordossetien, dominierte in den ersten Septembertagen 2004 die weltweiten Nachrichtensendungen. Terroristen hatten dort am 1. September, dem traditionellen Schulbeginn in ganz Russland, die Mittelschule Nr. 1 besetzt und mehr als Tausend Geiseln genommen. Am 3. September stürmten russische Spezialeinheiten die Schule und beendeten die Geiselnahme. Mehr als 300 Tote waren zu beklagen, darunter nach offiziellen Angaben 186 Kinder. Bis heute existieren zahlreiche Widersprüche, was den Ablauf der Ereignisse anbelangt.

"Beslan ist in die Geschichte der Menschheit eingegangen. In unser aller Geschichte, die Geschichte der Gefühle. Im Angesicht des Terrorismus, dieser neuen Abart des Krieges, offenbart der Mensch, der im Moment des Ausbruchs am Rande des Geschehens steht, mit erschütternder Klarheit, wie tief er moralisch sinken und wie hoch er emporsteigen kann", schreibt Julia Jusik im Nachwort ihrer Reportage über die Geiselnahme von Beslan. Jusik ist eine junge russische Journalistin, Jahrgang 1981, die bereits mit ihrem ersten Buch "Die Bräute Allahs" für Aufsehen sorgte. Sie berichtete darin über die Hintergründe der sogenannten "Schwarzen Witwen", den gefürchteten tschetschenischen Selbstmordattentäterinnen. Persönlich bewegt von der Frage, was diese junge Frauen zu ihren Taten antreibt, recherchierte Jusik inkognito drei Monate vor Ort. Mit ihrer Recherche entlarvte sie unter anderem eine weit verbreitete Ansicht als einen Mythos: Die Mehrzahl der "Schwarzen Witwen" sprengten sich nicht selbst in die Luft - ihre Sprengstoffgürtel wurden von Männern ferngezündet. Nicht religiöser Fundamentalismus bewege diese Frauen, so Jusik in einem Interview, die wahren Motive würden "Liebe, Drogen, Gewalt" heißen. In Russland erschien ihr brisantes Buch bei einem Kleinverlag, der Vertrieb wurde behindert, und es gab von Staatsseite Vorwürfe, Jusik würde den Terrorismus rechtfertigen. In einem Interview mit der "Berliner Zeitung" sagte sie Anfang 2005, dass sie "am liebsten ein Buch über Beslan und seine Hintergründe" schreiben würde. Obwohl sie im selben Interview in Anbetracht der fragwürdigen journalistischen Freiheit in Russland zugibt, Angst zu haben, hat sie dieses Buch jetzt geschrieben. In ihrer zweiten großen Reportage "Die Schule von Beslan. Das Wörterbuch des Schreckens" wendet sich Jusik unmissverständlich den Terroropfern zu.

Vor Ort führte die Journalistin mehr als 100 Interviews mit Opfern der Geiselnahme von Beslan. Sie sprach mit Kindern, Jugendlichen, Vätern und Müttern, Bestattungsunternehmern - "Kiefern wachsen in Russland genug, die reichen für alle" -, mit Großeltern, mit denjenigen, die "Glück im Unglück" hatten, und denjenigen, die Angehörige verloren. Aus all diesen Gesprächen hat Jusik einen Sammelband aus Stimmen erstellt, den sie alphabetisch, wie ein Wörterbuch, nach Stichwörtern gliedert. Er beginnt mit A wie "Augenblick" und endet mit Z wie "Zorn". Unfassbare Geschichten werden erzählt. Und immer wieder liest man Aussagen, die dem offiziellen Tathergang widersprechen. Unklar ist beispielsweise die Frage, wie viele Terroristen an der Geiselnahme beteiligt waren.

Da berichtet eine Zeugin, die im Prozess gegen Nurpaschi Kulajew aussagte - dem einzigen Terroristen, der in Beslan gefasst wurde -, von einer blonden Terroristin mit Pferdeschwanz: "Und nirgendwo ist von ihr die Rede gewesen." Im Chaos nach der Erstürmung seien etliche Terroristen entflohen; solche Ungereimtheiten liest man mehrfach. Offiziell wird bestritten, dass Terroristen entkommen konnten. Eine Geisel meint mit überzeugenden Argumenten, dass die Terroristenzahl 32 "nicht realistisch, einfach lächerlich" sei. Eine Einwohnerin von Beslan bezweifelt, dass es drei Sperrkreise rund um die Schule gegeben habe. Unter all die traurigen Geschichten über den Terrorakt mischen sich Zweifel und Wut, Unverständnis über die Behörden.

Was nach der Lektüre des Buches bleibt, ist ein diffuses Bild. Wie konnten die Vorbereitungen für die Geiselnahme unbemerkt vonstatten gehen? Ein anderer, ebenfalls sehr umstrittener Punkt ist die Frage nach der russischen Informationspolitik während und nach der Geiselnahme. Hier wurde, soweit man weiß, verharmlost, verschleiert, desinformiert. Und viele Fragen bleiben: Wer waren die Terroristen? Wie viele waren beteiligt? Konnten welche entkommen? Und falls ja, warum? Wie viele Geiseln befanden sich tatsächlich in der Gewalt der Terroristen? Wie viele Tote gab es? Unfassbar, dass nach solch einem Drama die Klärung des Tathergangs mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Julia Jusiks Buch ist jedoch keine investigative Arbeit, keine minutiöse Recherche. Das war nicht ihr Anliegen und nicht ihr Ziel. Ihr Buch, dem Zitate aus dem Alten Testament und von Leo Trotzki vorangestellt sind, verhandelt nichts geringeres als die Menschlichkeit. "Was ist das Besondere an diesem Buch?", fragt im Vorwort Swetlana Alexijewitsch. Sie gibt die Antwort: "Dieses Bändchen berührt deshalb so sehr, weil es nicht vom Tod, sondern von der Liebe handelt. Was die Kinder auch berichten mögen, was sie gesehen und erlebt haben, sie sprechen die Sprache der Liebe, denn sie selbst sind noch unschuldig und rein, engelsgleich."

Das ist der Ton des Buches. Er mag pathetisch erscheinen, doch in Anbetracht der Ereignisse von Beslan ist dies eine Möglichkeit, darüber zu berichten. Das Drama ist eben nicht zu Ende, nur weil die "Tagesschau" ein paar Tage nach der Geiselbefreiung nicht mehr darüber berichtet. Ein Kritikpunkt allerdings ist die Aufmachung des Buches, die der Kölner Dumont-Verlag gewählt hat: Sie ist einen Tick zu reißerisch. Das wäre nicht nötig gewesen. Jusiks Buch beleuchtet Grundsätzliches, wie Menschen mit Menschen umgehen. Und wie Menschen mit Trauer, Wut und Verzweiflung weiterleben.


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Julia Jusik: Die Schule von Beslan. Das Wörterbuch des Schreckens.
DuMont Buchverlag, Köln 2006.
178 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832179941

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