Zuviel Medizin

Hisham Matar erzählt eine Kindheit, die kurz vor dem Abgrund steht

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben ist ein Paradies, und Suleiman ist glücklich. Er ist neun Jahre alt, es sind Ferien, er kann mit seinen Freunden spielen, und die Maulbeeren sind so köstlich: "Jede Beere war wie eine Krone aus winzigen purpurnen Kügelchen. [...] Maulbeeren waren die besten Früchte, die Gott geschaffen hatte, entschied ich und ich stellte mir vor, wie junge, lebhafte Engel sich heimlich zusammentaten, um diese Frucht in den Boden der Welt zu pflanzen, nachdem sie gehört hatten, dass Adam, Friede und die besten Segenswünsche für ihn, und Eva, Friede und die besten Segenswünsche auch für sie, zur Strafe hinab auf die Erde geschickt werden sollten. Gott wusste natürlich, was die Engel vorhatten, schließlich war er allwissend, aber ihm gefiel die Idee, und so ließ er sie machen. Ich pflückte eine Beere, und sie zerlief mir fast in der Hand. Ich steckte sie in den Mund, und sie löste sich auf, die kleinen Kügelchen explodierten wie ein Feuerwerk. Ich aß noch ein und noch eine."

Aber das Paradies hat ein paar kleine Fehler. Seine Mutter trinkt viel Medizin, oft ist sie krank, aber nur, wenn der Vater nicht da ist. Der ist ein Geschäftsmann und reist häufig ins Ausland. Wenn er wiederkommt, ist es wie ein kleines Fest: Es gibt Geschenke, und die Mutter macht sich, wenn sie sein Klingelzeichen hört, schnell ein wenig schön. Aber einmal, als Suleiman mit seiner Mutter nach Tripolis fährt, sieht er ihn plötzlich auf dem Platz der Märtyrer stehen: Er trägt eine Sonnenbrille, geht an ihm vorbei, in ein Haus mit grünen Fensterläden. Am Abend ruft der Vater an, sagt, er sei im Ausland und lässt ihn der schlafenden Mutter ausrichten, dass er am nächsten Tag wieder nach Hause komme.

In der Nacht kann Suleiman nicht schlafen, seine Mutter zerbricht aus Versehen ihre Medizinflasche, und er kriecht zu ihr ins Bett. Das macht er immer, wenn er Angst hat, wenn der Vater nicht da ist und die Mutter krank wird, und dann erzählt sie ihm immer Geschichten aus ihrer Vergangenheit. Später konnte sie sich gar nicht mehr daran erinnern und sagte: "Das hättest du nicht hören sollen." Wie sie verheiratet wurde, zum Beispiel: Als ihr Onkel sah, dass sie mit einem Jungen in einem Café saß und seine Hand hielt, wurde sie zwangsverheiratet - sie war vierzehn Jahre alt. Ihr Mann vergewaltigte sie in der Hochzeitsnacht, und sie nahm Medikamente, um nicht schwanger zu werden. Es nutzte nichts. Nein, so etwas sollte Suleiman wirklich nicht hören.

Dennoch sind sie irgendwie eine normale, kleine Familie, in einem normalen Dorf, mit normalen Freunden. Aber dann wird ein Nachbar, Ustaz Raschid, von der Geheimpolizei abgeholt: Er soll zu einer Gruppe von Oppositionellen gehören. Und etwas später gerät auch Suleimans Vater unter Verdacht. Sein Freund Musa und Suleimans Mutter verbrennen alle Bücher und Papiere, nur das eine, "Demokratie jetzt" heißt es, versteckt Suleiman, weil er seinem Vater eine Freude machen will: Eines seiner Bücher für ihn retten!

Es ist eine gefährliche Zeit, die Jahre kurz nach dem Militärputsch des Oberst Gaddafi in Libyen, der unter allen Umständen seine Macht festigen will, auch mit Terror, Verhaftungen, Folter, Unterdrückung von Andersdenkenden. Was versteht ein Neunjähriger schon davon? Aus dieser kindlichen, unwissenden Perspektive von Suleiman, in einer langen Rückblende aus dem ägyptischen Exil, erzählt Hisham Matar seine spannende und anrührende Geschichte. Vieles wird nur angedeutet, ohne Wertung, ohne Urteil: dass Mutters Medizin wohl Alkohol ist; dass Freundschaften einem Terrorregime nicht standhalten können; dass der Junge immer wieder kurz davor ist, seinen Vater zu verraten, aus Versehen oder weil er dem Geheimpolizisten eine Freude machen will. Es wird nur erzählt, nicht erklärt, nicht moralisiert, nicht beurteilt oder gar verurteilt.

Recht lapidar wird erwähnt, dass Tante Salma, Ustaz Raschids Frau, die beste Freundin von Suleimans Mutter, nicht mehr zu Besuch kommt. Dann heißt es, dass er nicht mehr mit ihrem Sohn Karim spielen darf: "Du solltest von diesem Jungen mehr Abstand halten, sagte sie. Vorher hatte sie nie von ihm als 'diesem Jungen' gesprochen. 'Im Moment gehst du ihm besser aus dem Weg.' Als ich fragte, wie sie das meine, sagte sie: 'Es ist nichts, versuch einfach nur, etwas Abstand zu halten.' [...] Wann immer ich und Karim zusammen waren, hatte ich ein schlechtes Gewissen." Die Freundschaft zerbricht.

Dass etwas Schlimmes passiert ist, bekommt man oft auch nur atmosphärisch erzählt: "Als Baba tags darauf nach Hause kam, wirkte er wie abwesend. Es war jetzt acht Tage her, dass sie Ustaz Raschid geholt hatten. Baba hatte keine Geschenke mitgebracht, wie er es sonst tat, wenn er von einer Reise zurückkam. [...] Und er war auch nicht voller Geschichten wie sonst und sagte nichts zu den Dingen, die Mama zu seiner Begrüßung vorbereitet hatte. Den ganzen Morgen hatte sie in der Küche gestanden. [...] Als wir uns an den Tisch setzten, um zu essen, blieb sein gewohnter zufriedener Seufzer 'Zu Hause ist es am Schönsten' aus. Dabei hätte ich ihn mir so gewünscht, weil Mama dann immer ganz rote Wangen bekam." Ganz deutlich macht Matar, dass hier einer etwas aufnimmt, etwas miterlebt, aber ohne es wirklich zu verstehen, ein Leben im "Land der Männer" lebt, ein Land voller Andeutungen und unverstandener Gefahren.

In dieser Mischung aus kindlicher Unschuld, jugendlicher Ahnung und späterem, erwachsenen Wissen beschreibt Matar feinfühlig und völlig ohne jegliches Pathos eine Kindheit, die immer kurz vor dem Abgrund, in der er immer wieder einen Schritt vor dem Verrat steht. Suleiman bleibt er erspart, denn als er dem Geheimdienstler das Buch bringt, hat sich das Blatt für den Vater schon gewendet, und die Namen in der Widmung kennt er auch schon.

Selbst die brutalen Szenen werden fast sachlich erzählt, immer wieder unterbrochen von kindlichen Einfällen und anderen Geschichten. Da wird beispielsweise die Hinrichtung von Ustaz Raschid im Fernsehen gezeigt, seine öffentliche Erniedrigung, als er sein Geständnis wiederholen musste, der tobende Mob, der Urin in seiner Hose, der grässliche Tod. Oder als sein Vater heimkommt, alle Spiegel verhängt sind und der Junge sein Gesicht nicht sehen darf.

Leider verdirbt Matar den guten Eindruck am Schluss, als er dann doch noch emotional wird, als ihn seine Mutter nach vielen Jahren im ägyptischen Exil besucht. Aber bis dahin ist es ein sehr berührendes Buch, erschreckend, sensibel und sehr atmosphärisch geschrieben. Ein Roman, in dem man einen Blick in eine Kinderseele und in eine Gesellschaft unter Belagerungszustand werfen kann.


Titelbild

Hisham Matar: Im Land der Männer. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
254 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872445

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch