Alles Lüge!

Der Historiker Wolfgang Reinhard will in seinem Buch "Unsere Lügengesellschaft" die Techniken des "kreativen Umgangs mit der Wahrheit" bloßlegen - und betritt das Jammertal der Stammtische

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Pinocchio schwindelt, wächst ihm die Nase lang. Die Büchermacher vom Hamburger Murmann-Verlag hatten wohl die Holzpuppe vor Augen, als sie das Manuskript des emeritierten Freiburger Historikers Wolfgang Reinhard über "Unsere Lügengesellschaft" zwischen Buchdeckel pressen ließen. Für das Cover wählten sie eine kleine Pinocchio-Abbildung aus, setzten sie auf einen unschuldigen weißen Hintergrund und montierten darunter zwei vermeintliche Lexikondefinitionen von Wahrheit und Lüge.

Wahrheit und Lüge stehen zueinander in Beziehung. Die eine ist ohne Referenz auf die andere nicht zu beschreiben. Reinhard nähert sich diesem philosophischen Umstand erst im siebten und letzten Abschnitt seines Buches ("Der Mensch zwischen Wahrheit und Lüge") eingehender, wo er den Leser über die begriffliche Basis seines 140-Seiten-Essays aufzuklären versucht - ein Grund, das Werk besser von hinten aufzurollen.

Reinhard gibt hier zu verstehen, dass "das Wahre" in pluralen Gesellschaften problematisch geworden sei. Moderne, nicht-ontologische Wahrheitstheorien erkennen diese Relativität von Wahrheitskonstruktionen an. Das muss nicht schlimm sein, bedeutet doch die Problematisierung überkommender Weltbilder auch ein Mehr an geistiger Freiheit, an Deutungs- und Diskursmöglichkeiten. Reinhard jedoch folgert, dass so mehr Freiräume für Lug, Betrug und Täuschung geschaffen worden seien, so "dass unter den heutigen kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen die Lügen überhand nehmen".

Diese Auffassung kann man - als kulturkritische Wertung unter vielen - akzeptieren, selbst wenn man sie nicht teilen muss. Jedenfalls ist Reinhards "Tour durch unsere Lügengesellschaft", durch Geschichte und Politik, Wirtschaft und Medien, Wissenschaft und Alltag von dieser Negativ-These infiziert. Überall vermutet Reinhard - ausgehend von der Theatralisierung politischer Prozesse - Entwicklungen, die zur Folge haben, dass Unwahrheit nicht nur üblich, sondern sogar "notwendig" geworden sei, damit Gesellschaft und Staat überhaupt noch funktionieren.

Nur manchmal geht Reinhard in die Tiefe, beispielsweise wenn er die "Identitätsfiktion" der Figur der "Volkssouveränität" erläutert. Häufig belässt er es jedoch bei theoretischen Andeutungen und plakativen Verallgemeinerungen wie der nicht gerade aufhellenden Rede von "der" Politik beziehungsweise "den" Politikern. Gespickt mit spektakulären Einzelbeispielen (etwa Clintons Lewinsky-Affäre) und versehen mit Lamentos (zum Beispiel über die "strukturelle Unwahrhaftigkeit" in Wahlkämpfen), kommt Reinhards Text damit eher einer gepflegten Stammtisch-Jammerei als einer differenzierten Zeitdiagnose gleich. Das folgt dann eher dem Motto: "Wir haben es schon immer gewusst - man belügt uns von vorn bis hinten!"

Am stärksten präsentiert sich Reinhard, der Historiker, wenn er zu geschichtlichen Überlegungen ansetzt: Die leider viel zu kurzen Ausführungen darüber, wie das Wissen über die Herrschaftsausübung anfänglich als Staatsgeheimnis gehütet und in modernen Regierungsbürokratien als Amts- und Dienstgeheimnis zur Routine wurde, sind durchaus lesenswert. Dann aber folgt schon die Klage über die "fundamentale menschliche Schäbigkeit" - was immer das heißen soll -, und man möchte das Buch am liebsten beiseite legen. Von einer systematischen Untersuchung derartiger Gemeinplätze kann keine Rede sein.

Das Hauptproblem besteht aber darin, dass sich Reinhard (der den von Robert Hettlage herausgegebenen Sammelband "Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft", Konstanz 2003, auffallend häufig als Referenz zitiert) auf unterschiedlichen Ebenen bewegt: Philosophisch Grundsätzliches, Ansätze von historische Rekonstruktionen, anthropologische Spekulationen über die Schlechtigkeit des Menschen und beliebige Beispiele werden lieblos aneinander gereiht. Somit ist am Ende nicht wirklich klar, worum es in diesem Werk eigentlich geht. Irgendwie redet Reinhard mit der Geste eines Generalisten über alles, aber doch auch über nichts wirklich richtig. Und das auch noch in einem überernsten Ton. Pinocchio ist viel lustiger.


Titelbild

Wolfgang Reinhard: Unsere Lügengesellschaft. Warum wir nicht bei der Wahrheit bleiben.
Murmann Verlag, Hamburg 2006.
144 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3938017473

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