Blindes Verlangen

Sheridan Hay erzählt in ihrem ersten Roman von einem skurrilen Antiquariat und seiner merkwürdigen Belegschaft

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit kaum 18 Jahren steht Rosemary Savage, groß gewachsen, schlank und mit einer wallenden roten Haarpracht ausgestattet, als Waise da: Ihre Mutter, eine Hutmacherin mit eigenem Laden, ist soeben gestorben, ihren Vater kennt sie nicht. Was macht eine so unbedarfte junge Frau, die in Tasmanien lebt, und diese 18 Jahre im Hutladen der Mutter verbrachte? Sie wird von der Buchhändlerin Chaps, einer Freundin der Mutter, nach New York geschickt, um etwas aus ihrem Leben zu machen.

Rosemary strandet im Frauenhotel "Martha Washington" und versucht, Freundinnen und Arbeit zu finden. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt und der Suche nach Vertrautem inmitten des Fremden stößt sie auf ein riesiges Antiquariat, das "Arcade", dessen Beschreibung jedem Büchersammler den Puls in die Höhe treibt. Es gibt jede Menge Räume und Treppen, auf mehreren Etagen stehen Regale, vollgestellt mit Büchern, überall liegen Bücherstapel herum, denn jeden Tag kommen neue herein. Für Rosemary ist es das Paradies, denn wenn sie nicht im Hutladen herumstand, half sie Chaps in deren Buchladen. Bücher sind ihr vertraut, sie geben ihr Mut und Hoffnung. Also verschafft sie sich einen schlecht bezahlten Job in diesem Antiquariat.

Mit ihr dringt nun der Leser in diesen in trübes Licht gehüllten Kosmos von Literatur und Sammelleidenschaft, von Suchen und Finden, von Begehren und Begierde ein. Bereits die Belegschaft ist ein Sammelsurium an merkwürdigen Figuren: Der Inhaber redet von sich in der dritten Person, sitzt auf einem Podest und führt wie ein Automat die stets gleiche Handlung aus: Er zeichnet die neu angekommenen Bücher aus. Dann gibt es den fast blinden Albino Walter Geist, der sich rettungslos in die junge Frau verliebt und dafür seine Existenz aufs Spiel setzt. Rosemary aber liebt Oscar, den Herrn mit dem wunderschönen Kopf, der so elegant seine Hand auf seine Wange zu legen weiß und im "Arcade" für die Abteilung Sachbuch zuständig ist. Er interessiert sich weder für Frauen noch für Männer, doch damit der unglücklich Verliebten nicht das Herz zerreißt, gibt es noch den väterlichen Mr. Mitchell (er kümmert sich um die Verkäufe an Sammler) und die schrille, liebevolle Pearl Baird, die ebenso wie die Argentinierin Lilian zu Rosemarys Freundin wird.

Rosemary, mit Chaps' Leidenschaft für Shakespeare groß geworden, lernt nicht nur New York und New Yorker kennen, sondern auch die Literatur. Eher zufällig ist es Herman Melville, den sie liest und dessen Werk sie nachhaltig beeindruckt. Und wie es der Zufall dann weiter will, gerät sie durch einen Brief, in dem ein bislang verschwunden geglaubtes Manuskript von Melville angeboten wird, in ein Netz heimlicher Recherche, Eifersüchteleien, Intrigen, Liebesverwirrungen und Betrug, das sie am Ende um wichtige Erfahrungen reicher entlässt.

Der Autorin (die selbst in einem berühmten Antiquariat gearbeitet hat) ist ein humorvoller, warmherziger Roman über Passionen gelungen. Natürlich ist das Sujet ,Geheimnis um ein Buch' mit dem Schauplatz Buchladen oder Antiquariat bereits öfter genutzt worden, so zum Beispiel von Carlos Ruiz Zafón in "Der Schatten des Windes" oder bei Cornelia Funkes "Tintenherz". Hier aber begegnet uns eine Geschichte, die dem Vorhandenen etwas hinzufügt: Nicht das Geheimnis steht im Mittelpunkt, sondern eine junge Frau auf dem Weg ins Erwachsenenleben und damit zu sich selbst, unbedarft und voller Neugier. Wir begleiten sie durch diese unterhaltsame, anspielungsreiche Geschichte und lernen dabei etwas über Bücher, Leidenschaften und Begierden, über Freundschaft und über das Leben selbst.

Künstlerische Ambitioniertheit im Stil sucht man hier vergebens. Trotzdem kommt der Roman über eine rein unterhaltsame Ebene hinweg, weil er das Panoptikum 'Antiquariat' mit der eingebundenen Entwicklungsgeschichte zu mischen versteht. Die zwei schönsten Sätze des Buches aber stehen bereits auf den ersten Seiten. Über die Buchladenbesitzerin Chaps, Freundin von Rosemarys Mutter, heißt es: "Was Chaps anging, so war sie einfach zu belesen, um als wirklich anständig zu gelten. Die Bücher hatten sie auf beunruhigende Weise unabhängig gemacht."


Titelbild

Sheridan Hay: Die Antiquarin. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Judith Schwab.
Kindler Verlag, Berlin 2007.
432 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783463405063

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