Der diskrete Charme des Chaos

Was man von Amazon Rezensionen erwarten darf - und was nicht

Von Hans Peter RoentgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Peter Roentgen

300 Rezension hatte er aus dem österreichischen Bibliotheksführer und anderen Zeitschriften abgeschrieben und sie bei Amazon als eigene Rezensionen eingetragen. Das Internet begünstigt Copy und Paste, Raubkopien sind nur einen Mausklick entfernt. Allerdings lassen sie sich genauso leicht wie sie begangen werden auch entdecken. Einer der Autoren fand seinen Text wieder und benachrichtigte Amazon, woraufhin die Rezensionen gelöscht wurden und der "Rezensent" gesperrt wurde.

Manchmal posten auch Autoren und Verlage ihre Pressetexte der Einfachheit halber unter falschem Namen als Rezension. Schon im 19. Jahrhundert schrieb mancher Autor die Besprechung seiner Bücher am liebsten selbst und veröffentlichte sie als Rezension in der Zeitung. Amazon hat diese Autorenselbsthilfe erheblich erleichtert, das gilt auch für Gefälligkeitsrezensionen der Autoren-Fanclubs.

Die Rezensionen kontrolliert Amazon weder auf Richtigkeit, noch darauf, ob es sich um Raubkopien handelt. Nicht einmal die Rechtschreibung wird geprüft. Wer in seinem Beitrag nicht direkt zum Mord am Autor aufruft, wird sie unbehelligt einstellen können. Kundera ist ein Norweger, das Hauptverb fehlt im Satz, Karl May hat das Kapital geschrieben, all das und mehr ist möglich.

Auf der anderen Seite werden Texte auch aus unerklärlichen Gründen dann doch gesperrt. Der Verweis auf Klaus Modicks Buch "Bestseller" in meiner Besprechung der Kolportage "Die Flucht" führte zur Ablehnung, als der Verweis gestrichen wurde, gelangte die Besprechung ins Netz. Der Umgang Amazons mit seinen Rezensenten kann merkwürdig sein. Die haben deshalb ein eigenes Forum gegründet.

Taugen die Amazon-Rezensionen also nichts? Alles ein großer Bluff? Das wird immer wieder behauptet, naturgemäß vor allem von Anhängern der klassischen Printrezensionen.

Aber diese Amazon-Rezensionen sind auch genial. Nicht, weil sie als einzelne so gut sind - das sind sie oft nicht -, sondern weil sie so vielfältig sind. Und weil sich bei Büchern schnell eine gemeinsame Linie herauskristallisiert. Die einzelne Rezension mag wenig aussagekräftig sein, niemand weiß, ob der Rezensent zuverlässig ist. Wer aber fünf oder zehn Rezensionen liest, erhält eine gute Vorstellung von einem Buch.

Jeder liebt sie: Trolle

Keine Rose ohne Dornen, keine Internetvielfalt ohne Trolle. Trolle sind, wir wissen es von Tolkien, bösartige Riesen mit geringem Verstand, tollwütige Elefanten im Porzellanladen. Wohl deswegen benennt man auch Schimpfer und Beleidiger im Internet nach ihnen.

Das Netz bietet ihnen ideale Brutbedingungen. Zwar können sie nicht real herumtrampeln und auch das Menschenfressen gelingt nur virtuell. Dafür rezensieren sie, genauer gesagt, sie beschimpfen: "Ja würde der Reich-Ranicki nur alle Bücher dieser dummen Zwiebel zerreißen! Am liebsten 0,0 Punkte!" findet sich als Besprechung zu "Beim Häuten der Zwiebel".

Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, dass dies eine von 35 Rezensionen über das Buch ist, dass gerade hier die Rezensionen zu zwei Dritteln weit länger als eine Bildschirmseite sind und sich bis auf zwei hauptsächlich mit dem Buch und nicht der Waffen-SS Diskussion beschäftigen.

Aber Trolle sind mehr als lästig, nicht weil sie viele sind, sondern weil sie jede Diskussion zerstören. Man muss sie aushalten und hoffen, dass es bald hell wird und sie versteinern.

Was Verlage auf die Palme bringt

Immer wieder erregen sich Verlage und Autoren über Rezensionen, von "Geschäftsschädigung" ist dann die Rede. Letzteres trifft allerdings nur in Ausnahmefällen zu. Wie ein Verriss durch Marcel Reich-Ranicki zwar oft ungerecht ist, Wut provoziert, so ist er doch verkaufsfördernd, wie jeder Marketing-Chef weiß. Nicht anders ist es bei Amazon. Schlimm sind nicht Verrisse, schlimm ist die leere Seite ohne jede Rezension, die signalisiert: "Dieses Buch ist absolut uninteressant". Verrisse dagegen enthüllen oft Mängel eines Buches, ob zu Recht oder Unrecht, das lässt sich manchmal schwer entscheiden.

"Vor gar nicht allzu langer Zeit erschien eine Special Ausgabe über die Peppers, herausgegeben von einem renommierten britischen Musikmagazin, das quasi den gleichen Inhalt wie das hier vorliegende Buch aufweisen kann, und das zu einem deutlich geringeren Preis." Ist diese Aussage korrekt? Keine Ahnung, Amazon jedenfalls kontrolliert das nicht nach. Rezensionen zu beurteilen, bleibt dem Leser überlassen.

Zweifellos gibt es sie, die Versuche, Konkurrenten durch negative Rezensionen wegzubeißen und bei der Gelegenheit das eigene Werk hoch zu loben. Vor allem bei Sachbüchern kommt das immer wieder mal vor. Wer ein wenig gewöhnt ist, Rezensionen zu lesen, erkennt aber solche schwarzen Schafe schnell. Trolle sind brutal und böse, aber meist auch dumm. Wer behauptet, dass der Autor "ein Teufelsanbeter" sei, der garantiert, dass jeder Leser weiß, wes Geistes Kind der Verfasser der Rezension ist.

Mehr Kontrolle?

Warum kann Amazon dieses Trollunwesen nicht einfach abstellen? Schließlich werden alle Rezensionen daraufhin kontrolliert, dass sie die Rezensionsrichtlinien erfüllen. Und tatsächlich, gar zu grobes Geschütz wird manchmal in der Kontrolle erkannt und abgelehnt oder auch dann, wenn sich jemand beschwert, gelöscht.

Doch die Kontrollmechanismen von Amazon sind dürftig. Eine Schar schlechtbezahlter Hiwis muss möglichst schnell entscheiden, ob eine Rezension annehmbar ist. Amazon hat allein in Deutschland mehrere hunderttausend Rezensenten, die Zahl der Rezensionen selbst geht in die Millionen. Allein eine Rechtschreibkorrektur würde ganze Regimenter von Germanisten erfordern, von der Kontrolle auf inhaltliche Richtigkeit oder gar Raubkopien ganz zu schweigen.

Würden solche Kontrollen eingeführt, gäbe es schnell nur noch ein Bruchteil der jetzigen Rezensionen und das wäre schade. Vor allem für kleine Verlage, für Bücher abseits vom Mainstream wäre es verhängnisvoll. Für Kleinverlage, deren Bücher selten besprochen werden und nie in Buchhandlungen auftauchen, ist Amazon der Rettungsanker.

Amazon ist ein Wirtschaftsunternehmen, Rezensionen zu Büchern begutachten, die nur in geringen Stückzahlen verkauft werden, würde sich nicht rentieren und folglich würden diese als erste gestrichen. Gestrichen würde auch die Vielfalt der Rezensionen. Zum Buch "Beim Häuten der Zwiebel" finden sich von glühender Begeisterung bis zur schroffen Ablehnung sämtliche Schattierungen, von der einzeiligen Troll-Rezension bis zur seitenlangen Abhandlung alle Varianten.

Doch für ein Grass-Buch sind diese Rezensionen nicht so wichtig. Grass wird immer besprochen, in Feuilletons wie in Rezensionsforen, dafür braucht man nicht Amazon. Weit wichtiger sind die Meinungen zu weniger gängigen Büchern, über die anderswo kaum einer schreibt, weil sie abseits vom Mainstream liegen oder in ein Genre gehören, dessen sich Kulturredakteure nur ungern annehmen. Gerade hier ist die Vielfalt, dass keinerlei inhaltlichen Kontrollen stattfindet, die Stärke von Amazon.

Andererseits fordert das den Leser auch weit mehr. Jeder muss selbst entscheiden, was stimmt, was brauchbar ist. Keine Redaktion sortiert die Meinungen vor, kontrolliert Behauptungen nach, sichert inhaltliche Richtigkeit oder wählt auch nur aus, welche Bücher sich zu lesen lohnen. Amazon fordert den mündigen Leser in besonderer Weise und oft überfordert es ihn auch.

Was Amazon nicht ist

Amazons Rezensionen sollen bei der Vorentscheidung helfen. Hier geht es um die Frage: Soll ich dieses oder jenes Buch kaufen und lesen? Das muss man sich vor Augen halten, hier geht es nicht darum, Bücher in literaturwissenschaftliche Zusammenhänge einzuordnen, genaue Detailkritik zu leisten, die Besonderheiten des Stils, der Figurenzeichnung, des Plots zu vermitteln. Wer das sucht, sollte bei Rezensionsforen nachschlagen oder bei Perlentaucher.de nach Buchbesprechungen in den Printmedien suchen.

Nichtsdestotrotz findet man auch bei Amazon manchmal Perlen. Kein Wunder, schließlich veröffentlichen immer mehr Redakteure dort Rezensionen. Immer wieder begegnen einem bekannten Namen aus der Literaturkritik-Redaktion, aus Internet-Foren und auch der eine oder anderen, der für Printmedien schreibt. Internet und Printmedien wachsen langsam zusammen, das zeigt nicht nur Perlentaucher.de - und wer sich eine klare Mauer wünscht, die das eine vom anderen sauber trennt, muss wohl Einsiedler werden.

Autoren ins Auge sehen: Leserunden

Auch wenn Grass es noch nicht tut, andere tun es längst. Nein, ich meine nicht die Autorenblogs, sondern Leserunden. Weitgehend unbemerkt von den Medien, die über Web 2.0, die Bloggerszene und Second Life berichten, hat sich eine lebendige Lesekultur im Netz etabliert, Bücher werden gemeinsam über Wochen diskutiert und immer öfter nimmt die Autorin oder der Autor daran teil.

Zur Zeit gibt es bei Büchereulen.de zwölf Leserunden von Charlotte Thomas historischem Venedig-Roman "Die Madonna von Murano" über Andreas Wilhelms Thriller "Projekt Sakkara" bis hin zu dem altehrwürdigen "Stolz und Vorurteil" von Jane Austen, letzteres aus naheliegenden Gründen leider ohne Beteiligung der Autorin. Beim Literaturschock.de sind es neun Leserunden deutschsprachiger Bücher von Peter Lancasters Vampirschocker "Unterm Doppelmond" bis hin zu Gerhard J. Rekels Espresso Thriller "Der Duft des Kaffees". Steffis Bücherkiste bietet zehn Bücher in Leserunden an. Diese Auswahl ist völlig zufällig, daneben gibt es eine unübersehbare Zahl weiterer Seiten, die Leserunden anbieten.

Das ist - vor allem mit Autorenbeteiligung - ein Vergnügen, das weder Printmedien noch Autorenlesungen bieten können, in denen sich die Fragen allzu oft auf die Standards "Wo bekommen Sie ihre Ideen her?" und "Das ist doch Autobiografisch, oder?" beschränken. Internet, das wird gerne vergessen, ist ein Wortmedium und all die bunten Bilder, Podcasts und Grafiken ändern daran nichts. Schlussendlich zählen nirgendwo sonst Worte, nichts als Worte soviel. Wer etwas über Bücher, Schreiben und Lesen erfahren will, sich mit Gleichgesinnten austauschen möchte, wird hier fündig und wer hier nicht fündig wird, der wird es nirgends.