Himmlische Datteln

Ethnologieprofessor Abdellah Hammoudi berichtet von seiner Pilgerfahrt nach Mekka - und gewinnt den Lettre Ulysses Award

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes Jahr unternehmen über zwei Millionen Muslime den Haddsch, die Pilgerfahrt nach Mekka. Der Haddsch gehört neben Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosen und Ramadhan zu den fünf Säulen des Islam. Jeder Muslim, sofern er es sich leisten kann, soll Mekka einmal in seinem Leben besuchen. Dort gilt es "im Zustand der Reinheit" die Kaaba, den schwarzen, umhüllten Stein, das "Haus Gottes", zu umlaufen, am Berg Arafat vor Gott zu treten, Satan an einer Säule zu steinigen sowie Gott ein Tieropfer zu bringen. Der vollzogene Haddsch löscht alle Sünden des bisherigen Lebens aus und soll den richtigen Weg bis zu seinem irdischen Ende festigen.

Wenn allerdings ein international renommierter Wissenschaftler wie der marokkanische Anthropologe Abdellah Hammoudi einen Bericht über seinen Haddsch verfasst, bleibt zu vermuten, dass die orthodoxen Darstellungen nur von begrenzter Wichtigkeit sind.

Hammoudi, 1945 in einer Ortschaft in Zentralmarokko geboren, Doktorand an der Sorbonne und seit einigen Jahren Professor in Princeton, verlegt sich von Beginn an auf eine sehr persönliche Perspektive. Er zitiert aus seinem Tagebuch, berichtet von seinen Gefühlen angesichts der bedeutsamen Reise und von den Zweifeln hinsichtlich der Möglichkeit und Legitimität seines Vorhabens, am Haddsch teilzunehmen und die Teilnahme gleichzeitig anthropologisch zu beobachten.

Durch diese Absicht sieht er sich getrennt von seinen muslimischen Brüdern und Schwestern, denen es um ihr persönliches Heil vor Gott geht. Und die doch auch die unterschiedlichsten Motive verfolgen. Manche sind schon ein dutzend Mal nach Mekka gepilgert, weil sie mit Waren handeln. Bei anderen scheint es vor allem eine Familientradition oder ein sozialer Akt zu sein. Einer sagt sogar, er sei "aus Interesse" gekommen.

Man ist hier mitten in Hammoudis Materie: Das Heilige und das Profane, das Materielle und das Spirituelle, das Politische und das Religiöse koexistieren, arrangieren sich miteinander und gehen ineinander über. Es herrscht kein Entweder-Oder, sondern ein verwirrendes, pulsierendes Zugleich: Übel stinkende Toiletten und Bäder, in denen Tausende Pilger täglich ihre rituellen Waschungen vornehmen müssen. Heilige Opfertiere, die zu Millionen in "Tierkonzentrationslagern" zusammengepfercht und getötet werden. Die maßlos korrupte Beamtenschaft, die sich jeden einzelnen Platz für den Haddsch teuer und langwierig abkaufen lässt. Oder der im Kapitel "Gebet und Ware" beschriebene exzessive Massenkonsumrausch, der sich in unmittelbarer Nähe zur Moschee des Propheten und dennoch in großer Selbstverständlichkeit zuträgt.

Ineinander verschränkt sind auch die Formen von Hammoudis Bericht: Beobachtung, Anekdote, Erlebnis, Reflexion, hier und da ein Tupfer Theorie. Hammoudis ethnologischer Blick verbietet sich weder Verwunderung, noch Entsetzen, noch Ironie. Menschliche Lebensformen und soziale Organismen lässt er als dynamischen, sensiblen Gleichgewichtszustand erscheinen, dessen Balance von vielfältigen Einflüssen abhängt. So kann das Anzünden einer Zigarette im falschen Moment zum chaostheoretischen Flügelschlag werden, der den Orkan auslöst. Die unvorsichtige, weil arrogante Geste des saudischen Beamtens in Mekka lässt die Wut einer Menge, die von unerträglichen Unterkünften, nicht gehaltenen Versprechungen, Schlafmangel und Hitze aufgerieben ist, beinahe eskalieren. Die vom religiösen Gebot gezogene Grenze, Frieden und Rücksicht auf der Pilgerfahrt einzuhalten, wird brüchig, sobald gewisse Stabilisatoren ausfallen.

Was "Saison in Mekka", das im vergangenen Jahr den "Lettre Ulysses Award" gewann, nicht ersetzt, ist eine Einführung in den Islam, seine Mythologie und seine Riten. Eine solche Einführung vor der Lektüre von "Saison in Mekka" zu lesen, könnte allerdings ebenso hilfreich sein, wie sich über die Kolonialgeschichte zumindest des Maghrebs und des Nahen Ostens zu informieren. Es ist der Hintergrund, vor dem Hammoudis "Geschichte einer Pilgerfahrt" stattfindet und den er, verständlicherweise, nicht immer oder nur in Ausschnitten miterzählt.

Der C. H. Beck Verlag scheut sich im Klappentext nicht, der Beschreibung Mekkas als dem "großen Geheimnis, dem Kraftzentrum des Islams" die Leitfrage "Aber was geht in Mekka wirklich vor?" folgen zu lassen. Und tatsächlich erhält man ein vielgestaltiges Bild des Haddsch: religiöse Inbrunst, existentielle Ergriffenheit, bürokratische Schikanen, moralisierende Sittenwächter, fortwährende Diskriminierung der Frauen, Streitigkeiten zwischen islamischen Glaubensrichtungen, eine saudische Verwaltung, die ignorant und übermächtig zugleich ist.

Alllerdings ist Hammoudis Bericht über weite Strecken auch eine Innenschau, eine "religiöse Selbstanalyse". Gefragt wird also nicht nur, was in Mekka, sondern auch, was in Hammoudi vorgeht. Es zeigt sich, dass Erlebnissvorgänge eines Ethnologie-Professors aus Princeton ihre eigene Gestalt haben und entsprechenden Ausdruck verlangen - schließlich haben Foucault, Geertz & Co. hier ihre Spuren hinterlassen. Für den Leser bedeutet dies, dass er, je nach ethnologischer Vorbildung, manche Reflexionen Hammoudis nur aus der Ferne bestaunen (und sich selbst zum eher schlichten Gemüt gratulieren) kann.

Hammoudi beobachtet Spiegelungen, Annäherungen, Doppelungen, Überlagerungen, ineinander verschlungen, durchdrungen, getrennt und gleichzeitg verwoben, verborgen und gleichzeitig ausgestellt, verboten und unabdingbar. Eine Rhetorik aus der ersten Liga der Ethnologie zweifellos, deren Dosierung vielleicht auch eine Frage der Gewohnheit ist.

In den narrativen Teilen erweist sich Hammoudi als geradezu zarter, sinnlicher Erzähler von großer menschlicher Achtsamkeit und mit wachsamem Blick für Details. Gerüche, Hitze, Klänge, Farben, Licht und Schatten, alles wird fühlbar, als würde man von Hammoudi durch die Straßen von Mekka und Medina geführt. Dass er, verschreckt durch den kollektiven Kaufrausch auf den Tinnef-Märkten Medinas, die göttliche Schönheit in den Datteln eines abgelegenen Marktes wiederfindet, ist die zweitschönste Stelle im Buch. Ergreifender ist nur noch sein Begleiter Abbes, wie er sich, in tiefstem Glück und Trauer aufgelöst, von der Moschee des Propheten verabschiedet - aber das muss man selbst lesen.


Titelbild

Abdellah Hammoudi: Saison in Mekka. Geschichte einer Pilgerfahrt.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
313 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406557521

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