Der Alptraum der Vernunft und seine Monstren

Alfred Döblins utopischer Roman "Berge Meere und Giganten" in einer Neuausgabe

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist ohne Zweifel ein großartiger Roman, und es ist ein schrecklicher zugleich. Über 600 Seiten geht die abschüssige Bahn, die Alfred Döblin die zivilisierte Welt darin hinabfahren lässt. Einen ersten, vielleicht doch schon entscheidenden Stoß hatte sie mit jenem Krieg erhalten, den die Zeitgenossen den "Großen" nennen würden.

Von da an nimmt das (fiktive) Geschehen einen Lauf, bei dem wir ihm über 500 Jahre, sämtliche Kontinente, absonderliche und - im traditionellen Sinn - "unerhörte" Ereignisse und in Katastrophen begleiten, die gegenüber denen des ja real noch zu drei Vierteln folgenden 20. Jahrhunderts nicht zurückstehen. Döblin scheint bereits klar gewesen sein, dass der Weltkrieg im Rückblick mehr als nur ein Betriebsunfall im Fortschreiten der zivilisierten Gesellschaft sein würde. Anders ist sein Auftakt kaum zu erklären, in dem er andeutet, dass die Nachkriegsgesellschaft auf den Leichen derer errichtet wird, die im Krieg ,geblieben' sind: "Es lebte niemand mehr von denen, die den Krieg überstanden hatten, den man den Weltkrieg nannte. In die Gräber gestürzt waren die jungen Männer, die aus den Schlachten zurückkehrten, die Häuser übernahmen, welche die Toten hinterlassen hatten, in ihren Wagen fuhren, in ihren Ämtern dienten, den Sieg ausnutzten."

Von hier aus öffnet Döblin einen Handlungs- und Entwicklungshorizont, der weit in eine Gesellschaft hineinreicht, die nichts mehr mit der zu tun hat, wie wir sie kennen oder von der wir hoffen, dass es sie später geben wird. Jenseits der technischen Fantasien über Flugzeuge und andere Instrumentarien - also jenseits der gedachten technischen Detailfragen - sind es die gigantomanischen Zukunftsfantasien, die den Roman zu etwas Besonderem machen, auch und gerade dann, wenn wir ihn (umstandslos) der Science Fiction oder gar der Fantasy zuschlagen wollen: Immerhin wird hier mir nichts dir nichts die Erde umgestaltet, es werden ökologische, wirtschaftliche, politische und humane Desaster angerichtet. Hier wird in einer Weise mit Menschen und mit den politischen Systemen experimentiert, über die man sich heute nicht mehr wirklich wundert.

Hier ziehen Menschenhorden, die künstlich ernährt werden, über die verseuchten und verwüsteten Kontinente - ziellos, immer im Krieg, als Krieger oder als Opfer. Diktatoren und Kampagnenführer usurpieren die politischen Systeme, ähnlich jenen Renaissancefürsten, die um die Jahrhundertwende eine so große Attraktivität besaßen. Dynastien und Herrschaften lösen sich endlos ab. Die Metropolen sind ins Uferlose gewachsen oder zur Steppe verbrannt. Megaprojekte wie die Enteisung Grönlands werden nicht nur geplant, sondern auch noch durchgeführt. Riesenmonstren entspringen den Fantasien des Autors ebenso wie den Sümpfen des nunmehr eislosen Grönlands. Godzilla und Genossen lassen grüßen. Um sie zu bekämpfen, werden menschliche Kollektivsubjekte kreiert, in denen die Massenmenschen leibhaftig aufgehen. Das Ganze eingebettet in ein Szenario, das wenig zu hoffen übrig lässt. Eine Zukunft, in der es den Menschen besser geht? Wie kommt man auf diese Idee?

Döblin lässt wenig aus an Fantasien und Zukunftsängsten, die später in den amerikanischen "Amazing Stories" oder in den irren B-Pictures Karriere machen würden. "Das Ding aus dem Sumpf" oder "Invasion aus dem Weltall" - Döblin braucht sich vor ihnen nicht zu verstecken. Das Buch ist ein großer Wurf und einer, der zugleich weit reichende Schlüsse zulässt über die Zeit, in der er entsteht: Weltkrieg und entgrenzte Technik scheinen sich in Döblins Romanmonstrum zu einer Art Alptraum verdichtet zu haben.

Dem entspricht nicht zuletzt die Form des Textes. Dass Döblin auf der Suche nach dem Roman war, der der Moderne angemessen war, lässt sich seinen theoretischen Schriften wie seinen vielfältigen, immer neu variierenden Entwürfen entnehmen. Dabei nahm er sich historischer, zeitgenössischer, mythischer und utopischer Stoffe an - nichts war ihm hier zu heilig oder zu versponnen, dass er sich darauf nicht verlegt hätte. Daraus sind großartige Bücher geworden, leicht verständlich und eingängig sind seine Romane allerdings meist nicht. Gerade "Berge Meere und Giganten" ist dafür ein gutes Beispiel, was auch den zeitgenössischen Rezensenten nicht verborgen geblieben ist. Hier, scheint es, hat sich Döblin keine stilistischen Schranken mehr auferlegt und sich an keine erzählerischen Regeln gehalten. Er überbrückt Jahrhunderte, beschleunigt oder verzögert nach Belieben sein Erzähltempo - und nicht zuletzt verweigert er jeden Versuch des Lesers, sich den Text oder seine Figuren auch nur einigermaßen zurecht zu legen.

Diese Zukunft ist derart erschreckend, dass selbst ihre Menschen zu einer spezifisch monströsen Form geraten: zu herumtreibenden Nomaden, zu blutrünstigen Tyrannen, zu gewissenlosen Manipulateuren, zu Bedienungsanhängseln einer sozialen und technischen Maschinerie, die alles bis dahin Gekannte in den Schatten stellt. Dass sich das in normalen Sätzen nicht ausdrücken lässt, versteht sich beinahe von selbst. Döblin skizziert oft mehr, als dass er beschreibt. Sein Personal gerät ihm durchaus bewusst zur antipsychologischen Staffage. Weder Stil noch Figuren laden zum Verweilen oder zu Identifikation ein. Der Roman gebiert nicht nur Monstren, er ist selber eins.

Das alles ist bis dahin noch nie gestaltet worden, auch wenn sich selbstverständlich Döblins Quellen erkennen lassen, unter denen Oswald Spengler wohl die bekannteste ist. Dass es noch viele andere gibt, Reiseberichte, naturwissenschaftliche und ethnografische, zeigt die Neuausgabe, die die Wuppertaler Döblin-Spezialistin Gabriele Sander in bewundernswerter Geduld und Akribie gestaltet hat. Daneben bietet Sander eigentlich zum ersten Mal einen Text, der einigermaßen die Gestalt haben sollte, wie sie Döblin bei der Arbeit vorgeschwebt haben müsste. Der liegt nämlich nicht einmal mehr in den von Döblin noch selbst verantworteten Ausgaben vor. Seine schon aus anderen Werken bekannte Arbeitsweise produzierte geradezu systematisch Fehler, zudem scheint Döblin kein besonders aufmerksamer Korrekturleser gewesen zu sein - oder er hat dieser Tätigkeit keine allzu große Bedeutung zugemessen. Jedenfalls variieren in den ersten Auflagen die Namen im Laufe der Handlung, hier lassen sich außerdem Sätze finden, für die jede Interpretation unglaubliche Verrenkungen machen muss und die Sander schließlich als simple Verlesungen des Manuskripts erkannt hat. Zwar liegt die direkte Druckvorlage heute nicht mehr vor. Trotzdem haben Sanders Bemühungen um einen sauberen Döblintext einige Erfolge vorzuweisen. Der größte: Jetzt endlich liegt ein Romantext vor, der von den alten Mängeln befreit ist.

Döblins Roman macht das zwar nicht eingängiger, aber niemand muss sich mehr mit dem Gedanken quälen, ob Döblin das, was da gerade zu lesen ist, wirklich so gemeint hat. Er hat, kann man, Sander folgend, jetzt wohl mit gutem Gewissen behaupten. Allerdings hatte Döblins eher laxer Umgang mit der Konsistenz seiner Texte und der Korrektheit von Sätzen durchaus seinen Charme. Textliche Gewissheit in Sachen "Berge Meere und Giganten" wird jedenfalls in Zukunft (wie immer sie auch aussehen mag) kein Problem mehr darstellen. Aber einem Döblintext, der ohne Fehl und Tadel ist, fehlt am Ende vielleicht doch jener Schuss Unsicherheit, jenes kleine Quantum Irritation in der großen Erzählgeste, der jede Lektüre rätselhaft und jede Interpretation nicht nur anstrengend, sondern vielleicht auch vergeblich macht. Aber ob wir das vermissen werden, ist wohl am Ende doch Geschmacksache. Und zur Not gibt es ja immer noch die frühen Drucke des Textes, in denen man Döblin im schlampigen Original lesen kann. Und das ist auch etwas.


Titelbild

Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten.
Herausgegeben von Gabriele Sander.
Walter Verlag, Düsseldorf 2006.
794 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-10: 3530167185
ISBN-13: 9783530167184

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