Aus der Fiktion für´s Leben lernen

I.M. Ischa Meijer – Connie Palmens Roman zu Liebe, Leben und Fiktion

Von Thomas KasturaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kastura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir bleiben beide wie angewurzelt stehen und sehen einander an, ohne etwas zu sagen. Er wollte zu mir und ich zu ihm, das wissen wir.“ Ein einfacher Satz aus einer – na was wohl? – Liebesgeschichte. Ein Satz, durchdrungen von dem frommen Wunsch aller Liebenden, füreinander bestimmt zu sein. Ein intimer Satz, so entwaffnend wie das ganze Buch. „I. M. Ischa Meijer – In Margine, In Memoriam“ ist der dritte Roman der 43-jährigen Niederländerin Connie Palmen. Er ist auch ihr bewegendster.

Von 1991 bis 1995 ist Ischa Meijer Connies Lebensgefährte. Ischa ist ein Journalist, Connie eine Schriftstellerin. Ischa ist in den Niederlanden eine Figur des öffentlichen Lebens, ein umtriebiger Entertainer, der sich pausenlos in Szene setzt. Connie ist eine aufgeräumte Rationalistin, die es etwas ruhiger mag und laut über die letzten Dinge nachdenkt. Ischa ist ein impulsiver Womanizer, der seinen sexuellen Erlebniswahn bei Huren befriedigt. Connie ist zwar auch kein Kind von Traurigkeit, aber ohne Liebe läuft bei ihr nichts. Ischa hat sich mit seinen jüdischen Eltern überworfen und arbeitet nur widerwillig seine Vergangenheit auf, die bis ins KZ von Bergen-Belsen zurückreicht. Connie hält viel auf ihr katholisches Elternhaus, in dem sie Geborgenheit, menschliche Nähe und Vertrauen erfahren hat. Ischa ist ein Vollblut-Reporter, der für seine Kolumne „Der Dicke Mann“ die Wirklichkeit gerne zur Fiktion verbiegt. Connie versucht in ihren Büchern das zu erreichen, was sie an Harold Brodkey so bewundert, „eine gnadenlose, brillante, erbarmungslose Selbsterforschung“. Gegen Unechtheit, vor allem die eigene, hegt sie eine tiefe Abneigung.

Diese ungleichen Intellektuellen finden spontan zueinander. In einer Mischung aus autobiografischem Journal und philosophischem Roman erzählt Palmen eine Geschichte, die dem von Anfang an unter die Haut geht. Darin wechseln sich rührende Liebesschwüre mit Dialogen über Gott und die Welt ab, verrückte Albernheiten und Neckereien mit geistreichen Anamnesen. Connie und Ischa geben ihre Unabhängigkeit schrittweise auf, denn „ohne Abhängigkeit gibt es kein Glück.“

Als Leser kommt man sich dabei vor wie in einer menage à trois, so nah lässt uns Palmen an ihre Figuren herantreten. Sex bleibt dabei ausgespart: eine Einschränkung, die den privaten Charakter des Buches sogar verstärkt. Um das Wesen dieser Liebe zu verstehen, reichen die Gespräche zwischen Connie und Ischa völlig aus.

Palmens Programm ist so simpel, wie Literatur manchmal sein kann: Sie erzählt aus ihrem eigenen Leben. Darin spielen Fiktionen eine wichtige Rolle. Die Beziehung mit Ischa beginnt, als Connies Erstling („Die Gesetze“, dt. 1993) erscheint. Überlegungen zu ihrem zweiten Roman („Die Freundschaft“, dt. 1996) gehen in die Geschichte ebenso ein, wie die „Dicker Mann“-Kolumnen von Ischa und Auszüge aus einem Buch, das dieser über seinen Vater schreibt.

Viele Kunst-Stücke haben wir gelesen über die unscharfen Trennlinien von Fiktion und Wirklichkeit: Samuel Becketts „Malone stirbt“ und Paul Austers „New York-Trilogie“, Wolfgang Hildesheimers „Marbot“-Biografie und Wolfgang Hilbigs „Ich“-Roman. Im Gegensatz zu diesen metaphernbeladenen Versuchsanordnungen zeigt Connie Palmen ganz lebensnah, wie unser Dasein von Fiktionen durchdrungen ist: wenn wir uns verstellen, uns etwas vormachen oder andere Menschen parodieren; wenn wir lesen, Filme anschauen oder uns gegenseitig Geschichten erzählen; oder wenn wir an Orte gelangen, wo Fiktionen entstehen.

Connie und Ischa reisen dafür mehrmals durch die USA. Dort besichtigten sie Las Vegas, das Death Valley und die Universal Studios, die Straße der Ölsardinen, die Ponderosa-Ranch aus der Fernsehserie „Bonanza“ und Elvis Presleys Graceland. Jeder Ort löst Assoziationen aus, die ein Stück Vergangenheit enthüllen und die Gegenwart begreifbarer machen. Die Liebenden rücken dadurch noch enger zusammen. Fiktionen bringen sie dazu, das Leben zu lernen.

Fiktion, so Connie Palmen, sei nicht der Wirklichkeit und der Wahrheit entgegengesetzt. „Gott, die Liebe, ja, sogar die Wahrheit selbst sind effektive Fiktionen, die unser Leben, unser Glück, unsere Beziehungen und Erfahrungen, also unsere Wirklichkeit, Minute für Minute beeinflussen.“ Es komme es darauf an, ob und in welcher Weise man Fiktion in seinem Leben zuläßt.

Die tragische Wendung der Geschichte ist keine Fiktion. Ischa, der zuvor schon seine Eltern beerdigt hat, stirbt an einer Herzattacke. Das hat sich bereits angedeutet. Nach der heiter gestimmten ersten Hälfte des Buches macht sich der Tod zunehmend bemerkbar. Er trifft Kollegen, Freunde und Verwandte und ruft Mitleid, Trauer, aber auch Gefühle der Befreiung hervor.

Ischas Tod lässt sich nicht so einfach bilanzieren. Er stürzt Connie in eine abgrundtiefe Verzweiflung, von der sie fast vernichtet wird. Das ist so erschütternd, dass man die letzten 30 Seiten („In Memoriam“) gar nicht zuende lesen will. Nolens volens tut man es doch und erfährt, dass Connie ihr „Herz von kleinauf geknetet“ hat, um den Kummer irgendwie auszuhalten. Indem sie Ischa schreibend neu erschafft, bekommt sie seinen Tod in den Griff.

Dieses Buch geht nicht spurlos am Leser vorüber. Connie Palmen erzählt so welthaltig und lebensvoll über die Liebe und den Tod, so aufrichtig und unprätentiös, dass man ihre Geschichte zurecht zur großen Bekenntnisdichtung zählen kann. Ihre zahlreichen Einsichten über Dichtung und Wahrheit lassen sich in der bittersüßen carpe-diem-Erkenntnis zusammenfassen: Greif zu, solange es geht. Denn irgendwann ist ein Leben nurmehr Fiktion und wird zu dem, was wir daraus machen.

Titelbild

Connie Palmen: I. M. Ischa Meijer, In Margine, In Memoriam.
Diogenes Verlag, Zürich 1999.
399 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3257062249

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