Radikale Passivität

Mario Bortolotto sucht das Dunkle um den Komponisten Richard Wagner zu erkunden

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mario Bortolottos weit verzweigte Studie über "Wagner. Das Dunkle" ist, das sei vorweg gesagt, kein Buch, das man als Einführung in Leben, Werk und Wirkung eines einflussreichen Komponisten aus dem 19. Jahrhundert empfehlen möchte. Es bedarf etlicher Kenntnisse auf dem Gebiet der Musikwissenschaft und eines Interesses für kulturtheoretische Detailfragen jener Zeit der décadence, will man aus der Lektüre einen Nutzen ziehen.

Kein Zweifel, Bortolottos Ausführungen, denen man ihre Provenienz aus der Musikkritik zuweilen anmerkt, stellen ein Werk für Eingeweihte dar, das mit seinen verästelten, manchmal verwickelten Forschungsgängen in der Liste der Wagner-Literatur den Platz eines Standardwerkes behaupten darf. Der Text nimmt seinen Ausgang in einer Charakterisierung des Wagnerismus und der Wagnerianer, spannt dann den Bogen über die Entstehungsgeschichte der ersten Opern zur "Ring"-Tetralogie bis hin zum Bühnenweihfestspiel des "Parsifal".

Das Dunkle nun, dem Bortolotto bei Wagner nachspürt, tut sich allein schon auf in der Differenz zwischen den in den theoretischen Schriften oder auch in Briefen festgehaltenen Forderungen und der jeweiligen Realisation eines Werkes auf der Bühne. Bortolotto hält fest: "Vollständig unmöglich wäre es, in dem psychischen und verbalen Amalgam Ernsthaftigkeit, Lüge, Ästhetizismus, Egoismus, Pose und grenzenlose Großzügigkeit voneinander zu trennen." Und an anderer Stelle: "Nur die größten Dummköpfe in Bayreuth konnten unterstellen, daß nach Aufstellung der Gebote in Oper und Drama daraus gleichsam notwendig die großen Partituren Wagners hervorgingen." Wagner nimmt unablässig Korrekturen an seinen Arbeiten vor; dabei karikiert er nicht selten sich selbst. Als exemplarisch dafür steht der "Tannhäuser" ein und, zuvorderst, die lange sich hinziehende, unterbrochene Arbeit am "Ring". Auch dass sich Wagner nach dem "Tristan" mit der Komposition der "Meistersinger" dem Fach der Komödie zuwendet, hat manchen Geist verstört und zur Ablehnung des Werks getrieben. Theodor W. Adornos bekannter "Versuch über Wagner" ist Bortolotto ein Beleg dafür, dass der an gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen vorab Interessierte es notwendig versäumt, das Individuum als psychologisches Zentrum der Zufälligkeit in Betracht zu ziehen.

Bortolottos eigenes methodisches Vorgehen zielt daher auch nicht a limine auf musiksoziologische Erkenntnisse ab, wiewohl er die Einsichten Adornos für seine Explikationen durchaus zu schätzen weiß. In der Ferne zum Soziologischen mag ein Grund liegen dafür, dass er ein so wichtiges Werk wie Lacoue-Labarthes "Musica Ficta (Figures de Wagner)" (1991), in dem es um eine an Walter Benjamin orientierte Fragestellung nach der Interrelation von Ästhetik und Politik geht, nicht berücksichtigt hat.

Die Diskussion um Tradition und Fortschritt, wie sie sich vornehmlich an den "Meistersingern" entzündet hat, führt Bortolotto zu der Bemerkung: "Die Meistersinger verkünden die Regel: man darf nicht von den Umständen der Zeit absehen; es ist aber auch das Gegenteil nicht zulässig, die tödliche Bedeutung, die Aphasie, den Sprachverlust des Neuen nicht zu kennen: das würde sich im ersten Falle auf die démodés beziehen, auf die Altmodischen, im zweiten auf die schwachsinnige Idee der Avantgarde." Das klingt nach einer Einsicht in die Notwendigkeit des Weder-Noch auf der Basis eines Sowohl-Als-auch.

Einen breiten Raum widmet Bortolotto Friedrich Nietzsches weitschweifigen Auseinandersetzungen mit Wagner. Der philologisch nicht gerade zuverlässige Nietzsche gilt Bortolotto in seinen Invektiven als eine Art "Clausewitz des musikalischen Lebens", der weder die innere Bedeutung des "Rings", noch dessen harmonischen Verlauf verstanden habe und dem es in erster Linie darum gegangen sei, die Ekstase der Wagner'schen Musik gegenüber seiner eigenen Vorstellung von Ekstase als "eine träge Passivität und daher gefälscht" zu entlarven. Nietzsches Bekundungen über Wagner schwanken in ihrer Widersprüchlichkeit zwischen uneingestandener, oft auch erklärter Bewunderung und vehementer Abwehr. Das Dunkle, um darauf zurück zu kommen, äußert sich bei Wagner als Motiv in den Opern der Reifezeit selbst. Im "Tristan" ist es das Dunkel der Nacht der Liebenden; in den "Meistersingern" schleicht es sich in die Verwirrungen der Figur des Hans Sachs ein; bei Parsifal schließlich herrscht es im Sinne des Gedächtnisverlusts, vorausweisend auf eine "noche oscura". Zu einem Eindruck vom Dunkeln kann auch der Hörer gelangen, wenn er sich der Wirksamkeit des Motiv-Geflechts im "Ring" aussetzt, "wenn man im sinfonischen Fluß ein Thema hört, das keinen unmittelbaren Bezug zu dem hat, was auf der Szene erscheint oder was kommen wird. Es sind dies Verbindungen mit dem, was nur gedacht ist und nicht ausgesprochen, sondern dunkel bleibt; Verbindungen auch mit dem, was das Schicksal vorbereitet und wovon das Thema der unbewußte Ort ist." Dies Unvorhersehbare, ja Unvorhörbare des harmonischen Verlaufs fordert letztlich eine radikale Passivität des Hörers ein, die bereits auf Praktiken der Neuen Musik vorausweist.

Die Fachkundigen unter den Lesern von Bortolottos Buch werden manche Erwägungen selbst überprüfen und nachvollziehen können, dann nämlich, wenn eine Detailanalyse an ausgewählten Kompositionsabschnitten vor allem der Spätwerke mit Hilfe zahlreicher Notenbeispiele vorgeführt wird. Und die allererst an den literarischen Zeugnissen von Mythen und Legenden Interessierten kommen nicht zu kurz, wenn Bortolotto auf Wagners Abweichungen bei der Erstellung des Librettos eingeht. Im Fall des "Parsifal" etwa konstatiert er einen wahrhaften "Synkretismus" aus christologischen, islamischen und buddhistischen Versatzstücken. Bei aller dezidierten Kritik am Künstlertum bleibt nach der Lektüre eine ungemeine Wertschätzung bestehen, die mitunter dazu verleitet, sich dem Werk Wagners erneut zuzuwenden oder doch wenigstens wieder einmal in aller Passivität seiner Musik zu lauschen.


Titelbild

Mario Bortolotto: Wagner. Das Dunkle.
Übersetzt aus dem Italienschen von ##.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2007.
459 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783882210217

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