Metamorphosen, überfällig

Über die erste kommentierte Edition von Peter Weiss' "Abschied von den Eltern"

Von Ute LuckhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Luckhardt und Tom BeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tom Beier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus einem Ei schlüpft eine Raupe, die sich durch die Pflanzenwelt frisst, bis sie sich verpuppt. Das Kriechtier entwickelt sich in einem Kokon zum Schmetterling.

Mit den Bildern der Metamorphose beschreibt der Erzähler in Peter Weiss' "Abschied von den Eltern" seinen Weggang von den beiden "Portalfiguren seines Lebens", die er "nie fassen und deuten" wird können. Erst der Tod beider Eltern und die Trauer um den "gänzlich missglückten Versuch von Zusammenleben" führt den verlorenen Sohn zu den Eltern zurück. Bei seiner Heimkehr wird er aber nicht mit einem Festmahl empfangen, vielmehr ergeht es ihm wie Franz Kafkas verlorenem Sohn, der nur über die Bilder der Erinnerung einen Zugang findet, zu dem, was man Familie nennt.

Es war überfällig. Nun ist auch Peter Weiss' Erzählung, die 1961 erstmals publiziert wurde, in der Suhrkamp BasisBibliothek erschienen. Dass "Abschied von den Eltern" in der BasisBibliothek in einer Phalanx mit Georg Büchners "Lenz" oder Bertolt Brechts "Leben des Galilei" steht, erfreut sicher auch die kleine, aber feine Peter Weiss-Gemeinde. Weiss - langjähriger und treuer Suhrkamp-Autor wie schon sein Jugendidol Hermann Hesse, von dem er sich allerdings später literarisch und weltanschaulich weit entfernte - kann sich im Jenseits, an das er nicht glaubte, darüber auch freuen - falls es so etwas doch gibt. Jedenfalls werden doch in der BasisBibliothek jene "bunten Bücher, mit denen ich in der Schule glücklich gewesen wäre" (Rolf Michaelis in der "Zeit"), veröffentlicht. Doch Peter Weiss war in der Schule ebenfalls nicht glücklich. Auch davon handelt die autobiografische Erzählung.

"Text und Kommentar" verspricht die BasisBibliothek. Ersterer folgt in der vorliegenden Ausgabe dem zweiten Band der sechsbändigen, 1991 ebenfalls bei Suhrkamp erschienen Ausgabe der "Werke" und wurde neu durchgesehen. Der Kommentar enthält laut Verlag "alle für das Verständnis des Buches erforderlichen Informationen und Materialien". Neben einer Zeittafel sind dies Angabe über die Text- und Entstehungsgeschichte, Deutungsansätze in Feuilleton und Forschung, umfangreiche Literaturhinweise sowie ausführliche Wort- und Sacherläuterungen.

Der dem Text beigefügte "Leitfaden für die Benutzung der Suhrkamp BasisBibliothek" ist so kurz wie praktikabel. Mit einem Stern gekennzeichnete Wörter im Text werden am Außenrand kurz erläutert. Den in die Jahre gekommenen, durchschnittlich gebildeten Leser mag verwundern, dass dort "Grammofon" mit "Plattenspieler" und "Zellofan" mit "Durchsichtige Folie" erklärt ist. Für die Zielgruppe der Ausgabe - Schüler und Studenten - sind solche Erläuterungen aber durchaus angebracht, zumal auch die "hermafroditische Liebe" und die "Ulanen" zu ihrem Erläuterungsrecht kommen. Mit Häkchen gekennzeichnete Passagen verweisen auf die hilfreichen Wort- und Sacherläuterungen im Anhang. Hier werden Einflüsse des Schwedischen auf den Sprachgebrauch des während der Nazi-Zeit im Exil lebenden Autors ebenso dargestellt wie biografische Bezüge und Aspekte der Textvariation. So erfährt der Leser etwa, dass "Als ich an Haller schrieb" den autobiografischen Bezug zu einem Brief von Weiss an Hesse aus dem Jahre 1937 beinhaltet. Und wer wüsste - Hand aufs Herz - ohne die Erläuterung, dass "Mucki" eine von Arpad Schmidhammer 1905 erfundene Kinderbuch-Figur ist, die Weiss zudem in "Abschied" stark subjektiv verfremdet hat?

Die Zeilenzählung am Innenrand des Buches sowie die Fußzeile mit Angabe des Text- beziehungsweise Kommentarteils, in dem man sich gerade befindet, erleichtern den schulischen oder universitären Gebrauch der Ausgabe gewiss. Die Zeittafel führt die wesentlichen Etappen des persönlichen, künstlerischen und politischen Werdegangs des Autors an. Zu entnehmen ist ihr etwa, dass Weiss 1937 und 1938 zu Hermann Hesse nach Montagnola im Tessin reiste und bereits 1967, also nur wenige Jahre nach der sozialistischen Revolution, nach Kuba fuhr. Nicht nur die geografischen, auch die ideologischen Räume, die Weiss in seinem Leben durchmessen hat, lassen sich hier ablesen.

Aus der Text- und Entstehungsgeschichte erfährt man, dass der Titel "Abschied von den Eltern" auf einen Vorschlag Hans Magnus Enzensbergers zurückgeht, mit dem Weiss sich später das eine oder andere ideologische Gefecht lieferte. Auch dass Walter Höllerer die Publikation seiner frühen Werke bei Suhrkamp förderte, ist eine interessante Information. Weiss hatte zuvor eine Lebens- und Schaffenskrise, die bei ihm "ein Gefühl des Sitzenbleibens" hervorrief, klärt der Kommentar hier auf. Ebenfalls darüber, dass eine umfangreiche Psychoanalyse daraus folgte, die in "Abschied" unverkennbar ihre Spuren hinterlassen hat.

Die Deutungsansätze geben einen ersten Überblick über die überwiegend positive Aufnahme der Erzählung im Feuilleton; aber auch in der Wissenschaft, die sich besonders mit Gattungsfragen beschäftigte. Zu erfahren ist hier, dass kontrovers diskutiert wurde, ob "Abschied" Autobiografie, (klassischer) Bildungs-, Künstler-Roman oder Familienchronik ist.

Soghaft zieht der Erzähler den Leser in seine Vergangenheit, ohne Absatz, ohne Kapiteleinteilung, springend von Zeitebene zu Zeitebene. Zwischen Realität und Traum entwirft er ein Familiendrama, das sich in der Wirklichkeit des Autors nahezu genau so abgespielt haben mag. Dennoch fällt es in Anbetracht der hoch artifiziellen Form dieses durchkomponierten Erinnerungsprozesses, mit seinen verstörend starken Bildern schwer, das Ich durch den Autor Peter Weiss zu ersetzen, denn zu groß wäre die Nähe zur Selbstverständigungs- und Rechtfertigungsliteratur biografischer Ausrichtung.

Ein Protagonist dieses Familiendramas ist der Vater, der sich dem Sohn als "unangreifbar", in sich verschlossen und als abwesend einprägt. Er selbst ist Leidender an dieser Familie, bietet aber für den Erzähler "Ansätze von Möglichkeiten einer anderen Zusammengehörigkeit", die sich jedoch nie realisieren. Dennoch begegnet ihm der Sohn empathisch, wenn er in Erinnerung an die letzte Begegnung mit dem Vater mutmaßt, dass, "wenn er außer Hauses war [...], er vielleicht Zärtlichkeit für seine Kinder spüren und Verlangen nach ihnen" haben mochte. Von der Mutter mit ihrer Omnipotenz und ihrer als erdrückend erfahrenen Körperlichkeit, in der das "Wilde und Unbändige" herrscht, hingegen geht Gefahr aus, sie grenzt Räume ein, aus deren Enge der bedrohte Sohn auf den Dachboden, in den Garten, in Tagträume flieht und dort sein "Exil" findet. Anhand von Bruchstücken, die das Kind auf dem Dachboden findet, fantasiert es sich die Vorgeschichte seiner Eltern als Romanze zwischen einem Kriegshelden des Ersten Weltkrieges und einer gefeierten Schauspielerin. Erst viel später, in der Gegenwart des Schreibens, reflektiert der Erzähler das verfehlte Leben seiner Mutter, die der Familie ihren Ruhm opfert und die Liebe seines Vaters zu ihr, die in einem Feldpostbrief aus dem Jahre 1915 dokumentiert ist.

Während das Kind auf dem Dachboden seine Allmachtsfantasien auslebt, bevölkern tags die Nazis die Straßen und nachts im Bett der Sandmann, Ungeheuer und große Tiere seine Träume, die ihn zu ersticken und vernichten drohen. Er wird krank, fiebert und lernt seinen Körper, die Enge und den Terror der Familie sowie seine Existenz als Ausgestoßener (als Nichtarier, wie ihm der etwas ältere Halbbruder Gottfried eröffnet) mit seiner Fantasie zu überwinden. Nur noch einmal tritt die Realität schmerzhaft mit dem Tod der geliebten und begehrten Schwester Margit an ihn heran. Doch schon hier deutet sich ein möglicher Ausstieg an, denn während Margit mit dem Tod kämpft, malt er sein erstes großes Bild. Dieser Tod leitet den Untergang, das Sterben der Familie ein, er ist aber auch Anlass für den Pubertierenden, sich allmählich aus einer Vergangenheit zu befreien, zu "fliegen".

In den Büchern, dem "scheinbar Unorganisierten, in einer Welt, die den Gesetzen der äußeren Welt nicht entspricht", sucht er das Grauen. Jede Phase seiner Lesesozialisation vom "Struwwelpeter" über Märchen bis zu Knut Hamsuns "Hunger" und Fjodor Dostojewskis "Idiot" dient der Suche nach sich selbst. Zunehmend dissoziiert die einengende Wirklichkeit zu surrealen Bildern, besonders einprägsam in der Schilderung seiner durch den Vater vermittelten Anstellung in einem Warenhaus. "In diesem gläsernen Terrarium pries ich den Überfluß des Warenhauses, umgab mich mit Schirmen und Birnen, Stäben und Fäden, Scheren und Gewehren, Kämmen und Schwämmen, Bürsten und Würsten, Nägeln und Kegeln, Pfeifen und Seifen, Hüten und Tüten, Beilen und Pfeilen, und nahm selbst die Gestalt einer verzückt sich darbietenden Puppe an."

Die äußere Welt ist Terror, verwirrt, lenkt ab, verweigert den Sinn. Dem entgegen setzt das Ich die auf Papier gebannten Bilder seiner Innenwelt, über die es sich mit seinem Freund Jacques verständigt. Dieser und seine späteren Weggefährten Max B. und Hermann Hesse helfen dem Ich bei dem lang anhaltenden, schließlich endgültigen Abschied von den Eltern, indem sie ihm zur Rückkehr zu sich selbst verhelfen. Der Weg führt ihn durch eine klösterlich-mönchische Existenzform, in der er sich ausschließlich seinen Bildern widmet, zu einem nunmehr sinnlichen und nicht nur träumerischen Wohlbefinden in der Natur, hin zu erfüllter Sexualität. "Das Ich, das ich mit mir schleppte war verbraucht, zerstört, untauglich, es musste untergehen. Ich musste lernen, mit neuen Sinnen zu erleben."

Jetzt kann er sich von "der Bilderwelt seiner Jugendjahre, diesen Totentänzen, Weltuntergängen und Traumlandschaften" ohne Groll verabschieden, die seine Mutter zum Teil während der Vorbereitung auf die Emigration nach Schweden vernichtet hat. Den gleichzeitigen Untergang der Zivilisation in der politischen und gesellschaftlichen Realität, mit dem sich Peter Weiss sowohl in "Fluchtpunkt" als auch in der "Ästhetik des Widerstandes" intensiv und nicht weniger ausdrucksstark beschäftigt hat, geriet dem Ich, wie der Erzähler rückblickend auf diese Phase der Selbst- und Sinnsuche feststellt, damals nicht in den Blick.

Die Erzählung "Abschied von den Eltern" lädt weder zur Identifikation mit dem gedrückten und terrorisierten Kind und Jugendlichen ein, noch fordert sie zur kollektiven Anklage der Elterngeneration auf. Sie sperrt sich gegen vorschnelle Vereinnahmung und schnellen Konsum, zieht den Leser jedoch durch die erzählerisch virtuos erzeugte Authentizität in seinen Bann. Die in einen "hart gepressten" und ebenso sparsam wie unkonventionell interpungierten "Block" gebannte Erzählung, wie es Weiss formulierte, erlaubt den Lesern kaum, zwischendurch abzuschweifen oder das Buch zur Seite zu legen.


Titelbild

Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Text und Kommentar.
Kommentiert von Axel Schmolke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
192 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-13: 9783518188774

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