Einer aufrecht Gebeugten

Zum 25. Mal jährt sich am 5. Mai der Todestag der Schriftstellerin Irmgard Keun

Von Beate KennedyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beate Kennedy

Ihre neusachlichen Romane "Gilgi, eine von uns" und "Das kunstseidene Mädchen" machten Irmgard Keun (1905-1982) zu Beginn der 1930er-Jahre schlagartig berühmt. Die nationalsozialistische Diktatur beendete ihre steile Karriere und hinterließ, wie auch das europäische Exil und die bundesrepublikanische Nachkriegszeit, ihre Spuren in einem Werk, das noch immer nur wenigen bekannt ist. Dabei gibt es auf pointierte Art Einblick in die Nachtseite deutscher Kultur, indem es das zumeist burleske, zuweilen aber auch jämmerliche Verhältnis der ganz gewöhnlichen Sucher des kleinen Glücks zu Macht und Zeitgeist bescheint.

"Deutschland soll umerzogen werden zur Demokratie. Wann hätte je Erziehung ein gewünschtes Resultat gehabt?" - Der da spricht ist Ferdinand, seines Zeichens Romanfigur Keuns, und als Kriegsheimkehrer inmitten "blühender Ruinen" und Schwarzmarktexistenzen Ende der 1940er-Jahre vollauf berechtigt zum Pessimismus. Seine Schöpferin teilt nicht nur den leeren Geldbeutel mit ihm: "Es ist nicht einfach, heute in Deutschland zu schreiben", lässt sie ihn klagen, und wer Keuns Schriftstellerkarriere von 1931 bis 1961 Revue passieren lässt, fragt sich: war es das je?

War es einfach, 1931 den mit Schlagern unterlegten Erstling "Gilgi, eine von uns" abzuliefern, und dafür Tucholskys Lob ("[...] Eine schreibende Frau mit Humor... Hier arbeitet ein Talent.") einzusammeln? Womöglich ja, pulsiert doch die atemlose Erzählung des ehrgeizigen Bürofräuleins Gilgi ganz im Tempo der Spätweimarer Zeit. War es einfach, mit dem "Kunstseidenen Mädchen", diesem Publikumsliebling auch heutiger Buchhandlungstresen und Theaterbühnen, 1932 gleich noch einen Erfolg hinzulegen? Wohl schon - auf Ruhm schwimmt sich's gut.

Aber einfach noch, als bekennende Gegnerin von Bespitzelung und Mief 1935 rebellische Kindergeschichten zu publizieren? Keun versuchte es anonym in den Feuilletons diverser Zeitungen und strebte parallel eine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer an, um dem Berufsverbot entgegenzuwirken, das mit der Entfernung ihrer Bücher aus dem Buchhandel ab Mai 1933 faktisch bestand. Ein aus heutiger Perspektive nahezu aussichtsloser Versuch - Keun wagte ihn trotzdem, mit allen artigen Mitteln des Einspruchs. Die Geschichten um "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" erzählen von Widerstand und Anpassung in der verdeckten Schreibweise, die in allen Diktaturen dieser Welt gepflegt wird: nimm historische oder literarisch geläufige Stoffe, pflege einen humorvollen oder getragenen Ton und desavouiere die Zensur durch die Löschung aller zensierfähigen Stellen. Die Dominanz der blinden Flecke, des Unausgesprochenen veranlasste die Kritik, die Kindergeschichten "harmlos" zu nennen. Nicht harmlos genug für die Prüfer der Aufnahme in das NS-Kultursortiment: Keuns Antrag wurde nicht bewilligt, und Keun tat endlich das, was sie politisch korrekterweise längst hätte tun sollen: sie emigrierte.

An den berühmten Kaffeehaustischchen des Exils, diesen transportablen Schreibstuben, entstand ihr Rückblick auf Deutschland: eine Geschichte der mittleren Leute, deren politischer Verstand nicht sehr weit, aber weit genug reicht, um zu erkennen, dass es die vom Leben Enttäuschten, die Verbitterten und Vergrämten sind, die sich vom Glanz der Aufmärsche und von Hitlers Enthusiasmus für sie, ja für sie betören lassen: "Dann sprachen sie weiter vom Führer, und Fräulein Fricke erzählte, daß sie ihm in ihrem Zimmer ein Altärchen errichtet hätte mit ständig brennenden Kerzen". Auf "Altärchen" dieser Art werden die Nachbarn, selbst die eigenen Kinder geopfert - erst "Nach Mitternacht", so der Titel des 1937 bei Querido in Amsterdam erschienenen Romans, ist ein Ende im Erzählen der Denunziationen erreicht; da hat der Zug, in dem die frisch Emigrierten sitzen, die Grenze passiert, und Keuns Protagonisten sind dort, wo sie selbst sich befindet - im Exil: "Die Dächer, die du siehst, sind nicht für dich gebaut. Das Brot, das du riechst, ist nicht für dich gebacken. Und die Sprache, die du hörst, wird nicht für dich gesprochen".

Das Signum des Exils, die primäre Empfindung der Fremdheit bestimmt Keuns Prosa der folgenden Jahre, die Romane "D-Zug Dritter Klasse", wie auch "Das Kind aller Länder". Erneut verfolgt der erstgenannte Roman die Lebenswege kleiner Leute in Nazi-Deutschland, die mehr zufällig als geplant auf abenteuerliche Weise ins Ausland führen. Das Abenteuer ist auch hier durch kleine Verfehlungen in Gang gebracht, deren unangenehmen Folgen man sich durch Flucht zu entziehen sucht; die Flucht wiederum wird durch den erschwerten Grenzübertritt zur Angelegenheit auf Leben und Tod.

Im Roman "Kind aller Länder" versuchen die entwurzelten Protagonisten - stets erfolglos - jenseits der Grenze heimisch zu werden. Der kindliche Blick, der schon die Erzählperspektive in "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" bestimmte, ermöglicht hier detailgetreue Aufnahmen der Nuancen des Alltags in der Emigration, in denen das Private und das Politische, das Nebensächliche und das Historische in einer für die Atmosphäre der Keun'schen Romane typischen Dosierung verabreicht werden.

So unterschiedlich Keuns Exilerzählungen konzipiert sind, eint sie doch die Zusammenstellung ihres umfangreichen Personals: die zahlreichen Figuren sind allesamt Deutsche einer instabilen Mittelschicht, deren Leben, ohnehin in Tumult befindlich, durch die Erfahrung von Nationalsozialismus und Auswanderung erst recht aus den Fugen gerät. Nazi-Deutschland dumpf und eng, die Nachbarländer ungastlich und fremd: die Figuren Keuns befinden sich ständig im Transit, ein Zuhause gab und gibt es nicht. Vor der Folie der jeweils aktuellen politischen Verhältnisse stehen sie immer als Verlierer, nie als Gewinner da, und zwar auch dann, als die Karten längst neu gemischt sind und das Blatt sich hätte wenden müssen.

"Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen" - eine schon vom Titel her auf ihr Scheitern angelegte Figur - ist auch so ein Antiheld, ein pragmatischer Kriegsheimkehrer, der sich in einer von Trümmerfrauen dominierten Welt mühsam zurechtfindet und die kleinen Pläne, derer er in seiner desillusionierten Haltung noch fähig ist, je nach Bedarf und Notwendigkeit abändert - oder wieder aufgibt; am Schluss sogar selbst gänzlich regrediert. Das hat wenig Aussicht, "ein Glanz" zu werden - und das wollten doch Keuns junge Gestalten, Gilgi und Doris, so sehr. Diese aber hatten ihren Traum noch nicht ganz ausgeträumt, sie gingen nur, als späte "neue Frauen", irgendwo verloren - nein, nicht im so genannten Gang der Geschichte, eher in dem "Gewühl von zehn blonden Windjacken", das schon im "Kunstseidenen Mädchen" die böse Botschaft des Kommenden überbringt.

Vielleicht wird auch ihnen zum Verhängnis, dass sie, wie alle Figuren Keuns, mit einem formidablen Fundus an Privatheit ausgestattet sind, der von vorne herein zu politischen Kräfteverhältnissen in Opposition steht. Der Ehrgeiz einer Gilgi, die erotische Abenteuerlust einer Doris, die Frechheit eines namenlosen Mädchens, die Hilfsbedürftigkeit eines Lenchens, die notgeborene Weltläufigkeit einer Kully, die sanfte Resignation eines Ferdinand: hier gilt es nicht nur, eine absteigende Parade von zusehens melancholischeren Lebenshaltungen zu besichtigen, sondern auch die Ausprägung von Eigenschaften, die überhaupt nicht heldentauglich sind. Die gezeigten Verhaltensweisen offerieren stets nur Scheinalternativen, wo in einer gegebenen Lage eine entschiedene Haltung gefordert wäre.

Keuns Figuren schaffen es nicht, ihre kleinen Eigenarten dem großen Ganzen in irgendeiner sinnvollen Form zuzuordnen. Weder befinden sie sich, innerhalb Deutschlands, als integre Regimekritiker im Untergrund, wie der dem "Siebten Kreuz" Anna Seghers' entflohene Georg Heisler, noch agieren sie, jenseits der Grenze, als aufklärerische Korrespondenten im Kreis des Exils der Gebildeten, wie Martin Korella und Marion Kammer in Klaus Manns "Der Vulkan". Eher noch ähneln sie den verängstigten Zögerern und Zauderern in Brechts "Furcht und Elend des Dritten Reiches", deren Unheil es ist, dass sie zu viele Fragen stellen - mit dem Unterschied, dass sie bei Keun gerade eben noch davonkommen, fast wie im Traum.

Wie dem Erwachenden dessen Bedeutung, so bleibt auch Keuns Figuren der Sinn ihrer Existenz nach der gelungenen Flucht verhüllt. Übrig bleibt ein eindrucksvoller Bilderreigen: Es ist einzig, was sie sehen und gesehen haben, wovon sie berichten können - und das ist für Abkömmlinge einer mit Blindheit geschlagenen Nation nicht das Wenigste. Ihr Verdienst ist, dass sie die Nacktheit des Kaisers rechtzeitig erkannten und benannten; ihr Verhängnis, dass es keinen gibt, der die Stimme der Unschuld hören will. Diese Stimme versagt denn auch der letzten von Keun ins Feld geführten Figur: Ferdinand nimmt die Politik erst gar nicht mehr in den Blick, nur noch ihre Folgen ("Auf die Ruinen war ich lange vorbereitet gewesen"); gibt sich keine Mühe, seine Vergangenheit als Mitläufer zu ergründen ("Ich glaube nicht, daß ich während meiner Rekrutenzeit gedacht habe. Große Schrecken löschen die Denkfähigkeit aus und setzen damit die Leidensfähigkeit herab"); fühlt sich "menschenmüde" und "vor Müdigkeit wach" und verengt zum Schluss seine Erzählung, dass es kein Durchkommen mehr gibt: "Vor einem breiten Bett stand ein schmaler Diwan, auf dem ein kleiner Dackelhund saß, der mir mit ernster, stiller Spannung entgegensah."

Nur noch einige Schritte und einige Buchstaben, und Ferdinand hat ein Ruhelager und Keun das Ende ihrer Romanschriftstellerei überhaupt erreicht. Kurze bis kürzeste Formen kennzeichnen die letzten zehn Jahre ihres Schaffens. Die in den späten 1940er-Jahren im NWDR gesendete Hörspielserie "Wolfgang und Agathe" beweist zum einen die Flexibilität der Autorin, auf veränderte Publikationsbedingungen zu reagieren; zum anderen zeigt sie - comedy-reif - den Versuch eines Normalverbraucher-Ehepaars, mit den Grotesken der Nazi-Zeit fertig zu werden. Der kritische Appeal dieser Schlagabtausche geht jedoch an den Ohren der Hörerschaft vorbei.

"Vor Müdigkeit wach" widmet Keun nun den Oberflächenphänomenen der bundesdeutschen 1950er-Jahre eine Reihe von Satiren. Anekdoten und Humoresken aus zum Teil anonym veröffentlichten Zeitungsartikeln aus den 1930er-Jahren werden jetzt wieder aufgelegt und fügen sich den neuen Texten problemlos ein. Als Unterhaltungsschriftstellerin im besten biederen Sinne wird Keun nun gerne gelesen, ist aber für die Literaturkritik bedeutungslos. Es benötigt beinahe zwei Jahrzehnte, in denen Exil- und Frauenforschung betrieben, eine linguistische Wende vollzogen und der literarische Kanon einer Neubewertung unterworfen wird, bis man Keun - und einen ihrer schönsten Texte - Ende der 1970er-Jahre wiederentdeckt.

Die "Bilder aus der Emigration" von 1947 sind als autobiografische Reflexionen intendiert; gelesen werden können sie als das stilisierte Schlaglicht auf eine Epoche, die nur einen Sommer dauern sollte und dann Winter um Winter nach sich zog: die Epoche der Literatur im Exil. Stefan Zweig, Joseph Roth, Erich Kästner, Ernst Toller, Egon Erwin Kisch sind die Protagonisten in Keuns Beschreibung von Leben, Schreiben und Sterben mit dem Rücken zu Deutschland. Mit poetischer Kraft nimmt sie hier Wesentliches vorweg, was in pragmatischer Form erst später erforscht worden ist.

Den Suchern nach einem literarischen Neubeginn legt sie mit diesen "Bildern" zuallererst die Rückschau nahe: auf dass sie die Guten im Gedächtnis behalten. Keun hat sich selbst mit ins Bild gesetzt, zu den unvergessenen Großen an den belgischen Cafétischen. Es hat nicht geholfen: die Erinnerung an sie ist durch Lücken brüchig. Aber wann hätte das Leiden des Narren je den König zu Tränen gerührt?