Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben

Dieter Thomäs Philosophie der Lebensgeschichte in einer Neuauflage

Von Waldemar KeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Kesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gertrude Stein betrachtete die Art, wie jemand sein Leben führt, als Versuch, es in die Form einer Narration zu bringen. Die Erzählung gewinnt dadurch die Funktion eines Mediums zur Fundierung der Lebensführung. An diesem Punkt setzt der an der Universität St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä an und untersucht, welcher Stellenwert dem Einsatz narrativer Mittel bei der sokratischen Frage zukommt, auf welche Weise man zu leben habe.

Es geht ihm um die ethische Perspektive der Erzählung, um den Nutzen sowohl eines narrativ konstruierten und Verbindlichkeit beanspruchenden Lebenslaufes wie der darin konstituierten beziehungsweise zu konstituierenden personalen Identität. "Erzähle dich selbst" weist den Geltungsanspruch eines "narrative turn" auf ethischem Gebiet zurück, der sich etwa im Postulat äußern kann, dass die Ordnung der Lebensgeschichte in Form der Erzählung einer "Fragmentierung des Ich" entgegenzuwirken vermag oder vereinzelt empfundenes Glück als Ausdruck eines gelungenen Lebens mittels einer narrativen Einbettung in einen "großen" Lebenszusammenhang gebracht werden kann. Thomä sieht die Forderung nach einem Leben in der Erzählung allerdings vor einem Begründungsproblem, an dem deren Rechtfertigung scheitert. Bei der Frage, welches Leben man führen will, erscheint die Vereinnahmung durch die Maßgaben der Diegesis als Gefährdung des glücklichen Lebensvollzugs.

Mit der "autobiographischen Triade" von einem Erzähler als Autor der Geschichte, ihrem Protagonisten und der handelnden und lebensführenden Person ist ein Modell vorgegeben, in dem eine Typologie von unterschiedlichen Positionen zum prekären Verhältnis von Leben und Erzählen der Kritik unterzogen wird. Diese Typologie manifestiert sich an den Termini "Selbstbestimmung", "Selbstfindung" und "Selbsterfindung". Die im ersten Teil vorgestellten Theorien von Sören Kierkegaard, Jürgen Habermas und John Rawls betrachten die Erzählung als Selbstbestimmungsmedium der Person, die sich im "selbsterkundenden" Rückgriff auf ihre Lebensgeschichte definiert und zu ihrer Handlungsgrundlage wählt. Der Protagonist ist hierbei ihre Bezugsinstanz, womit freilich die reklamierte Freiheit der Bestimmung wiederum zurückgelassen wird. Theoretiker der Selbstfindung wie Alasdair MacIntyre nehmen deshalb die Behauptung der Möglichkeit eines externen Zugangs zur Lebensgeschichte zurück und sehen die Selbstvergewisserung in der Lebensgeschichte als Selbstbindung, durch die die Person im Protagonisten aufgeht: "Das noch zu führende Leben wird zu einer Fortsetzungsgeschichte des vergangenen." Der Mensch "bewohnt" dadurch sozusagen seine Geschichte. Was jedoch hier sowie bei den Theoretikern der Selbstbestimmung nicht berücksichtigt wurde, ist das Gestaltungspotential des Erzählers, der die Geschichte frei erschafft und seine Identität als Ausdruck seiner Kreativität erfindet. Bei Denkern der Selbsterfindung wie Richard Rorty und Friedrich Nietzsche steht die lebende Person nunmehr im Schatten des Erzählers, ihr Handlungsfreiraum ist auf den sprachlichen Akt eingeengt.

Da sich weder der Protagonist noch der Erzähler als adäquate Instanz der Person im Hinblick auf die Beurteilung ihres eigenen Lebens empfohlen haben, plädiert Thomä für die von Aristoteles und Rousseau entlehnte Idee der "Selbstliebe" als praktische Selbstbeziehung, die einen Regress auf die Erzählung erlaubt, ohne dass die Rückbindung daran stringent und total durchgeführt werden muss. Die Selbstliebe ermöglicht eine Position, die sich zum narrativen Modell exzentrisch verhält und gewährleistet, dass man einen Handlungs- und Identitätsspielraum gewinnt, der sich aus der Preisgabe eines in der Totalität einer Erzählung spiegelnden Lebens als Ganzem ergibt. Die formale Bedingung zur Selbstliebe oder Selbstbejahung ist die Distanzierung zum eigenen Leben, indem man sich zur Lebensgeschichte so positioniert, dass man Verantwortung für vergangene Taten ohne Selbstentzweiung übernehmen kann und nicht in der Erzählung aufgeht: "Wer mit sich im reinen ist, wird sich leicht mir einer ziemlich kursorischen Lesart der eigenen Vergangenheit begnügen".

"Erzähle dich selbst" bietet eine ausgezeichnete Wissenschaftsprosa, in der der so häufig zu verspürenden Krampf akademischen Sprechens weitestgehend ausbleibt. Diese an den Romantheorien von Georg Lukács, Michail Bachtin und Walter Benjamin geschulte "Ethik der Erzählung" krankt allein an dem unterstellten Begriff der Erzählung, die ausschließlich als hermetische Bedrohung dargestellt wird. Wenn sich der hier unterbreitete Vorschlag, wie zu leben sei, gegen die Festlegung der Identität auf einen verselbstständigten Lebenslauf wendet, dann fehlt ihm die Perspektive, dass Kontinuität nicht zwangsläufig mit Linearität gleichzusetzen ist. Die Exemplarität des zum Schluss angeführten Mediziners, der nach seiner Ausbildung in eine Krise gerät und um einen Neubeginn ringt, hält sich in verhältnismäßig engen Grenzen, da sich auch gebrochene Lebensgeschichten denken lassen, in denen eine Krise nicht gleich einen Bruch bedeutet, sondern zu einer Perspektivverschiebung hinführt, die sich wiederum narrativ erschließen ließe.

Auch eine gebrochene Erzählung ist eine Erzählung, die ohne weiteres auch narrative Leerstellen verkraften kann, ohne dabei ihren Status als Erzählung einzubüßen. Das Buch wäre um ein wesentliches reicher geworden, hätte Dieter Thomä seine aufgrund der Klarheit der Ausführungen begrüßenswerte Typologie aufgebrochen und Möglichkeiten von Komplementärbeziehungen untersucht. So statisch nämlich sein Begriff von Erzählung ist, so ungreifbar bleibt das Selbst, das sich erzählt. Wenn es zum Schluss mit Robert Musil heißt: "Am Ende ist die lebendige Geschichte gar keine Geschichte", so denkt man sich unwillkürlich: Es erzähle nur jemand, der etwas zu erzählen hat.


Titelbild

Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
382 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518294178

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