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Elfriede Jelineks "Privatroman" vereint Gesten von Ohnmacht und Macht

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Jelineks "Neid" ist, einerseits, ganz so wie viele andere ihrer Werke aus den letzten Jahrzehnten. Da sind die wohlbekannten Hassobjekte: der Sport, der Fremdenverkehr, die Natur wie auch ihre Ausbeutung, Österreich, seine Bewohner und ihre Nazi-Vergangenheit - um nur die wichtigsten zu nennen. Eine Liste dessen, dem ihre Sympathie gilt, wäre bedeutend kürzer. Ebenso etabliert sind viele der literarischen Mittel: kunstreiche Verknüpfungen und scheinbare Abschweifungen, die Zusammenhänge ebenso aufzeigen wie es die unerschöpflichen Wortspiele tun, die bis zum Kalauer reichen, doch bei dieser Autorin nie albern geraten. Vielmehr dominiert ein erbitterter Sarkasmus, der die Grundlage von Hass und Ablehnung zeigt: Nur wer eine hohe Meinung darüber hat, was Menschen erreichen könnten, kann sich so andauernd darüber empören, wie kümmerlich doch das Vorhandene ist und über das Zerstörungswerk, das ununterbrochen und mit großer Konsequenz verrichtet wird.

Immer wieder kommt Jelinek auf die Trias von Faschismus, Geschlechterverhältnis und Kapitalismus zu sprechen, mit ihren eigenen Mitteln, die sie aus einer verhunzten und zum Mittel von Gewalt reduzierten Sprache gewinnt. Dabei geht es niemals analytisch zu - wer danach sucht, welche Form der Unterdrückung Jelinek für ursprünglich und ursächlich hält, dürfte kaum fündig werden. Verbindungen stellt sie dagegen durch ihren virtuosen Umgang mit den Floskeln jener beschädigten Sprache her, der sie auf diese Weise doch ein erhebliches Potential an Erkenntnis zutraut: nämlich die beschädigten Verhältnisse nicht nur abzubilden, sondern sie sogar herausstellen zu können.

Man möchte zitieren; und darf es doch nicht, denn "Neid" ist, andererseits, ein "Privatroman", dessen erste beiden Kapitel (von vermutlich fünf) Jelinek bis jetzt auf ihre Homepage gestellt hat mit dem Vermerk, er dürfe "ohne ausdrückliche Erlaubnis in keiner Weise wiedergegeben oder zitiert werden". Neu sind damit Publikationsort und Genre - und hier müsste sich das Besondere dieses Werkes erweisen.

Wie heute "Neid", so haben früher manche bedeutende Romane Folge für Folge ihre ersten Leser erreicht, aufgeteilt auf mehrere Nummern einer Zeitschrift. Das prägte ihre Struktur: Spannungsbögen wie auch die Anordnung von inhaltlich Zusammengehörigem mussten dem Raum angepasst werden, der jeweils zur Verfügung stand. Am Ende jedes Abschnitts hatte im Idealfall ein Verlauf sowohl sein Ende gefunden als auch nicht - denn die Leser galt es zur weiteren Lektüre zu bewegen.

Ein Roman im Internet ist zumindest einem dieser Gesetze nicht unterworfen: dem Zwang, annähernd gleichlange Abschnitte zu produzieren. Tatsächlich ist das zweite Kapitel von "Neid" wesentlich kürzer als das erste. Und dem anderen Gesetz, dem des spannenden Handlungsaufbaus, entzieht sich Jelinek ohnehin. In dem, was bislang vorliegt, gibt es zwar eine Hauptfigur, die Geigenlehrerin Brigitte. Doch hat sie auf bislang gut hundert Seiten nicht mehr getan, als einen verschmutzten Ausriss aus einer Illustrierten aufzuheben und nach Hause zu tragen. Dass die realistische - oder pseudorealistische - Erzählung ihre Sache nicht ist, gesteht die Autorin (oder jenes Ich, das in "Neid" spricht) auch ganz offen ein.

"Neid" gehört damit zu den handlungsarmen Prosaarbeiten Jelineks, im Gegensatz zur "Klavierlehrerin" von 1983, deren Hauptfigur ebenfalls Musik unterrichtete und am ehesten einer linearen Handlung unterworfen war. Verglichen mit der Konservatoriumslehrerin Erika Kohut steht Brigitte sozial weit unten: Nachdem ihr Mann sie zugunsten einer jüngeren Frau verlassen hat, lehrt sie, ohne Hoffnung darauf, jemals etwas wie Kunstverständnis zu vermitteln, in einer herabgekommenen und schrumpfenden ehemaligen Bergwerksstadt das Spiel ihres Instruments. Damit ist sie zwar den sozial Hochstehenden des Städtchens zugeordnet, doch in jedem Sinne auf ein Abstellgleis rangiert.

Hoffnung gibt es zwar in Jelineks Romanen auch sonst nicht, aber meist doch Aussichten auf eine Handlung, die von der irrwitzigen Nachahmung von Splittern aus Trivialromanen in "wir sind lockvögel baby!" von 1970, die in der Summe überreizter Action doch wieder statisch wirkt, bis zur zerdehnten Darstellung weniger Bewegungen in "Die Kinder der Toten" von 1995 reichen; ein Roman, der an seinem Beginn und Ende aber auch Raffungen kennt. Bislang nichts dergleichen in "Neid"; und so stellt sich die Frage, was diesen "Privatroman" trägt.

Es ist das Private, das mit der Gattung Roman, die nächst dem Drama exemplarisch auf Öffentlichkeit gerichtet ist, spielt. Dass etwas öffentlich wird, öffentlich werden kann oder auch nicht, das wird mehrfach von einem Ich benannt. Dieses Ich plaudert, kommt auf die Hauptsache (auf Brigitte, auf den Ort, an dem nach dem Ende der Produktion und der Zerstörung von und durch die Natur nur die Alten bleiben, dessen Gesellschaft schrumpft und auf die Konsumsphäre hofft, auf Tourismus und Prostitution); das Ich schweift dann aber ab (spricht auch über Abschweifungen), entschuldigt für Nebensachen; da ist dann ein Todesmarsch von Gefangenen in den letzten Tagen des "Dritten Reiches", aber ist das eine Nebensache?

Jelinek führt in ihren "Privatroman" einen sicher gehandhabten Plauderton ein. Da dehnen sich Sätze, da geraten Leseransprachen vertraulich oder aggressiv, da blitzt scheinbar Mündliches auf, das doch in Wahrheit ein Schrift-Mündliches ist, eine literarische Umformung dessen, was so dahergesagt wird und dem nicht zu trauen ist (dem Dahergesagten und seiner Umformung; oder umgekehrt).

Doch entscheidend (und nach zwei Kapiteln noch nicht zu entscheiden) ist auch, wer da spricht. Das Genre verspricht Authentizität, und auf dem ersten Blick ist das Erzähl-Ich identisch mit der Autorin. Es spricht von Unverständnis, von Drohungen, von Ablehnung; und ein zeitnah zur Internet-Veröffentlichung platziertes Interview der realen Elfriede Jelinek in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem auch psychische Probleme der Autorin zum Thema werden, scheint diese Lesart zu stützen.

Jelinek sagt uns allen jetzt, wie schlecht es ihr geht, und kokettiert damit, dass sie damit doch nur nerve: Das wäre eine Lesart, die das Werk beschädigt. Man hat für eine solche Abfolge von auftrumpfender Kritik und beleidigtem Schmollen, wenn doch nicht alle jubeln, aus den letzten Jahren genug Beispiele bekannter Schriftsteller. Die meisten Protagonisten der Literaturdebatten nach 1989 forderten ein unerhörtes Maß an Liebe ein: Botho Strauss etwa, der meint, einen liberalistischen Totalitarismus zu attackieren und den beleidigten Dichter gibt, wenn nicht sogleich umfassender Beifall einsetzt; Martin Walser, dessen nationalistische Friedenspreisrede von Zuhörern wie Briefschreibern fast durchgängig beklatscht wurde und der trotz seines pseudoheroischen Bekennergestus an Auswanderung denkt, wenn er ein paar ablehnende Artikel lesen muss; und allen voran Günter Grass, der nach seinem verspäteten Bekenntnis, in der Waffen-SS gewesen zu sein, schon längst wieder obenauf ist und sich in bekannt dröhnender Manier als Opfer einer Medienkampagne präsentiert.

Wohin gehört in diesem Zusammenhang Jelineks "Privatroman"? Vieles weist bislang darauf hin, dass das Ich ein Kunst-Ich ist, das mit der Autorin gleich zu setzen fahrlässig wäre. Das scheinbar Mündliche des Werks ist stilisiert und entzieht sich somit wechselseitiger Kommunikation. Hinzu kommt die Gattungsregel, dass dieses Erzähl-Ich die Herrschaft über den Fortgang hat. Jelinek hat ihren Internet-Roman so angelegt, dass alles, was naiven, auf Technologie fixierten Anhängern des neuen Mediums als fortschrittlich gilt, verhindert ist. Es gibt keinerlei Einladung zur Diskussion, der Fortgang des Romans oder auch, wie angedroht, der Abbruch - alles wird allein von der Autorin entschieden, die zudem einen eingeschränkteren Gebrauch ihres Texts durchsetzt als er im Umgang mit gedruckten Büchern gängig ist. Kurz: Dem Jammern des Erzähl-Ich, missachtet zu sein, steht die äußerste Souveränität der Autorin gegenüber; und das Erzähl-Ich selbst widersteht fortgesetzt Erwartungen der Leser, indem eben doch wiederholt, abgeschweift, gemäkelt und genervt wird. So vereint der "Privatroman" Zerknirschung und Auftrumpfen, Ohnmacht und Macht in bewusstem Spiel.

Damit dementiert Jelinek, soweit bisher erkennbar, auf eine ganz neue Weise die Erwartung literarischer Authentizität und rettet so den poetischen Wert ihres ganz auf die Öffentlichkeit hin geschriebenen "Privatromans". Das Erzähl-Ich, in seiner Opferrolle, sieht sich als eigentlich schon Tote (und greift so das Wiedergänger-Motiv aus "Die Kinder der Toten" auf); daher der Neid auf die Lebenden, der im im vorangesetzten Titelbild - Hieronymus Boschs "Sieben Todsünden" - indessen nicht ohne Ironie als verwerflich gekennzeichnet ist. Tatsächlich wirken die scheinbar beneideten Lebenden selbst schon wie Tote, und die Autorin, die all dies sprachlich zu fassen vermag, als die wahrhaft Lebende. Wer also hat Anlass zum Neid? Vielleicht Brigitte. Die werden wir schon noch kennen lernen.