"Souverän sind lediglich die ewig icecreamlutschenden Kinder"

Der abschließende fünfte Band der Werkausgabe Albert Ehrensteins widmet sich seinen Aufsätzen und Essays

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Göttinger Wallstein Verlag ist der fünfte und abschließende Band der Werkausgabe des 1886 in Wien geborenen und 1950 in einem New Yorker Armenhospital verstorbenen Lyrikers und Erzählers Albert Ehrenstein erschienen. Als den Dichter "der bittersten Gedichte deutscher Sprache" bezeichnete ihn Kurt Pinthus posthum in der Neuauflage seiner Anthologie expressionistischer Lyrik "menschheitsdämmerung". Der Mensch sei "wie Schleim, gespuckt auf eine Schiene", liest man dort in Ehrensteins Gedicht "Ich bin des Lebens und des Todes müde". Starker Tobak sind diese Gedichte, ein "Leidender und Hasser, der stets auch ein großer Liebender war", sei Ehrenstein gewesen, so liest man auf dem Buchumschlag der Werkausgabe.

Nachdem die ersten vier Bände der Werkausgabe die Briefe, das erzählerische und vor allem dichterische Werk des Autors präsentierten, bietet nun der fünfte Band auf 500 Seiten eine Auswahl seiner vielfältigen Aufsätze und Essays. Die Zeitspanne reicht von 1906 bis 1950, bei den Texten handelt es sich hauptsächlich um Beiträge für verschiedenste Zeitungen und Zeitschriften, es finden sich aber auch unveröffentliche Manuskripte aus dem Nachlass. Ein umfangreicher Anhang vervollständigt die Ausgabe. "Dieser Band ist in gewisser Hinsicht der wichtigste für das Verständnis der Dichtungen Albert Ehrensteins", schreibt im Vorwort die Herausgeberin Hanni Mittelmann: "Die vorliegenden Feuilletons, Rezensionen, Essays, Aufrufe und Polemiken vermitteln in ihrer Gesamtheit das Programm des Dichters und Menschen und machen deutlich, daß Ehrensteins Ästhetik sich kompromißlos aus seinem ethischen Gewissen entwickelt, an dem alle Bereiche des menschlichen Lebens und Schaffens gemessen werden."

Die Schriften Ehrensteins sind in erster Linie chronologisch geordnet und in fünf Blöcke unterteilt: frühe Jahre in Wien und Berlin (mit einer kurzen Rezension, erschienen 1913 im "Berliner Tageblatt", zu Franz Kafkas erstem Buch "Betrachtung", in der Ehrensteins Fazit lautet: "Ein merkwürdig großes, ein merkwürdig feines Buch eines genial-zarten Dichters!"), die Zeit des Ersten Weltkrieges, die 1920er- und 1930er-Jahre, die den Schwerpunkt bilden. Die Herausgeberin hat diese Zeit in vier thematische Abschnitte unterteilt, darunter einen eigenen zu Karl Kraus, der den jungen Ehrenstein förderte und ihn als "Neutöner" pries, ihn später aber heftig attackierte.

Der vierte Block ist "Exil" benannt. Dort findet sich ein schlicht "Franz Kafka" genannter Beitrag für die New Yorker Wochenzeitung "Aufbau" - Ehrenstein emigrierte 1941 in die USA -, in dem Ehrenstein ein persönliches Dossier über den Menschen und Schriftsteller Kafka liefert. "Ich möchte behaupten, dass Kafkas Leben Selbstmord auf lange Distanz war", schreibt er. Er berichtet über seine Begegnungen mit Kafka in Wien und in Prag, zitiert seine eigene Rezension von 1913 (nicht ohne darauf hinzuweisen, die Kritik "noch vor der persönlichen Bekanntschaft mit Kafka" verfasst zu haben - also, sich gegen potentielle Vorwürfe verwehrend, eine Gefälligkeitsbesprechung unter Autoren abgeliefert zu haben), und fügt dann gallig an: "Wenige Kritiken so positiv erkennender Art dürften vor 30 Jahren über Kafka erschienen sein. Nach seinem Tode allerdings kam Kafka bei der Herde der Snobs in Mode." Ehrensteins Betrachtungen enden mit der Ursachenforschung: "Er starb an der verbrecherischen Erziehungsform Mitteleuropas, die das zarte Kind, den Heranwachsenden verängstigt, tyrannisiert, einschüchtert, terrorisiert statt die Jugend zu ermuntern, zum vollen Leben zu erziehen."

"Missbrauch der Macht" lautet programmatisch der Titel des letzten Blocks, der Ehrensteins verstreute autobiografische Schriften versammelt. Ehrenstein arbeitete im Exil an einer Autobiografie, konnte sie jedoch nicht mehr fertig stellen. "Ordnung gibt es wahrhaft nur in der Kunst", schreibt er in den 1920er-Jahren in einem kurzem "Lebensbericht", "noch nicht im Chaos der Realität." Er hatte wohl noch die Hoffnung auf dessen Bändigung, doch bekanntlich kam alles viel schlimmer. Albert Ehrenstein gehört zu den Jahrgängen, die mehrere Epochen durchleben mussten. Von der dem Untergang geweihten Donaumonarchie über die Weimarer Republik, die Machtergreifung 1933 - bei der Bücherverbrennung wurden auch seine Werke in die Flammen geworfen -, Jahre der Unsicherheit im Schweizer Exil, schließlich die Auswanderung in die USA als fast Sechzigjähriger, das Kriegsende, bis hin zur Neuordnung der Welt. Von daher ist der fünfte Band der Werkausgabe mehr als der Schlüssel zum Verständnis der Gedichte Albert Ehrensteins. Skeptisch-kämpferische Texte, die literarisch und zeitgeschichtlich noch immer bedeutsam sind - all dies bietet das Buch.

"Rund um New York" heißt einer der letzten Texte Ehrensteins, aus dem Nachlass, vermutlich 1950 geschrieben. Dieser Text beschreibt assoziativ und aus persönlicher Sichtweise Ehrensteins Eindrücke von Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wohin es ihn 1941 unfreiwillig verschlagen hat. Mehr als fünfzig Jahre später, im Zuge einer anhaltend angespannten Lage zwischen dem "alten Europa" und der neuen Welt, liest sich das noch immer sehr frisch und lebendig. Mögen seine Gedichte, der damaligen Zeit entsprechend, auch bitter sein, einen unvoreingenommen, ironischen Blick hat sich Ehrenstein trotz Not und Elend bewahrt. "Die europäischen Normalhumoristen täten wohl, ihre eigenen Fratzen und Affen aufs Korn zu nehmen, ehe sie sich an dem fast mustergültigen öffentlichen Gebaren der US-Menschheit zu reiben versuchen." Und dann springt einem dieser Satzanfang wahrlich ins Gesicht: "Souverän sind lediglich die ewig icecreamlutschenden Kinder ..." Glory, glory, hallelujah!

Im common sense, ein bisschen Friede-Freude-Eierkuchen-mäßig, nennt der Klappentext Ehrenstein einen "Wegbereiter des literarischen Expressionismus", weiter: einen "Klassiker der Moderne". Damit kann man den Sargdeckel schließen, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Das eigentlich Erstaunliche an Ehrenstein und seiner Generation geht damit verschütt: Die, die überlebten (man lese hierzu noch einmal den Anhang der "menschheitsdämmerung"), kennzeichnet trotz aller Verschiedenheit eines: ihre auch im Alter bewahrte Jugendlichkeit.

Der fünfte Band der Ehrenstein-Werkausgabe glänzt weiterhin durch seine bibliophile Aufmachung: schwarzer Vor- und Nachsatz, Frontispiz, schwarzes Lesebändchen, gutes Papier, ein überzeugender Satz, Fadenheftung. Wenn man dazu die editorische Arbeit berücksichtigt, ist der Preis absolut gerechtfertigt. Auf der anderen Seite das alte Dilemma: Wer außer Fachbibliotheken und wenigen Expressionismus-Spezialisten wird sich dieses Buch leisten mögen? Von daher ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass der Wallstein Verlag auch preiswertere "Best-of"-Einzelausgaben wie den "Gespensterklub" oder die Aphorismus-Sammlung "Kein Schrei weckt dies konservativ blökende Schlafvolk" im Programm hat.

Die Herausgeberin Hanni Mittelmann schreibt im Nachwort über Albert Ehrenstein: "Er kannte keine Loyalitäten als die zur Gerechtigkeit und Menschlichkeit." Sehr schade, wenn dies niemand überprüfen will.


Titelbild

Albert Ehrenstein: Aufsätze und Essays. Werke. Band 5.
Herausgegeben von Hanni Mittelmann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
608 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-10: 3892447195

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