Verräterischer Sprachgebrauch
Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933-1945 sind vollständig auf CD-Rom erschienen
Von Almut Vierhufe
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten", notiert Victor Klemperer am 11. Juni 1942.Trotz ständiger Angst vor der Entdeckung seiner Notizen durch die Gestapo und somit unter akuter Lebensgefahr setzt Klemperer sein Vorhaben einer akribischen Dokumentation der Nazi-Jahre durch. Die Superlative, mit denen die 1995 in zwei Bänden im Aufbau-Verlag erschienene Buchausgabe der Tagebücher in Rezensionen bedacht wurde, waren und sind gerechtfertigt: Klemperers Aufzeichnungen aus dem nationalsozialistischen Alltag, die weit über private und persönliche Notate und Reflexionen hinausgehen, wurden zu einem Bestseller.
In kurzer Folge erschienen auch die früheren und späteren Tagebücher Klemperers: 1919-1932 (2 Bände, 1996), 1945-1959 (2 Bände, 1999) sowie "Curriculum Vitae" (2 Bände, 1996), Klemperers Memoiren der Jahre 1881-1918, geschrieben in der Zeit des Terrors und geprägt von der von den Nazis erzwungenen Identitätsproblematik: "[...] ich vermag mein Deutschtum nicht mehr zu unterstreichen, die ganze nationale Ideologie ist mir einigermassen in die Brüche gegangen." (11. 1. 1938)
1997 erschienen die Tagebücher 1933-1945 in einer "Auswahl für junge Leser" und avancierten somit zur Pflichtlektüre in Schulen; die große Resonanz, auf die die Publikation der Tagebücher stieß, zeitigte in den folgenden Jahren auch filmische Dokumentationen und Berichte, mehrteilige Fernsehadaptionen, Biografien und Bildbände. Die Gründe für die große Faszination und das breite Interesse liegen in der Authentizität, der Unmittelbarkeit der Notizen, vergleichbar mit dem Tagebuch von Anne Frank, aber auch in der Genauigkeit der Aufzeichnungen und der - innerhalb der Textsorte "Tagebuch" eher unüblichen - reflektierten, ja distanzierten Beobachtung des Erlebten.
Berühmt sind bereits vor der Publikation der Tagebücher Klemperers Sprachdiagnosen und -analysen. "LTI - Lingua Tertii Imperii", Sprache des Dritten Reiches, nennt Klemperer seine Beobachtungen zur Sprache der Nazis (zuerst: 8. 7. 1941). Für die wissenschaftlichen Forschungen zur Sprache des und im Nationalsozialismus, für die Klemperers 1947 erschienener schmaler Band "LTI - Notizbuch eines Philologen" neben dem "Wörterbuch des Unmenschen" von Sternberger, Storz und Süskind längst zum Standardwerk gehörte, sind die Tagebücher besonders wertvoll. Nur in seinen Tagebüchern ist die Genese der "LTI", von der 1947 im "Notizbuch" nur eine kleine Auswahl erschien, nachzuvollziehen und zu erkennen. Klemperer ist von Anfang an bewusst, dass er mit der Autopsie der Sprache nicht nur Schlaglichter auf verräterische rhetorische Besonderheiten der Nazis wirft, sondern direkt in das verbrecherische Wesen des Dritten Reiches eindringt: "Aus ihrer Sprache ihren Geist feststellen. Das [m]uss den allgemeinsten, den untrüglichsten, den umfassendsten Steckbrief ergeben." (8. 7. 1941)
Tatsächlich dokumentierte die zweibändige Ausgabe der Tagebücher von 1995 nur einen (Bruch-)Teil der Aufzeichnungen, wie Walter Nowojski, der alle Tagebücher Klemperers transkribiert, bearbeitet, kommentiert und herausgegeben hat, in einem "Zeit"-Interview vom 26. 4. 2007 betont: 5.000 Typoskriptseiten sind von Klemperers Notizen allein zwischen 1933 und 1945 erhalten - ein Umfang, der eine fassliche, für ein breites Publikum gedachte Buchausgabe gesprengt hätte. Nowojski konzentrierte sich somit in seiner Auswahl auf Klemperers Notizen zur Judenverfolgung in Dresden, aber auch bereits auf die Studien zur "LTI", in denen sich die politische Entwicklung spiegelte. Vieles blieb ausgeklammert, vor allem die zahlreichen und umfangreichen Exzerpte aus Nazi-Schriftum und Tagespresse, die fast stenografischen Protokolle alltäglicher Begegnungen und Gespräche, die Klemperer als Quellen für seine Sprach- und Alltagsstudien heranzog. Das alles ist nun durch die Digitalisierung der gesamten Tagebücher greifbar: Woher bezog Klemperer seine Informationen, war er doch nach seiner Zwangsemeritierung und dem Bibliotheksverbot von jeder wissenschaftlichen Kommunikation abgeschnitten? Welche Zeitungen, Parteiblätter, Publikationen, welche schriftlichen Quellen waren ihm überhaupt noch zugänglich? Welche mündlichen Quellen zog er für seine Beobachtungen und Untersuchungen heran und welche Möglichkeiten besaß er, seine Studien zu verifizieren?
Wenige Stichproben reichen, um sich zu überzeugen, welch wichtiges Material nun zugänglich ist: Die Volltextsuche nach "LTI" ergibt in den Jahren 1941-1945 658 Einträge, die für die Zeit vor 1941 etwa durch das Suchwort "Sprache" und "Wort" zu ergänzen sind; mit der Eingabe von Namen, Begriffen und Schlagwörtern, wie etwa "Mein Kampf", "Goebbels" (der "Reklameminister", 20. 3. 1933), "Sportpalast" oder "Volk", stößt man auf umfangreiche, von Klemperer kritisch kommentierte Auszüge aus Nazi-Reden und -Schriftum, die in der Buchpublikation wegfielen, die jedoch eindringlich zeigen, wie sorgfältig und aufmerksam Klemperer alle ihm zur Verfügung stehenden Quellen für seine "LTI" "auslauste" (20. 2. 1943). Früh erkannte Klemperer, dass ein unbefangener Gebrauch von Wörtern, die in der LTI Karriere machten, nicht mehr möglich sein würde: "Die rituellen Juden pflegen treife gewordene Gefäße zu reinigen, indem sie sie eingraben. So wird man das Wort 'Führer' auf lange Zeit vergraben müssen, ehe es wieder rein u. gebrauchsfähig ist." (14. 7. 1934) Dass es Klemperer nicht nur um einen sprachlich manifestierten Ausschnitt des Terrors ging, er dagegen versuchte, ein Gesamtbild der Zeit zu geben, zeigen neben der Analyse von berüchtigten Schlagwörtern vor allem die abseits der offensichtlichen "LTI" liegenden, scheinbar so unspektakulären, sprachlichen Umdeutungen, die aber das Ausmaß der subtilen Indoktrination "buchstäblich alle[r] Lebensgebiete" (8. 7. 1941) umso deutlicher machen, wie Analysen zu "einmalig", "ausdrücken" oder zu "sonnig" beweisen.
Ebenso wichtig und auf der CD-Rom nun zugänglich ist neben der Sprache des Nationalsozialismus die Sprache im Nationalsozialismus, die auch diejenige meint, die mit allen Mitteln sprachlicher Karikatur die Nazis zur Kenntlichkeit verzerrt. Zahlreich sind Klemperers Notizen und Belege des sprachlichen Widerstands und die Versuche, das Grauen zu konterkarieren - in verballhornten Sprichworten und Redewendungen, wozu nicht zuletzt die Kategorie "Witz im Nationalsozialismus" gehört: "Ein besonders guter neuer Witz: H.[itler], der Katholik, habe zwei neue Feiertage creiert: Maria Denunziata, u. Mariae Haussuchung" (14. 10. 1934); "Bitte um Namensänderung. 'Ich heiße Adolf Scheiße.' - 'Welche Abänderung beantragen Sie?' - ' Emil Scheiße'" (5. 5. 1943). "Wejen Ausdrücken" heißt das letzte Kapitel der "LTI" von 1947: Es berichtet von Verhaftungen, Deportationen von und Morden an denjenigen, die solche Witze kolportierten.
Neben dem Faksimile der Handschrift, das einen Einblick in die ungeheure Transkriptionsleistung des Herausgebers gibt, enthält die digitalisierte Version einen umfangreichen Anhang, der allein einer Einzelveröffentlichung wert gewesen wäre. Die Anmerkungen erläutern ausnahmslos alle Abkürzungen, Verweise, Anspielungen, zeitgenössische und historische Namen und Begriffe. Der Apparat der CD-Rom bietet eine tabellarische Chronik der Judenverfolgung in Dresden, ein Verzeichnis der Dresdener Judenhäuser und insgesamt 131 zeitgenössische Fotos, vor allem Porträts der von Klemperer namentlich erwähnten Personen. Kernstück des Apparats sind die von Nowojski zum Teil in jahrelanger mühsamer Recherche rekonstruierten Biografien und Schicksale von Klemperers Dresdener Leidensgefährten (denen hiermit gleichzeitig ein Denkmal gesetzt wird) und die, durch intensive Archivrecherche gestützten Informationen über Klemperers akademische Kollegen sowie über die politischen Karrieren der "Täter", der Dresdener Nazi-Prominenz. Nowojskis Apparat ist notwendige Ergänzung und Vervollständigung von Klemperers Tagebüchern als bedeutendes historisches Dokument.
Klemperers Tagebücher (einschließlich "Curriculum Vitae") spiegeln Leben und Alltag, Kultur und Wissenschaft, Gesellschaft und Politik aus vier politischen Systemen des 20. Jahrhunderts. Die Notizen aus der Nazi-Zeit sind in ihrem Informationswert singulär. Aber auch die Tagebücher vor 1933 und nach 1945 sind durch ihre akribischen und gleichzeitig kritischen Beobachtungen als Quellen für ihre jeweilige Zeit unverzichtbar - nicht zuletzt auch deshalb, weil Klemperer selbst genau um die Bedeutung von Übergängen wusste und die Zusammenhänge politischer Entwicklungen nicht retrospektiv, sondern unmittelbar analysierte. Inzwischen arbeitet Walter Nowojski an der Digitalisierung der Tagebücher Klemperers aus der Weimarer Zeit.
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