Beobachten und lernen

Hartmut von Hentig legt den ersten Teil seiner Autobiografie vor

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich halte eine orangefarbende Zelluloid-Ente in der Hand. Ich setze sie in das neben mir dahin eilende Wasser. Ich lasse sie los. Sie schwimmt davon. Ich sehe ihr vergnügt nach." So beschreibt Hartmut von Hentig im ersten Teil seiner Autobiografie seine früheste Kindheitserinnerung.

"Ich empfand keinen Schmerz, keine Trauer, keine Kränkung über den Verlust der ,geliebten' Ente - ich empfand Endgültigkeit, die beruhigende Gewissheit: So ist das also!" Auf diese Weise entdeckt der kleine Hartmut auf der Überfahrt von Deutschland nach San Francisco sich selbst: "Ich war aus dem bloßen ,Ablauf der Dinge' herausgetreten und zum Beobachter geworden." Dieses Beobachter-Sein ist für die Kindheit und Jugend von Hentigs charakteristisch. Es ist ein weitgehend unbefangenes Betrachten der Dinge, die da um ihn herum passieren und die er zwar nach und nach zu verstehen lernt, denen er aber noch wenig entgegen zusetzen hat. Im Vergleich zur Schwester Helga ist er derjenige, der konform geht: Er sagt Gedichte vor Gästen auf, will sogar ein "Pimpf" sein und tut als Kind vor allem das, was von ihm verlangt wird.

Erst auf den zweiten Blick lesen sich seine Kindheits- und Jugenderinnerungen auch als eine kleine pädagogische Geschichte. Erste Erfahrungen mit der Pädagogik John Deweys sammelt er als vorzeitig eingeschulter Schüler der Alamo Elementary School in San Francisco, in der das Glück und die Lernfreude der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt stehen. Am Französischen Gymnasium in Berlin spielen stattdessen die verschiedenen Lehrerpersönlichkeiten eine besondere Rolle. So resümiert er: "Es ist bedenkenswert, aber wohl leider die Regel, dass auch an guten Schulen immer nur wenige Lehrer so starke Eindrücke hinterlassen, dass ihre Schüler noch nach Jahrzehnten sagen könnten, was sie ihnen wirklich Gutes verdanken. Mir fallen eher die schrulligen, unangenehmen, lächerlichen Gestalten ein, unter deren Macken und Stumpfsinn wir gelitten oder mit denen wir unseren Schabernack getrieben haben, zumal wenn dies Folgen hatte."

Zu diesen Lehrergestalten muss wohl auch Else Bockfisch gezählt werden (und das ist ein kleines Wiedersehen, denn sie kennen wir schon aus Hentigs Buch "Die Schule neu denken", in dem sie zusammen mit dem Fahrlehrer Wursthorn den Typ der Pauk- und Übe-Schulen repräsentiert.) Nach dem Krieg besucht Hartmut auf Drängen seiner Schwester ihre Tanzschule am Hohenzollerndamm. "Ich meldete mich für den Winterkurs 1942/43 an, zahlte meinen Einsatz, lernte, wie man einen Stuhl trägt, sich mit einer Dame bekannt macht, sie auffordert, sie am Arm zum Tanzplatz führt [...] Die meine war vor lauter Aufregung steif wie ein Stock, sie roch nach altem Handtuch und zu mehr als ,Schrittwechsel' kam es an diesem ersten Abend nicht."

Auch mit Maria von Wedemeyer, die der junge Mann während seiner Studienzeit im Göttingen der Nachkriegsjahre kennen lernt, ist es wohl zu "mehr" nicht gekommen: Auf "dem Heimweg habe ich das von ihr offenbar erwartete Wort nicht gesagt. Ich hatte ein leeres Schneckengehäuse aufgehoben und ihr geschenkt, ohne mir etwas dabei zu denken - es war nur einfach schön. Sie fing an, Stück für Stück davon wegzubrechen. Den kleinen Rest zeigte sie mir." Und weiter schreibt er, wie Maria ihre bittere Enttäuschung formuliert: "Genau so bist du, Hartmut: Es fängt verlockend an; man folgt der Verlockung nach innen; je weiter man kommt, umso mühsamer und enger wird es; und ganz tief drinnen - ist nur ein kleiner Schmutz, der einem nichts sagt."

Diese kleine Begebenheit zeigt exemplarisch, dass es von Hentig ernst damit meint, mit seinem Buch keine "Verführung" liefern zu wollen, keine Rechtfertigung dafür, "im Nachhinein ,gut'" gewesen zu sein. Seine Motivation zum Schreiben seiner Erinnerungen ist, so führt er aus, "die verständliche, den meisten Menschen jedenfalls eigene Freude am Nachempfinden und Nacherfinden des nun nicht mehr bedrohlichen Vergangenen."

Von Hentig will nicht bekennen, nicht prüfen, nicht abrechnen, sondern Erinnerungen an ein Leben, dass der heute über 80jährige bedenkt und ausdrücklich bejaht. Auch wenn seine Erinnerungen teilweise bruchstückhaft sind oder mit der Zeit von ihm umgedeutet wurden, so erzählen sie doch fesselnd, was bis heute im Leben des großen Pädagogen wirklich wichtig ist. Das sind nicht nur die Orte, an denen er war wie Berlin, San Francisco, Bogota, Amsterdam, Göttingen, Chicago. Das sind nicht nur die vielen Namen derer, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet haben wie etwa Carl Friedrich und Richard von Weizäcker, die Kinderfrau Salme, Kaiser Wilhelm II., Marion Dönhoff, Leo Strauss, die Miezi-Mutter und der große Vater. Von Hentig gibt den Leserinnen und Lesern vor allem die große Chance, ihn selbst ein Stück näher kennen und verstehen zu lernen.

Im Herbst soll der zweite Teil der Autobiografie folgen.


Titelbild

Hartmut von Hentig: Mein Leben - bedacht und bejaht. Kindheit und Jugend.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
414 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446208391

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