Keine Idylle. Nirgends.

Der Schöpferin des großen tschechischen Romans "Die Großmutter" Božena Nemcová war zu Lebzeiten keine idyllische Existenz vergönnt

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als am 21. Januar 1862 Božena Nemcová im Alter von 42 Jahren verstarb, hatte ein schweres Leben sein Ende gefunden. Verarmt, krank und auch von manchen Freunden im Stich gelassen. Drei letzte Briefentwürfe vom 21. November 1861 an einen ihrer verbliebenen Gönner, Vojtech Náprstek, dokumentieren das erschütternde Ende der wichtigsten und bedeutendsten tschechischen Autorin des 19. Jahrhunderts. Diese drei Entwürfe hatten ihren Adressaten nicht mehr erreicht.

Als Božena Nemcová drei Tage nach Ihrem Tode beerdigt wurde, wurde das Begräbnis zu einem nationalen Ereignis. Tausende von Landsleuten wollten von der Schriftstellerin Abschied nehmen. Ihre Leidenschaft für tschechische und slowakische Märchen, aber auch ihre Skizzen aus dem Dorfleben hatten durchaus eine Leserschaft gebildet. Es drängt sich ein auch selbstkritisch gemeinter Gedanke der tschechischen Schriftstellerin Karolina Svetlá auf, die nach dem pompösen Begräbnis Nemcovás notierte: "Wahrscheinlich wird die Tatsache für immer am tschechischen Volke haften bleiben, daß es seine bedeutendste Schriftstellerin in Armut und Elend hat zugrunde gehen lassen". Eigentlich nichts neues in Böhmen - auch die Dichter Karel Hynek Mácha oder Karel Havlícek Borovský wurden erst postum auf den nationalen Podest erhoben.

Noch im Mädchenalter hatte Božena Nemcová den sechzehn Jahre älteren Josef Nemec geheiratet und bald hintereinander vier Kinder geboren. Josef Nemec hatte als überzeugter tschechischer Nationalist immer wieder Schwierigkeiten mit der Obrigkeit, von der er zugleich beruflich abhängig war. Die Palette der Maßregelungen reichte von der Strafversetzung bis zur Beförderungssperre. Die junge Božena hatte ihren tschechischen Patriotismus nicht zuletzt von ihrem Ehemann vermittelt bekommen. Noch kurz vor ihrem Tod schrieb sie an ihren Sohn Karel: "Wir dürfen nicht vergessen, daß wir unter Österreichs Herrschaft stehen".

Briefe aus früheren Jahren belegen in patriotischer Hinsicht einen Eifer, der kennzeichnend für Konvertiten ist - Božena Nemcová war am 4. Februar 1820 als uneheliches Kind in Wien unter dem Namen Barbara Pankl geboren und im zweisprachlichen Milieu aufgewachsen. Den Lesehunger ihrer Kindheit im Aupatal stillte sie mit deutschen Büchern, die sie im herrschaftlichen Schloss Chwalkowitz/Chvalkovice nutzen durfte. Die Orte ihrer Kindheit lassen sich leicht in ihrem berühmtesten Werk "Babicka" (Die Großmutter) wiederfinden.

Der in München lehrende Slavist Miloš Sedmidubský hat in einer umfangreichen Studie "Das Idyllische im Spannungsfeld zwischen Kultur und Natur: Božena Nemcovás Babicka" untersucht und in der Idylle einen Bereich ausgemacht, der zwischen einem triebhaften Naturraum und einer entfremdeten Zivilisation angelegt ist, ja beides vereint. Ein derartiger Zwischenraum ist somit - im Unterschied zur Utopie - nicht frei von Spannungen und Widersprüchen. Das unterirdische Brodeln unter der idyllischen Oberfläche ist weit subtiler, als eine einseitig national-patriotisch ausgerichtete Weltanschauung zu begreifen vermag.

Božena Nemcová durfte einen Tag vor ihrem Tod ein Exemplar ihres Romans noch in Händen halten. Bald schon wurde "Babicka" übersetzt und fand frühzeitig in verschiedenen Versionen auch im deutschsprachigen Raum eine hohe Aufmerksamkeit. In Böhmen hält die Rezeption dieses Schlüsselwerkes vor allem in der tschechischen Intelligenz bis zum heutigen Tage an.

Die Lektüre der vorliegenden Briefe von Božena Nemcová hatte bereits Franz Kafka als "unerschöpflich für Menschenerkenntnis" geschätzt.

Es geht ein eigentümlicher Sog von diesen Briefen aus, in denen Nemcová Freud und Leid mit Gleichgesinnten teilt, oder als bescheidene Bittstellerin schlicht um Unterstützung für ihre, besser gesagt für die materielle Situation ihrer Kinder bittet. Über Jahre hinweg zählt sie anhand einzelner Gulden und Kreuzer auf, was wieviel kostet und bejammert dabei nicht ihr Schicksal, sondern hadert über "eine maßlose Teuerung". Daß Briefe Freundschaften nur bedingt aufrechterhalten, weiß sie: "Auch der innigste Brief kann das lebendige Wort nicht ersetzen".

Der frühe Tod ihres ältesten Sohnes Hynek setzte ihr arg zu, sie hat ihn letztlich nie überwunden. Und dann schreibt Božena Nemcová wieder ganz lakonisch an ihren Mann, dass sie es in der neuen Wohnung in Prag gut hat. Wenn sie aus dem Fenster blickt, kann sie den Garten blicken, in welchem der Sohn Karel seine Lehre macht: "Wenn ich hinausschaue, habe ich gegenüber den Garten, den Hrádek, das Krankenhaus, oben das Gebärhaus und die Irrenanstalt".


Titelbild

Bozena Nemcovà: Mich zwingt nichts als die Liebe. Briefe.
Mit Beiträgen von Jaroslava Janácková, Václav Maidl und Hans Dieter Zimmermann.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Kristina Kallert.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
432 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421052603
ISBN-13: 9783421052605

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