Vor dem Untergang

In seinen "Erinnerungen an Czernowitz" berichtet Zvi Yavetz vom Alltag einer Jugend in den 1930er-Jahren des vorigen Jahrhunderts

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An mehreren Stellen seiner "Erinnerungen an Czernowitz" weist Zvi Yavetz, emeritierter Professor für Alte Geschichte, entschuldigend darauf hin, dass ihm leider für die Schilderung seiner Erinnerungen aus Czernowitz nicht die literarischen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen, mit denen etwa die gleichfalls aus Czernowitz stammende Lyrikerin Rose Ausländer, der Dichter Paul Celan, die Schriftstellerin Selma Meerbau-Eisinger oder auch der Journalist Gregor von Rezzori Empfindungen, Erlebnisse und Erscheinungen in Worte zu fassen vermochten. Die offene Bescheidenheit ehrt den Autor und ist vielleicht auch Ausdruck eines misslichen Gefühls angesichts falscher Erwartungen vieler Leserinnen und Leser. Ist nicht das verlorene Czernowitz jener mystische Ort, "wo Menschen und Bücher lebten", wie es im Untertitel des Erinnerungsbuchs heißt? Im Wissen um die Verbrechen der Nazis, durch die die jüdisch geprägte Kultur Osteuropas verloren ging, erzeugt die Erinnerung oft ein idealisiertes Wunschbild, in dem in einer Melange aus Stadt, Stetl, Geist, Chassidismus, Bildung und Literatur der normale Alltag der Menschen zu verwischen scheint.

Die Erinnerungen des 1925 in Czernowitz geborenen Zvi Yavetz leisten indes keinen Beitrag zu diesem Sehnsuchtsbild. Sie schildern schlicht die Kinder- und Jugendzeit eines jüdischen Jungen in einer abgelegenen Stadt weit im Osten Europas. Sie beginnt in einem Haus in der Vorstadt, keine besonders gute Gegend in Czernowitz. Die unbefestigte Vorstadtstraße ist in der Erinnerung entweder unerträglich staubig oder zäh verschlammt. Selten sieht man hier die feinen Herrschaften aus der Stadt. Nur im Winter, wenn der Frost die Straße eisesfest in den Griff nahm und Schnee sie von Dezember bis März bedeckte, war die Ziegeleigasse etwas besonderes. Nun kamen auch die Freunde aus den besseren Gegenden der Stadt, wo der Schnee weggeräumt wurde und keine Pferdeschlitten mit Glöckchen über die Straße fuhren. Winterfreuden, auch weil es in der Schule ab minus 20 Grad "kältefrei" gab. Solche Kindheitserinnerungen gelingen dem Autor sehr direkt und anschaulich, und es entsteht das Bild eines fernen Alltags in einer entfernten Ecke Europas.

Doch der Alltag war bereits bedroht. Es ist die Zeit vor dem Untergang. Noch zehrt Czernowitz von der kulturellen und wirtschaftlichen Blütezeit als Hauptstadt des Kronlandes Bukowina in der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie. Seit 1918 aber gehörte die Bukowina zu Rumänien. Die Rumänen, so erinnert sich der Autor, liebten die "pittoreske Stadt in der pittoresken Bukowina", die bis 1775 zum Fürstentum Moldau gehört hatte. Doch die Liebe blieb einseitig. Man nannte Czernowitz die "nichtrumänichste Stadt Rumäniens". Auf den "Straßen in Czernowitz war viel mehr Jiddisch, Deutsch und Ruthenisch zu hören" als Rumänisch. Vergebens mahnten Schilder die Einwohner "Sprecht nur rumänisch!" Also versuchten es die enttäuschten Rumänen mit einer zwangsweisen Rumänisierung, doch im Vielvölkergemisch aus Ruthenen, Deutschen, Russen, Polen, Armenier und Juden blieben die Anstrengungen erfolglos.

Für die jüdische Bevölkerung von Czernowitz, die kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs knapp die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachte, war die rumänische Obrigkeit ein Anlass steter Beunruhigung. Der mehr oder weniger stark ausgeprägte Antisemitismus aller rumänischen Regierungen war auch in der Familie des Autors ein ständiger Gesprächsgegenstand. Sollte man auswandern? Nach Palästina? Oder würde es noch einmal gut gehen, weil eine innenpolitische Niederlage der antisemitischen politischen Kräfte als Zeichen der Hoffnung gedeutet werden konnte? Viele Juden wanderten aus.

Andere blieben und lebten während der 1930er-Jahre in ständigem Wechsel zwischen Angst vor neuen antisemitischen Übergriffen und aufflackernder Hoffnung auf bessere Zeiten. 1940 war man für kurze Zeit mit der Bukowina Teil der Sowjetunion geworden, 1941 aber, nach der Wiedereingliederung der Bukowina in Rumänien, begann ihr Leidensweg. Zunächst wurden sie in ihrer Heimat in Ghettos zusammengepfercht, bald darauf wurden sie unter chaotischen menschenverachtenden Bedingungen in die improvisierten Ghettos im besetzten Transnistrien deportiert. Vom verzweifelten Überlebenskampf dort berichtet Edgar Hilsenrath in seinem erschütternden Roman "Nacht" (siehe literaturkritik.de 4/2006).

Angehörige der Familie Zvi Yavetz' waren bereits deportiert worden und umgekommen. Er selbst konnte mit seiner Mutter zunächst in Czernowitz bleiben. Sie starb dort 1941 im Ghetto. "Ich aber ging nicht verloren." Es waren die Freunde aus der zionistischen Jugendbewegung, die in Czernowitz viele Organisationen ausgebildet hatte, die Halt gaben. 1938 war er einer dieser Organisationen beigetreten. Noch 1942 versuchte er mit einigen Freunden, die Bibliothek des Großvaters, die in dem geplünderten Geburtshaus kurioserweise unberührt geblieben war, zu retten. Tagelang schleppten sie die Bücher in ein Kellerversteck, das "in einem vornehmen Viertel der Stadt lag, in der Hoffnung, sie eines Tages nach Israel zu transportieren... Nichts ist übrig geblieben."

So spielen am Ende doch noch einige Bücher eine Rolle, bevor endlich die lange schon in der zionistischen Jugendbewegung vorbereitete Ausreise nach Palästina gelang. Eretz Israel wurde zur Rettung.

Neben den eigentlichen Erinnerungen enthält der Band noch zwei Aufsätze zu "Alltag und Kultur in Czernowitz" während des Jahres 1937 sowie einen kurzen Beitrag zum "Czernowitzer Humor".


Titelbild

Zvi Yavetz: Erinnerungen an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
288 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406557477

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