Schwimmen im Ozean

Astrid Henning auf der Suche nach "Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR"

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt kein Thema, für das man den Lyriker Heinrich Heine nicht eingespannt hat. Er musste als Zeuge und als Beleg für die abstrusesten Thesen herhalten (siehe literaturkritik.de 01/2007). Kein Wunder also, dass die "Heinrich Heine Rezeptionen [...] ganze Bibliotheken" füllen, wie Astrid Henning in der Einleitung zu ihrer Untersuchung "Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR" richtig feststellt: Sich "mit Heinrich Heine zu beschäftigen, das ist wie Schwimmen im Ozean."

Hätte sie doch die Konsequenz aus dieser Erkenntnis gezogen und das Schwimmen sein lassen! Ein überflüssiges Buch wäre uns erspart geblieben. Stattdessen ist sie nicht nur in einen Ozean, sondern ohne Schwimmkurs gleich in zwei Meere gesprungen. Denn ein Großteil ihres Buchs beschäftigt sie sich mit der Kulturpolitik der "SED-Diktatur", möchte sie doch erläutern, "wie Literatur Herrschaft sichert." Ihre Ausgangsüberlegung: "Wenn nicht die Frage gestellt wird, wie Literatur missbraucht wird, sondern welche historische Situation dazu führt, dass eine bestimmte Interpretation Heinrich Heines als richtig gezeichnet werden kann; dann finden sich Antworten darauf, wie Herrschaft mit und über Literatur funktioniert. Denn das (sic!) die Literaturinterpretation an sich ist immer schon eine Literaturinterpretation für uns und unsere Identität."

Eine weitere Autorin also, die uns darüber aufklären möchte, mit welch angeblich perfiden Methoden die SED eine "antifaschistisch-demokratische Umerziehung" betrieben hat. Dazu holt sie weit aus und fängt - nein, nicht bei Adam und Eva, aber immerhin bei der Gründung der DDR an. In einem zuweilen aufgemotzten, zuweilen auch verquasten Sprachstil formuliert die Autorin die hochtrabenden Ziele, die sie sich gesteckt hat: "Es handelt sich also bei dieser Arbeit (zusammenfassend) um eine ideologiekritische Strukturanalyse, die dem Konzept des nationalen Subjektes in der DDR und dessen Akzeptanz von Herrschafts- und Machtformen nachkommen will. Dem Konzept des Foucaultschen Diskurses kommt die Aufgabe zu, mit seiner Herrschafts- und Ideologiekritik eine Matrix ausmachen zu können, die zum einen für die Analyse der Metaebene neue Sichtweisen eröffnet. Des weiteren eignet sie sich für die Untersuchung der Mesoebene, in deren Vertretung Hans Kaufmanns Dissertation zum Wintermärchen beispielgebend ist. Weiterhin zeigt sich mit der Diskursanalyse nach Foucault, inwiefern die Identität des Diskurses des Nationalen zu einer Verortung der Bürgerinnen führt, die letztlich die Staatsmacht aufrecht erhält, was auf der Mikroebene nachzuweisen ist. Im vorliegenden Teil der Arbeit wird der Schwerpunkt auf die Untersuchungen zur Metaebene und Mesoebene der Herrschaft gelegt."

Vereinfacht dargestellt, bietet das Buch einen banalisierten Abriss der ideologischen Grundlagen und Vorgehensweisen der Kulturpolitik der DDR sowie eine negative Rezension der von Hans Kaufmann 1956 veröffentlichten Dissertation über Heines "Wintermärchen".

Zunächst wird "die Entwicklung der Frage der Nation in der DDR 1949-1956" skizziert und der Leser wird darüber aufgeklärt, dass der Arbeiter- und Bauernstaat DDR einen antifaschistisch-demokratischen (später auch antiimperialistischen) Charakter haben sollte. Astrid Henning ruft in Erinnerung, dass die DDR nach ihrem Selbstverständnis das Proletariat und die Bauern vor Ausbeutung und Unterdrückung befreien und den Sozialismus aufbauen wollte, und erläutert: "Als Bewahrerin der Traditionen und als Garantin der Politik, die eine solcherart definierte nationale Befreiung ermöglichen sollte, wurde die SED fortan zur Diskurspolizei." Die "antifaschistisch-demokratische Umerziehung des deutschen Volkes [...] verlief hauptsächlich über Institutionen. Hierbei haben Schulen eine besondere Rolle gespielt." Darauf wäre der Leser alleine sicherlich nicht gekommen. Weitere frappierende Erkenntnisse: "In der Geschichtsschreibung der DDR ist die Einordnung von historischen Prozessen und Persönlichkeiten in steter Divergenz zur Geschichtsschreibung der BRD zu sehen." Außerdem hat die Autorin herausgefunden, dass "die Zitatautorität Karl Marx von Beginn der Existenz des Staates DDR [...] die Dreh- und Angelfigur der deutschen Traditionslinie" wird.

Bis endlich alle Allgemeinplätze genannt und die vermeintlichen Grundlagen zum Verständnis der DDR und ihrer Kulturpolitik gelegt sind, hat man Hennings Buch auch schon zur Hälfte gelesen. Wer aber annimmt, dass sie dann endlich auf ihr Thema zu sprechen kommt, hat sich getäuscht. Denn auch im zweiten Teil werden zunächst erneut nur Banalitäten ausgebreitet, dieses Mal über "Institutionen und Medien", die in modernen Gesellschaften "als Sprachraum für seriöse Sprecher" dienen und "als solche akzeptiert" werden. Dann erfährt der Leser, dass "im ersten Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg [...] die Kulturfunktionäre der DDR und die Verleger darum bemüht [waren], den 12 Jahre lang verbotenen und nicht publizierten Dichter [Heine] den Lesenden wieder zugänglich zu machen" und dass sein "Wintermärchen" schon bald ungekürzt publiziert wird; dass innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Heine "die Bekanntschaft mit Marx zum Höhepunkt der Werkentwicklung Heines" deklariert, dass Heine "zum antifaschistischen, proletarisch-nationalen Klassiker" stilisiert wird.

Danach kommt die Autorin dann endlich darauf zu sprechen, wie Heines "Wintermärchen" in der DDR als kulturelles Erbe vereinnahmt wurde. Diesen Prozess versucht sie ausschließlich anhand der Dissertation von Hans Kaufmann zu belegen: "Beispielhaft werde ich deshalb die Dissertation mit dem Gedicht vergleichen und überprüfen, ob die von Kaufmann getroffenen Aussagen im Text lesbar sind. Dabei werde ich, noch einmal zusammenfassend, sowohl die Aussagen von Kaufmann als auch seine Methode bezüglich der ideologischen Normen überprüfen."

Man weiß bei dieser Studie ja von vorne herein, worauf sie hinauslaufen wird: Kaufmann hat nach Hennings Auffassung Heine falsch interpretiert und vereinnahmt, denn er deutet bekannte Verse wie die Forderung nach "Zuckererbsen für jedermann" kommunistisch. Und: Kaufmann "hat durch eine Gleichsetzung von Erzähler und Autor den Dichter Heinrich Heine zu einer Identitätsfigur für die eine Nation gemacht, der sich die DDR-Bürgerin als Antifaschistin verpflichtet fühlen soll." Ihre Schlussfolgerung: "Das Zusammenspiel von kommunistischer Etikettierung des Autors des Wintermärchens und der Darstellung seiner zum Marxismus entwickelten Biografie, zeichnet eine Kollektivbiografie, die eine Aussage darüber trifft, dass aus der richtigen (der marxistischen) Erkenntnis und Weltanschauung eine kämpferische Ambition gegen die Feinde der Arbeiter hervorgehen muss. Sind also schon die Attribute kommunistisch, proproletarisch und antikapitalistisch in der Heinerezeption Kaufmanns zur Aussage darüber geworden, wie die Leserin der frühen DDR sich gemäß des Klassikervorbildes verhalten soll, so kulminiert die Verbindung dieser Elemente darin, in der BRD den zu bekämpfenden Feind und in der DDR die neue Heimat der Arbeiterinnen zu finden." Astrid Henning fasst die Ergebnisse ihrer Untersuchung mehrmals so zusammen: "Hans Kaufmann hat mit seiner Dissertation "Deutschland. Ein Wintermärchen. Eine Analyse" die Person Heinrich Heines zum Klassiker mit Vorbild- und Traditionsfunktion gezeichnet, dessen biografischer und literarischer Kampf von jeder DDR-Bürgerin fortgeführt werden müsse. Er hat mit der Gleichsetzung des Verhaltens und der politischen Reife Heines zum Verhalten einer DDR-Bürgerin eine Identitätsaussage über das DDR-deutsche Individuum getroffen, welches sich mit dieser Identität im gesellschaftlichen Gefüge positionieren musste. Entweder als Individuum, dass (sic!) diese Inhalte zu den Inhalten der eigenen Identität machte und damit dem normierten und Herrschaftsakzeptierenden [!] Verhalten nachkam, oder als solches, welches sich kraft anderer Diskurse (zum Beispiel sich nicht als Antifaschistin zu verstehen) der Normierung entzog. Die Distribution der Interpretation Kaufmanns an die Lehrerinnen der DDR-Schulen bildete eine Voraussetzung dafür, dass über die identitätsstiftende Funktion der Literatur im Unterricht die Inhalte der Normierung an das als antifaschistisch angerufene Subjekt (der Schülerin) herangetragen werden konnte."

Man fragt sich, weshalb Astrid Henning so heftig gegen eine Vereinnahmung eines Dichterwerks als "kulturelles Erbe" polemisiert. Ist ihr eine Marginalisierung lieber, wie sie im deutschen Kaiserreich und in der BRD betrieben wurde oder gar eine Eliminierung, wie sie im "Dritten Reich" der Fall war? Weshalb geht sie mit den Arbeiten von Hans Kaufmann über Heinrich Heine so ins Gericht, die von kompetenten Heine-Forschern wie Jost Hermand durchaus positiv-kritisch gewürdigt werden? Kaufmanns auf Heine bezogene Forschungsbeiträge sind längst anerkannt.

Die Antwort auf die von ihr gestellte Frage, wie Literatur Herrschaft sichert, bleibt Astrid Henning indes schuldig. Dass Umerziehung "nicht losgelöst betrachtet werden (kann) von den Machtverhältnissen", ist eine Binsenweisheit. Erziehung erfolgt stets im Sinn und Auftrag eines etablierten Machtssystems. Wenn dazu Literaten eingespannt werden, dann ist die Frage zu klären, ob man sie richtig interpretiert und zu Recht auf ihr Werk Bezug nimmt. Dass Germanisten in der DDR den Versuch unternommen haben, Heine marxistisch zu interpretieren, ist ebenso legitim wie der Versuch westlicher Philologen, mit anderen Interpretationsmethoden zu anderen Ergebnissen zu kommen. Und wenn es um Verfälschung oder gar Unterdrückung von Heines "Wintermärchen" geht, so liefert die BRD sicherlich das brisantere Material. Es sei in diesem Zusammenhang nur daran erinnert, dass es in diesem Staat gefährlich und einem Beamten verboten war, Heine in Gebrauch zu nehmen und öffentlich zu zitieren: Einen Lehrer, der es im Jahr 1980 wagte, Verse aus Heines "Wintermärchen" zu zitieren, versuchte der zuständige Kultusminister gleich mit einer dreifachen Bestrafung zu maßregeln: Er ordnete ein Disziplinarverfahren, eine Probezeitverlängerung und eine Strafversetzung an.

Zum Schluss kündigt Astrid Henning an, dass sie auch weiterhin "im Ozean schwimmen" möchte: "Diese Aufschlüsselung von Metaebene und Mesoebene ist jedoch erst die Grundlage dafür, dass die Bürgerinnen eine Identität annehmen konnten. Erst die freiwillige Unterwerfung, die freiwillige Positionierung der Beherrschten kann Antwort darauf geben, inwieweit die hier geschilderten Identitätsvorgaben tatsächlich in die Identität der Bürgerinnen der DDR eingingen, so dass sie auch über den Fortbestand des Staates DDR zur nationalen Identität der Bundesbürgerinnen different sind. Diese Untersuchung ist der Gegenstand der hierauf folgenden Arbeit." Es ist ihr dringend von diesem Vorhaben abzuraten; wenn sie dennoch nicht davon ablassen kann, muss man ihr empfehlen, wenigstens vorher einen Schwimmkurs zu absolvieren.


Titelbild

Astrid Henning (Hg.): Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR. Wie Literatur Herrschaft sichert.
Tectum Verlag, Marburg 2006.
144 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3828892132
ISBN-13: 9783828892132

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