Behutsam wertend - Oliver Jahraus bietet mit seinem Band "Literaturtheorie" eine Übersicht über die Grundlagen der Literaturwissenschaft

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Oliver Jahraus vorgelegte, knapp 400 Seiten starke Band mit dem Titel 'Literaturtheorie' liefert keine systematische oder fachgeschichtlich rekapitulierende Darstellung der Theorien und Methoden in ihrer historischen Entwicklung, sondern eine eigenständige Erörterung aller im literaturwissenschaftlichen Alltagsgeschäft relevanten Grundfragen und -begriffe. Der Autor ist dabei stets um Aktualität bemüht; alle wesentlichen Debatten und Ansätze der letzten Jahrzehnte werden berücksichtigt und explizit thematisiert.

Jahraus hat kein Thesenbuch vorgelegt, das mit kühnen Setzungen beeindrucken oder ein neues 'Paradigma' begründen will. Vielmehr zeichnet sich dieses Buch durch die behutsam wertende Darlegung von Argumenten und Gegenargumenten aus. In der Auseinandersetzung mit wichtigen Theoretikern und Methodikern wie Luhmann, de Man, Frank und vielen anderen gelangt Jahraus zu einer sehr differenzierten eigenen Position, die sich nicht auf eines der gängigen Etiketten reduzieren lässt.

Besonders ausführlich behandelt Jahraus die Begriffe 'Wissenschaft', 'Methode/Methodologie', 'Theorie', 'Text', 'Werk', 'Zeichen', 'Schrift', 'Stil', 'Fiktion', 'Interpretation', 'Sinn' und 'Medium/Medialität'. Was die einzelnen Methoden (und die ihnen inhärenten) Theorien betrifft, so thematisiert das Buch insbesondere den Positivismus, die Geistesgeschichte, die Hermeneutik, den Strukturalismus, die Rezeptionsästhetik, die Empirische Literaturwissenschaft, die Psychoanalyse, den Poststrukturalismus, die Dekonstruktion und die Diskursanalyse.

Besonderen Wert legt Jahraus auf die mehrfach betonte Feststellung, dass eine Literaturwissenschaft, die sich als Wissenschaft versteht, "nicht nur interpretiert, sondern zwischen Analyse und Interpretation differenziert". Wo im Detail die Grenze zwischen objektiverer Textanalyse (zum Beispiel Notation einer Reimstellung) und subjektiverer Deutung (etwa Auslegung einer Metapher) verläuft, zeigt Jahraus so deutlich auf, wie dies wohl überhaupt nur möglich ist. Insofern dieses Problem nicht nur professionelle Literaturwissenschaftler, sondern auch Studierende und interessierte Laien betrifft und bewegt, wird der Leserkreis des Buches trotz seines Umfanges nicht auf die Fachöffentlichkeit eingeschränkt bleiben. Von Nutzen kann das Werk aufgrund der ausführlichen Register auch als handliches und zuverlässiges Nachschlagewerk sein, und zwar für diejenigen, die mehr an einer kompetenten Erörterung der wesentlichen Aspekte einer Theorie oder Methode interessiert sind als an einer lexikalischen Aufzählung der jeweils wichtigsten Repräsentanten und Anwendungsfelder.

Jost Schneider


Titelbild

Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft.
Gunter Narr Verlag, Tübingen 2004.
400 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-10: 3825225879

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