Von der Begegnung mit dem Tode

Kai Wode unternimmt den Versuch einer literarischen Typologie von Suizidenten

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was treibt einen Menschen dazu, sich selbst zu töten? Alle 47 Minuten verübt jemand in Deutschland einen Suizid. Oder anders ausgedrückt, jährlich wählen zwischen 11.000 und 12.000 Menschen in der Bundesrepublik den Freitod, die beträchtliche Dunkelziffer nicht mit einberechnet. Die suizidalen Tendenzen sind als ein Überschreiten ins "Anormale" gedeutet worden. Aber reicht eine solche Erklärung aus? Kann von einer umfassenden Deutung dieser Prozesse gesprochen werden, wenn die Ursache allein in einer "endogenen Depression" (auch als Melancholie bezeichnet) gesehen wird? Bleibt hier nicht die Frage offen, wann der Gedanke an die Selbsttötung zu einer "fixen Idee" wird, die den Einzelnen nicht mehr loslässt und die immer stärker nach einer Umsetzung drängt? Ist nicht auch anzunehmen, dass der Wunsch, sich selbst zu töten, zu einer Depression führen kann, weil das Subjekt dem Druck des gesellschaftlichen Verbots des Suizids ausgesetzt ist und so nicht in der Lage ist, sich selbstbestimmt zu befreien? Wie auch immer, es bleibt ein gehöriger Anteil an Unerklärlichem, Unerklärbarem, das sich in dem zu erkennen gibt, was wir Leben nennen und was uns mit dem Unsagbaren konfrontiert.

Was vermögen nun aber literarische Texte in Bezug auf den Suizid zu verdeutlichen? Literatur ist ja nicht an einer wissenschaftlichen Forschung, sondern primär an dem einzelnen Individuum interessiert. Welche "wunderbare Kraft" vermittelt uns, den Lesern, die Darstellung destruktiver Charaktere für unser Dasein, wie sie die Literatur aufzeigt, die das Sujet Suizid behandelt? Literatur steht nicht von vornherein im Dienste der Suizidverhinderung, sondern entfaltet fiktionale Daseinsentwürfe, die diese Möglichkeit mit einschließen. Bezogen auf das Empfinden des Suizidanten könnte es der Gedanke der Selbstverfügung und der vorgestellte Zustand des "Tot-Seins" sein, welcher das "Hiersein" und das damit verbundene Erleben beziehungsweise Erleiden des Daseins aufzuheben vermag. "Es wagen, ein Einzelner zu sein", wie der Buchtitel von Gisela Dischners Text zu Sören Kierkegaard lautet, heißt, das "Fremde", das sich auch in der "Weltnormalität" für den Einzelnen offenbaren kann, zu hinterfragen, um es als das zu akzeptieren, was es ist: ein Teil der Welt.

Kai Wode hat sich mit diesen Fragen beschäftigt und in seiner jetzt vorliegenden Publikation, die die überarbeitete Fassung einer 2006 an der Universität Hannover verteidigten Promotionsschrift ist, die Aufgabe gestellt, das Besondere der literarischen Auseinandersetzung mit dem Selbstmord zu untersuchen. Der Versuch, eine literarische Typologie des Suizidanten zu erarbeiten, ist bisher noch nicht unternommen worden. Der Verfasser will damit eine Verbindung zwischen Lebenskunst und Suizid herstellen, um die Frage zu beantworten, ob die menschliche Fähigkeit zur Selbsttötung nicht auch einen bedeutsamen Aspekt der eigenen Autonomie aufzeigt, durch den ein hohes Maß an Selbstverantwortung gegenüber der individuellen Lebensgestaltung ersichtlich wird.

Ausgangspunkt für Wodes Typologieversuch ist die soziologische Untersuchung "Tod durch eigene Hand" (1975) von Jean Baechler. Die dort entwickelte Typologie des Suizidanten wendet Wode auf seine Darstellung an, gibt ihr aber mit Hilfe von ausgewählten literarischen Texten eine konkrete Umsetzung, indem er suizidale Biografien vorstellt.

Cesare Pavese, einer der bedeutendsten Vertreter des italienischen Neorealismus, hat Anfang des Jahres 1950 in sein Tagebuch eingetragen: "Die Idee des Selbstmordes war ein Bekenntnis zum Leben. Dass ich jetzt nicht mehr sterben will - was für ein Tod". Er hat sich dann noch im gleichen Jahr, nur wenige Monate, nachdem er den Premio Strega, den bedeutendsten italienischen Literaturpreis, gewonnen hatte, das Leben genommen. Wie aber kann die Idee der Selbsttötung nun wirklich zu einem Bekenntnis des Lebens werden? Für die Literaten können in der Tat die Texte über den Suizid als eine Art "Befreiung" aus den Zwängen des Daseins fungieren. Das drückt sich auch in der Feststellung aus, dass Goethe nicht sich selbst umbrachte, sondern stellvertretend seinen Protagonisten Werther sich hat töten lassen.

Wode geht zunächst philosophischen Betrachtungen des Suizids im 20. Jahrhundert nach und stützt sich dabei auf Nietzsches "Vom freien Tode" in dessen Werk "Also sprach Zarathustra" (1883-85), Albert Camus' "Der Mythos des Sisyphos", des rumänischen Existenzphilosophen E.M. Ciorans "Lehre vom Zerfall" (1949), die Anthropologie Karl Löwiths, vor allem auf dessen Aufsatz "Töten, Mord und Selbstmord" (1962) und auf des Erlanger Philosophen Wilhelm Kamlahs "Meditatio mortis" (1976). Die kritische Reflexion des Pro und Kontra der Selbsttötung, die er dann immer wieder auch für seine Literaturinterpretationen heranzieht, setzt sich stets mit der Willensfreiheit des Einzelnen auseinander. Doch kommt es in der philosophischen Auseinandersetzung nicht zur Betrachtung eines Suizidanten, eines Einzelfalls also, sondern in der Regel geht es um das analytische Reflektieren über das Dasein und die sich daraus ableitende Fragestellung der Erlaubtheit oder des Verbots eines selbstbestimmten Todes. Dagegen besteht eben die Freiheit der Literatur darin, dass nichts bewiesen werden muss. "Die (literarischen) Texte fordern keine Allgemeingültigkeit ein", schreibt Wode, "sondern stellen das Selbst und dessen Konflikt mit der Welt in den Vordergrund der Betrachtung, wozu eine Art wissenschaftlicher Nützlichkeitsaspekt ausgeblendet sein mag". Dennoch wird durch das Phänomen Selbsttötung in der Literatur jeder Leser mit dem Aspekt des existentiellen Scheiterns eines Menschen konfrontiert. Das Problem des "Scheiternkönnens" kann auch die Selbstidentität des Lesers in Frage stellen, denn er wird selbst "vom Atem des Untergangs gestreift, er gewahrt seine eigene Gefährdung wie im Spiegel, und hat Mühe, sich zu behaupten", wie es bei Hans Jürgen Baden heißt.

Wode hat nun für seine "Suizidmotivsuche" Autoren ausgewählt, die gegen das mögliche Verstummen anzuschreiben und diese Versuche zu dokumentieren suchten. Als Typus des Schuldigen, genauer: des Sich-Schuldig-Fühlenden, zieht er Georg Bendemann in Franz Kafkas Erzählung "Das Urteil" (1916) heran. Das "tödliche Spiel" zwischen einer Schuldzuweisung seitens des Vaters und einem Schuldempfindens durch Georg verweist darauf, dass eine moralische Schuld niemals einseitig sein kann. Für den Leser stellt Bendemanns Selbsttötung eine "Logik des Absurden" dar. Es kommt zwar zu einer Umsetzung des Urteils, aber dieses Urteil wird von außen an das Subjekt herangetragen. Möglicherweise hat sich Georg seine Situation, sein entfremdetes Selbst in der Auseinandersetzung mit dem Vater zum ersten Mal bewusst verdeutlicht und ist zu einer Selbsterkenntnis gelangt, dass der Tod die Erlösung von einem Dasein sein könnte, das in seiner Struktur - dem "Ausgeliefertsein" Georgs - als unerträglich empfunden wird. Aber trotzdem bleibt seine Tat, die selbstgewählte Befreiung des Einzelnen vom Dasein, als ein absurdes Tun bestehen, sie lässt sich nicht vom Leser nachvollziehen. Sie gibt ihr Geheimnis nicht preis. Sie bleibt unfassbar für die Zurückbleibenden, die im Unterschied zu Bendemann über ein entschiedenes Selbst verfügen. Aber ist - so könnte man weiterfragen - "Das Urteil" nicht auch die Geschichte des Menschen, der unter dem Gericht Gottes steht, da er in der Lüge lebte? Ist es nicht die tragische Situation des Menschen schlechthin, die besondere Kafkas? Es ist gleichzeitig die Vorwegnahme des Offiziers der "Strafkolonie", der sich opfert, um dem Gesetz Genüge zu tun.

Der Typus des Süchtigen, der im Suizid endet, wird am Beispiel des alkoholkranken Erwin Sommer in Hans Falladas Roman "Der Trinker" (1950) aufgezeigt. Die Sucht soll der Befriedigung der Zwänge im Dasein, der "Komplexreduzierung" dienen, wird aber zugleich zu einer ernsten Krankheit, zu einem tödlichen Kreislauf, der für ihn nur noch durch den Suizid beendet werden kann. Es ist nicht nur die Selbstaufgabe Sommers, sondern auch die damit einhergehende Zerstörung der Mitwelt, wenn diese an dem Süchtigen ohne eine Art Selbstschutz festhält. Hinzu kommt, dass im Roman der der Maschine Psychiatrie ausgelieferte Süchtige nicht etwa geheilt, sondern gebrochen wird. Die "Befehlenden" haben die Macht, über die "zu Heilenden" zu bestimmen, so dass die einzig verbleibende Hoffnung Sommers darin zu bestehen scheint, sich die Selbstwürde allein durch den Tod zurückgeben zu können.

Den Typus des Scheiternden untersucht Wode sowohl in Thomas Bernhards Roman "Der Untergeher" (1983) wie in Jean Amérys Text "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod" (1976). Der Leser wird bei Bernhard über die Motivsuche für den Suizid Wertheimers Zeuge des Selbstbehauptungsversuchs des Erzählers, der ebenfalls mit dem Gedanken an die Selbsttötung konfrontiert ist. Für die Rekonstruktion eines möglichen Suizidmotivs Wertheimers werden alle erdenklichen Kombinations-, Vergleichs- und Kontrastmöglichkeiten durchgespielt. Jede Eigenschaft einer Person ist auch bei den beiden anderen - dem Pianisten Glenn Gould, hier einer Bernhard'schen Kunstfigur, und dem Ich-Erzähler - zu finden. Innerhalb dieser Figurenkonstellation wird die "Abhängigkeit" voneinander zu einem wesentlichen Element der Erzählung. Die Abhängigkeit Wertheimers von Gould, der den Gipfel der eigenen Kunst erreicht zu haben scheint, der aber ebenso wie Wertheimer zerbricht und dabei seine Menschlichkeit opfert, wirkt sich auf sein Dasein als ein nicht einzulösender Anspruch aus und endet als Katastrophe, die aus der Perspektive des Erzählers gleichsam vorprogrammiert scheint. Das Motiv zu bestimmen, das Wertheimer in die Selbsttötung trieb, ist letztlich unmöglich. So bleibt es die Aufgabe für den Erzähler und auch für den Leser, nicht länger nach dem Motiv zu suchen, sondern zu sich selbst zu kommen, um dem Leben bejahend begegnen zu können. Man kann also den Roman auch als Modell für Bernhards eigene literarische Strategie lesen: über den "Untergeher" zu schreiben, mit der entstandenen Schrift aber das eigene Überleben zu dokumentieren.

Hatte Wode bisher an Texten von Kafka, Fallada und Bernhard die Negation des Daseins aufgezeigt, so will er nun über eine Verneinung des Suizids die Bejahung des Daseins anhand des Essays "Über den Selbstmord" (1947) von Reinhold Schneider, einem der führenden Vertreter der "inneren Emigration" in der NS-Zeit, verdeutlichen. Wir wissen - nach Schneider - zwar um die tragische Begebenheit, dass wir sterben müssen, aber wir wissen nicht im Geringsten, was uns der Tod offenbart. Es sei ein "Spiel" von Vorstellungen, auf die wir uns während unseres Daseins einlassen. Folglich könnte das, was den Suizidanten erwartet, furchtbarer sein als das, was sein Dasein im Jetzt unerträglich erscheinen lässt. Der Suizidant entlässt sich nicht in die gewünschte Ruhe oder Freiheit, sondern in die Ungewissheit. Schneider nimmt eine metaphysische Instanz an, die über unser gelebtes Sein und unsere Todesart urteilt, und behauptet, dass der Tod nur die annähme, die er gerufen habe, den Anderen aber kein Friede versprochen sei. Der Suizidant stellt sich, genauso wie der Selbstzerstörer, der aber nicht nur sich selbst, sondern alles Leben vernichten will, gegen die "Ordnung" des Lebens, er achtet das Leben nicht. Die "Ordnung" aber, die Schneider hier meint, ist eine christliche Weltordnung, die immer mit gedacht werden muss, weil das dem Glauben immanente Hoffen nur in einem Bezug zu Gott den Anspruch von Ewigkeit, ewigem Leben aufweist. Der Mensch muss sich - so Schneider - seiner Endlichkeit stellen, um der Unabdingbarkeit Tod bewusst entgegentreten zu können. Aus der Hingabe an das religiöse Dasein erwächst also eine uneingeschränkte Bejahung des dem Leben innewohnenden Prozesses von Werden und Vergehen, der in der Liebe zu Gott gefestigt wird.

Jean Améry und Hermann Burger nähern sich der Beschreibung des Sujets Suizid dagegen in einer ganz anderen Weise als die bisher behandelten Texte. Das hängt auch damit zusammen, dass sich beide Autoren selbst für den Freitod entschieden haben. Sich gegen die Suizidologie wendend, vertritt Améry in seinem Essay "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod" die Auffassung, dass man den Suizid nicht als unmoralisch bewerten könne. Der Freitod müsse als Möglichkeit einer Befreiung vom Dasein akzeptiert werden. Sollte der Mensch das Leben nur als Scheiternder erfahren, gewährt uns die Option des "Freitodes" als unveräußerliches Menschenrecht eine bessere Position im Dasein. Wode gibt zu bedenken, den Text Amérys auch als ein Plädoyer für Würde, Menschlichkeit und Freiheit zu verstehen, denn die Option zum Suizid muss dem Subjekt gegeben sein, damit der individuell erlebte und durch die "échecs" (frz. für: jemanden Schach setzen, Niederlage) erlittene "Riss in der Weltordnung" (Hanjo Kesting) individuell geschlossen werden kann. Amérys Perspektive beschränkt sich auf das Negative des Daseins, solange ein unverändertes Gesellschaftsbild wahrgenommen werden muss, in dem sich eine Akzeptanz des Einzelnen nicht einstellt.

Die Lehre einer "totalen" Vorherrschaft des Todes über das Leben bezeichnet Hermann Burger in seinem "Tractatus-logico suicidalis. Über die Selbsttötung" (1988) als "Totologie", weil der Tod eine lebensbestimmende Konstante sei, die bereits in dem Begriff Leben mit einbeschlossen ist. Somit wird der gesamte Prozess des unabänderlichen "Geboren-Werden[s] und Sterben-Müssen[s]" als das beherrschende Moment des Daseins gesetzt. Burger "spielt" mit den literarischen Darstellungsarten, er präferiert die Kunst, weil uns der Wissenschaftsglaube keines unserer existentiellen Lebensprobleme beantwortet habe. Die Einzigartigkeit der Suizidtat wird im "Tractatus" der Originalität eines Kunstwerkes gleichgesetzt, weil es dem Künstler wie dem Suizidanten nicht auf die Genese, sondern auf das Ziel des Handelns ankommen würde. Der Verlust des Ichs könne mit den Mitteln der Kunst in seiner Extremform, der Selbsttötung, hervorgebracht werden. Zurückgelassen seien die Lesenden, die "Hinterbliebenen", die sich des Textes als Kunstwerk annehmen können, um aus ihm ihre eigenen Schlüsse für ihr Dasein zu ziehen.

Zum Gesamtverständnis des Suizids, so schlussfolgert Wode, können die literarischen Texte auch deshalb beitragen, weil sie aufzeigen, welchen Gefahren der Selbstwerdungsprozess ausgesetzt ist und weshalb ein Selbst den Suizid zur Problembewältigung heranzuziehen genötigt sein kann. Indem sich die Literatur der Darstellung existentieller Probleme bedient, kann sie manchem Leser zu einer Begegnung mit sich selbst verhelfen. So verstanden kann die Literatur eine "Reise" zum "Fremden" sein, das die Wahrnehmung erweitert und so zu einer veränderten Selbstwahrnehmung führt. Mit der Hinwendung zu einer "Lebenskunst", die den Suizid als Erscheinung nicht ausblendet oder verbietet, sondern sich ihm differenziert zuwendet, begründet Wode das Fazit seiner Arbeit: "In der emphatischen Begegnung mit dem suizidalen Anderen besteht die Gelegenheit, ein weitläufiges Erklärungsmodell für die Tat zu entwickeln. Wird dieser Weg gewählt, scheint es notwendig, die gesellschaftlichen Strukturen, die Denkungsart und den Zustand des dargestellten Selbst zu durchleuchten, um alle möglichen Motive zu erfassen, die einen Bestandteil der Tat, der Taten ausmachen können, wodurch sich das Selbst einer Selbstprüfung aussetzt". Damit wird ein wichtiger Baustein zu einem Fragenkomplex gesetzt, der bisher in der Literaturwissenschaft weitgehend verdrängt worden war.


Titelbild

Kai Wode: "Sich selbst das Leben nehmen". Versuch einer Typologie des Suizidanten anhand deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts.
Wehrhahn Verlag, Laatzen 2006.
296 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3865250254

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