Deutsche Serienkiller

Andrea Maria Schenkels "Kalteis" ist eine klug erzählte Parabel

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Andrea Maria Schenkel eine großartige Krimiautorin ist, hat sie bereits mit "Tannöd" bewiesen, mit dem sie gleich alles kassierte, was in Deutschland an Lob und Preis zu holen ist. Nun ist der zweite Roman einer Erfolgsschriftstellerin aber ebenso schwierig wie die zweite Platte einer Erfolgsband. Meistens begierig erwartet, enttäuscht es ein wenig, notwendigerweise, weil ja der Überraschungseffekt weg ist. Die Handschrift, der Stil ist bekannt und soll bestätigt werden. Andererseits soll es aber auch immer noch etwas neues, besonderes sein. Einer solchen Erwartungshaltung gerecht zu werden, ist für niemanden leicht. Um so erstaunlicher, dass Schenkel mit "Kalteis" dieses Kunststück gelingt. Wieder ist es ein historischer Fall, der im Zentrum der Geschichte steht. Wieder wendet Schenkel ihre spröden Montagen und Perspektivwechsel an. Wieder ist die Handlung aufgelöst in viele kleinere Episoden, deren Zusammenhang von den Lesern selbst hergestellt werden muss. Auch dieses Buch ist nicht übermäßig lang, und entwickelt so nie die berühmten Schmökerqualitäten: einen über Tage hinweg überall hin zu begleiten, in der Bahn ebenso herausgezogen zu werden wie für die paar Seiten abends vor dem Schlafen noch. Dafür ist auch "Kalteis" zu kurz, zu knapp, zu unprätentiös. Und trotzdem ist das Buch eine feine Fortsetzung all der Qualitäten, die eben auch schon "Tannöd" hatte, ohne eine geläufige Masche weiter auszuwalzen.

Es beginnt mit dem Ende, mit der Hinrichtung durch das Fallbeil im nationalsozialistischen Deutschland. Der Volks- und Parteigenosse Josef Kalteis ist schuldig befunden worden, sich mindestens an drei Frauen vergangen zu haben, sie überfallen, niedergerissen, vergewaltigt, ermordet, verstümmelt und danach weggeworfen zu haben. Kalteis ist zeitgemäß mit dem Fahrrad unterwegs. Seine Opfer sind junge Frauen, die auf dem Weg in die Stadt sind, dort ihr Glück versuchen wollen und der willkürlichen Gewalt des Täters nichts entgegensetzen können. Ein Mann, der so kompetent davon zu sprechen vermag, wie man Schlachtschweine ausnimmt, den es anmacht, wenn Frauen sich wehren, ein solcher Mann passt selbstverständlich nicht ins Selbstbild des nationalsozialistischen Deutschlands. Diese Gewalttaten müssen dem Nährboden der "Systemzeit", der Weimarer Republik zu verdanken sein. Und so sind es denn auch tatsächlich die Serienmörder der Weimarer Republik wie Fritz Haarmann in Hannover oder Peter Kürten in Düsseldorf, die ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegangen sind, und nicht die der NS-Zeit - wohl nicht zuletzt deshalb, weil über sie nichts weiter bekannt geworden ist. Nimmt man Schenkels Anfang ernst, dann durfte über sie nicht berichtet werden (anders im Übrigen als über den S-Bahn-Mörder in Berlin, über den die zeitgenössische Presse ausführlich berichtete und den -ky sechzig Jahre später literarisch verarbeitete). Lässt man nun naheliegende Assoziationen beiseite, in denen die sadistischen Fantasien Kalteis' mit den sadistischen Praktiken der SS-Schergen verbunden werden, dann verschwinden allerdings die Unterschiede zwischen den Serienmördern des demokratischen Zeitalters und denen der Diktatur. Auch die übrigen Besonderheiten fallen weg, wie der Fall Kathies zeigt, die sich aufmacht, um in der Stadt zur Dame zu werden (aber wir wissen von Beginn an, dass am Ende ihr Tod stehen wird). Was sie findet, sind dieselben Herumtreiber in den Münchener Biergärten wie auch in den Systemen vor und nach dem Nationalsozialismus. Arbeitslos, auf Abenteuer und das schnelle Geld aus, Sexualität ist ein Tauschgut, die fidele Zeit am Abend ist nur dazu da, sich eine Unterkunft für eine Nacht oder vielleicht einen Gönner für eine längere Zeit zu suchen. Geschafft hat es die junge Frau, die einen hat, der sie aushält. In Stellung gehen will Kathie nicht, sie will hoch hinaus und bewegt sich doch auf einer rasant abschüssigen Bahn, mit der sie mindestens ins Elend abzusinken droht. Schlimmer noch: Sie fällt Kalteis in die Hände.

Dokumentarisch ist das Ganze angelegt, auch wenn Schenkel nicht nur Verhörprotokolle inszeniert, sondern auch die Binnensichten der Akteure präsentiert und entsprechend simulieren muss. Dennoch blitzen die literarischen Rahmentexte und ihr Personal auf: Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz", die zahlreichen Dienstbotentexte des frühen 20. Jahrhunderts, Arthur Schnitzlers "Therese", Irmgard Keuns "Kunstseidenes Mädchen", Bertolt Brechts Balladen. Und mit ihnen das Porträt einer Epoche, in denen Frauen teils vergeblich ihren Platz in der Gesellschaft suchen, und Männer ihre Sexualität in der Aggression ausleben. Wenn man Figuren wie Kalteis nicht als Personifizierungen des Bösen oder einer pathologischen psychischen Deformierung sehen will, dann bietet sich am Ende vielleicht doch eine Lesart an, in der sich diese Männer und diese Frauen genauso wenig ihres Platzes in der Gesellschaft sicher sein können wie Erich Kästners Fabian. Das aber führt zu einer denkwürdigen Überlegung: Kalteis nimmt das nicht hin. Er nimmt sich, was er will. Und das geht nur gewalttätig. Damit aber ist er eine anachronistische Figur am unteren Ende der sozialen Pyramide, der immer nur die Vernichtung droht und die sich mit der Verrohung dagegen auflehnt.


Titelbild

Andrea M. Schenkel: Kalteis.
Edition Nautilus, Hamburg 2007.
154 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783894015497

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