Im Kerker der Philosophiegeschichte

Michael Ruoff unternimmt einen Versuch, Michel Foucault zu systematisieren

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Gefangene einer Klassifikation, eines Ortes oder einer Kompetenz zu sein, mit den Abzeichen der Autorität bedeckt, die ihren Getreuen eine disziplinäre Zugehörigkeit verbürgt, in der wissenschaftlichen Hierarchie 'etabliert' und kaserniert zu sein: das war für Foucault die Figur des Todes selbst". Mit diesen Worten charakterisierte Michel de Certeau, der französische Religionshistoriker und Jesuit, einen seiner berühmtesten Zeitgenossen, den Philosophen Michel Foucault. Knapp zwei Jahre nach dessen frühem Tod im Juni 1984 brachte de Certeau auf den Punkt, was er als Foucaults ureigenes Vermächtnis ansah: dessen permanenten Versuch, anders zu denken, und dessen fast schon manische Angst davor, auf eine einzige Position festgelegt zu werden. Denken hieß für Foucault weitergehen, und darin besteht eine bezeichnende Analogie zu einem seiner Zentralbegriffe, dem Diskurs. Bedeutet dis-cursus doch nichts anders als die Bewegung des Hin- und Herlaufens, des Kommens und Gehens, des Unternehmens immer wieder neuer Schritte.

Dem Technikphilosophen und Wissenschaftshistoriker Michael Ruoff, der als Autor für das vorliegende "Foucault-Lexikon" verantwortlich zeichnet, steht dieser Sachverhalt deutlich vor Augen, sieht er das Denken des französischen Philosophen doch durch ständige Umorientierungen und Selbstkorrekturen gekennzeichnet. Und dennoch hat er das Wagnis auf sich genommen, dieses Denken in einem Lexikon zu systematisieren. Daraus ist ein Werk entstanden, das jedem zu empfehlen ist, der sich bereits intensiv mit Foucault beschäftigt hat und seine Kenntnisse vertiefen will. Für Einsteiger in Leben und Werk des französischen Philosophen ist dieses Lexikon jedoch weniger geeignet. Zum einen wird dessen Denken an keiner Stelle in den spezifischen französischen Kontext der 1950er- und 1960er-Jahre eingeordnet, in dem es als Gegenbewegung zu Psychoanalyse, orthodoxem Marxismus und Strukturalismus entstand. Zum anderen beschränkt sich Ruoff darauf, Foucault aus dessen Werk heraus zu verstehen, und lässt die umfangreiche Sekundärliteratur bewusst beiseite. Die "Zusammenhänge", von denen im Untertitel des "Foucault-Lexikons" die Rede ist, kommen daher zu kurz, und dies ist der Benutzbarkeit für Einsteiger abträglich.

Ruoffs Nachschlagewerk beginnt mit einer viel zu knapp gehaltenen Einleitung zur fächerübergreifenden Relevanz von Foucaults Begriffen und Konzepten. Dem folgt ein knapp 40-seitiger, chronologisch angelegter Überblick zu dessen Hauptwerken, der sowohl die zu Lebzeiten publizierten Monografien wie auch die postum herausgegebenen Vorlesungsmitschriften enthält, die aus Foucaults Zeit als Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France in Paris stammen. Der fast 200 Seiten lange lexikalische Teil umfasst unter der Überschrift "Grundbegriffe" schließlich mehr als 80 Einträge zu verschiedenen, von Foucault benutzten oder auch geprägten Termini. Diese werden aus einer Vielzahl von Primärschriften des französischen Philosophen herausdestilliert, und die jeweiligen Fundstellen sind am Ende jedes lexikalischen Eintrages über ein Siglensystem nachgewiesen. "Einleitung", "Überblick" und "Grundbegriffe" sind durch ein umfassendes Verweissystem miteinander verbunden, wie es für ein Nachschlagewerk üblich ist.

Über die Auswahl der "Kernbegriffe", mit denen der Autor Foucaults Werk erschließt, lässt sich trefflich streiten. Sie ist im Großen und Ganzen gelungen, wenngleich für den Leser nicht immer nachvollziehbar. Beispielsweise hat Foucault in "Überwachen und Strafen" von 1976 ein ganzes Arsenal von Termini wie "Apparate", "Instrumente", "Techniken", "Mechanismen" oder "Maschinerien" benutzt, die denselben Sachverhalt bezeichnen. Keiner dieser Begriffe findet sich im vorliegenden Lexikon, wohl aber Einträge zu "Disziplin(en)", "Körpertechnologien" oder "Technologien", die den eben genannten homolog sind. Eine große Stärke des Lexikons liegt darin, dass Ruoff stets die Entwicklungsgeschichte der Begriffe bei Foucault nachzeichnet. Am deutlichsten wird dies beim Stichwort "Diskurs", dem längsten Eintrag. Zu Recht konstatiert der Autor für die Zeit nach Foucaults Pariser Antrittsvorlesung vom Dezember 1970 einen Übergang von einem sprach- zu einem praktikfixierten Diskursbegriff. Interessierte sich Foucault vorher für die einschränkenden Funktionen sprachlicher Äußerungen, so stand nach dieser Wende die produktive Funktion von spezifischen Praktiken wie "Macht", "Disziplin", "Gouvernmentalität" oder den "Technologien des Selbst" im Vordergrund. Leider fehlt im vorliegenden Lexikon ein Eintrag zu "Praktiken", obwohl Ruoff an nicht wenigen Stellen auf einen solchen verweist. Foucaults schwierige Unterscheidung zwischen dem Diskurs auf der einen und dessen nichtsdiskursiven Bedingungen auf der anderen Seite wird dadurch nicht hinreichend deutlich.

Ein weiteres Problem besteht in der textimmanenten, strikt hermeneutischen Foucault-Exegese. Auf diese Weise wird ein Sinnzusammenhang gestiftet, der Foucaults Denken auf irreführende Weise vor den Karren einer Chronologie spannt. Zu oft referiert der Autor Foucaults historische Befunde, als handele es sich dabei um gesicherte Erkenntnisse. Die These, es habe im 17. und 18. Jahrhundert eine "große Einsperrung" gegeben, wodurch der Wahnsinn erst konstituiert worden sei, kann inzwischen als widerlegt gelten. Dasselbe betrifft die in "Die Geburt der Klinik" von Foucault mit Verve vorgetragene Behauptung, die Kenntnis des individuellen Körpers des Kranken trage weniger zum Verständnis bei als der spezifische ärztliche Blick, der sich zwischen den 1780er- und 1820er-Jahren entwickelte. Ebenso wenig haltbar ist Foucaults ethisches Argument, die antike Diätetik sei eine Lebenskunst gewesen, die auf eine bewusste Regulierung der Lüste abgezielt habe. Die Bedeutung des französischen Philosophen liegt nicht in der Darstellung von empirischen Details, sondern in seiner Methodologie beziehungsweise in der kreativen Art und Weise seiner Theoriebildung - wenn man dieses Wort für das Denken in Bewegung, das ihn generell kennzeichnet, überhaupt gelten lassen soll.

Jeder, der sich über zentrale Begriffe informieren oder entlegene Textstellen im Werk Foucaults finden will, wird das vorliegende Lexikon sicherlich mit Gewinn zur Hand nehmen. Um jedoch mit Foucault arbeiten zu können, muss man seinen Diskurs durchdenken, und dies erfordert es, seine Bücher selbst zu lesen. Ruoffs Interpretationen, die samt und sonders werkgetreu sind, können zu einer solchen Lektüre hinführen, diese aber keinesfalls ersetzen. Bleiben noch die Bedenken angesichts der Form, die der Autor gewählt hat. Zeigt die Systematisierung im Rahmen eines Lexikons nicht gerade jene Vereinnahmung an, gegen die sich Foucault, wie de Certeaus eingangs zitierte Äußerungen nahe legen, Zeit seines Lebens so vehement gewehrt hat? Dies scheint in der Tat nicht von der Hand zu weisen zu sein. Sein Werk in einem Lexikon zu verewigen heißt, Foucault freiwillig zu einem Gefangenen der Klassifikation zu machen, ihn in den Kerker der Philosophiegeschichte zu sperren. Wird es für ihn ein Entrinnen geben?


Titelbild

Michael Ruoff: Foucault-Lexikon. Entwicklung - Kernbegriffe - Zusammenhänge.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2007.
242 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783825228965

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