Tod im Gaswagen

Shmuel Krakowski schildert die Geschichte des Vernichtungslagers Chelmno/Kulmhof

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chelmno, das die Deutschen Kulmhof nannten, wäre eigentlich ein "kleines polnisches Dorf im Kreis Kolo", 70 km nordwestlich von Lodz am Fluss Ner. Heute aber steht der Name des Dorfes neben solchen Ortsnamen wie Belzec, Treblinka, Sobibor, Auschwitz-Birkenau oder Babi Yar: Orte des Massenmordes an den europäischen Juden.

Über Chelmno, so erläutert der Historiker Shmuel Krakowski, ehemaliger Direktor des Yad-Vashem-Archivs, in seinem Buch über das "Todeslager", ist die Quellenlage "äußerst dürftig". Das liegt zum einen daran, dass die Deutschen ihr mörderisches Tun in Chelmno vergleichsweise erfolgreich verbergen konnten. Schriftliche Dokumente zum Massenmord sind nur wenige überliefert.

Chelmno war ein "Vernichtungslager". Es gab keine Selektionen. Die Menschen, die dorthin kamen, wurden sofort umgebracht. Deshalb gibt es kaum Überlebende, die von den Taten hätten berichten können. Und dennoch wurden bereits während des Krieges Nachrichten über das Lager und das, was dort geschah, bekannt. Dies ist den wenigen jüdischen Zeugnissen zu verdanken, die trotz der schrecklichen Umstände den Weg nach draußen fanden und dort verbreitet wurden. Dagegen blieben die Augenzeugenberichte der polnischen und deutschen Nachbarn, die durch zufällige Umstände in die Nähe des Geschehens gerieten, zunächst unbekannt. Erst nach Kriegsende berichteten sie über das Morden. Diese Erzählungen wurden Bestandteil der Gerichtsprotokolle, die während der Prozesse gegen einige der deutschen Mörder entstanden. Sie ergänzen die Aussagen der Beteiligten und erlauben eine weitgehende Rekonstruktion des Massenmordes: "Diese drei unterschiedlichen Quellenarten - die Dokumente der Deutschen, die jüdischen Zeugnisse sowie die Gerichtsprotokolle, vermitteln uns eine schärferes, wenngleich unvollständiges Bild über die Schrecknisse in Chelmno."

Chelmno lag im "Warthegau". So nannten die Deutschen den nach der Besetzung Polens ins Reich eingegliederten Teil des Landes. In diesem Gebiet lebten vor Beginn des Krieges etwa 420.000 Juden, mehr als die Hälfte dieser Menschen lebte im Großraum Lodz. Sofort nach der Besetzung des Landes begann der Terror gegen die jüdische Bevölkerung. Wahrscheinlich im Spätherbst des Jahres 1941 fiel die Entscheidung, in Chelmno ein Lager zur Tötung der jüdischen Bevölkerung des Gaues einzurichten. "Chelmno war die erste Vernichtungsstätte, wo der Massenmord in einem fest stationierten Lager stattfand." Die Tötung der mit Lastwagen und einer Kleinbahn herangebrachten Juden, sowie der etwa 5.000 Sinti und Roma aus Österreich, die bis zu ihrer Tötung im Januar 1942 innerhalb des Gettos in Lodz unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht waren, erfolgte mit "Gaswagen". Die Menschen wurden in speziell hergerichtete LKWs gepresst, in die über einen Schlauch die Abgase des Wagens geleitet wurden. Die Wagen fuhren ins so genannte "Waldlager" in einem nahegelegenen Wald, wo Massengräber ausgehoben waren, in die die Leichen der Ermordeten geworfen wurden. Diese Arbeit verrichtete das "Arbeitskommando", dem etwa 60 Männer angehörten, die aus den Transporten ausgewählt wurden. Die Männer wurden nach einiger Zeit ebenfalls ermordet und das Kommando mit neuen Ankömmlingen aufgefüllt.

Bis zur ersten Auflösung des Lagers im März 1943 wurden in Chelmno mindestens 145.000 Juden ermordet. Sie kamen überwiegend aus dem Warthegau. Seit Januar 1942 hatten auch Deportationen aus dem "Ghetto Litzmannstadt", wie Lodz nun hieß, nach Chelmno begonnen. Nach der Entscheidung zur Auflösung des Gettos Lodz wurden die Gettobewohner zumeist nach Auschwitz deportiert. Aber auch in Chelmno wurde im April 1944 der Mordbetrieb wieder aufgenommen. Mindesten 7.000 Menschen aus dem Getto Lodz wurden während der zweiten ,Betriebszeit' des Lagers ermordet.

Krakowski ,erzählt' die Geschichte des Gettos auf der Grundlage bekannter Dokumente, die er zu einer geschlossenen Darstellung der Lagergeschichte zusammenführt. Viele der in den Text eingegliederten Dokumente stammen aus dem Getto Lodz. Das tragische Geschehen dort, insbesondere die Rolle des "Judenältesten" Chaim Rumkowski, bildet schließlich ein zweites Zentrum in Krakowskis Buch. Krakowski stellt zunächst fest, dass es im Warthegau "mehr Überlebende als in anderen Regionen Polens" gab. "Grund dafür ist das lange Fortbestehen des Ghettos Lodz, des zuletzt existenten Ghettos auf polnischem Boden." Das ist für manche Grund, Rumkowskis verzweifelte Kollaboration mit den Deutschen als Verdienst anzusehen, gegen die Meinung derer, die dies als Verrat und Beihilfe am Verbrechen bewerten. Krakowski stellt klar, dass es nicht in Rumkowskis Macht lag, irgendetwas zu entscheiden: "Über das Schicksal der Menschen entschieden ausschließlich die Deutschen."

Aber es bleiben Fragen: Gab es eine moralische Gewissensalternative? Durfte Rumkowski, wie er selbst es sagte, "Organe amputieren, um den ganzen Körper zu retten"? Hätte er dies nicht den deutschen Mördern selbst überlassen müssen? "All dies sind schwere, schmerzhafte und unausweichliche Fragen. Aber ebenso, wie man diese Fragen nicht umgehen kann, wäre es genauso falsch, zu versuchen, sie zu beantworten." Denn es ist zu bezweifeln, dass noch jemand fähig ist, "in die ganze Tiefe jener beispiellosen Tragödie zurückzutauchen. Wahrscheinlich", so bilanziert der Überlebende des Getto Lodz, "ist es besser, diese Fragen unbeantwortet im Raum stehen zu lassen."


Titelbild

Shmuel Krakowski: Das Todeslager Chelmno/Kulmhof - Der Beginn der "Endlösung".
Übersetzt aus dem Hebräischen vonRachel Grunberg Elbaz.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
236 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302228

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