Wunder gibt es immer wieder

Die deutsche Literatur der 90-er Jahre in 13 Autorenportraits

Von Holger HeimannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Heimann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist viel geschrieben und gerätselt worden über die Krise der Literatur hierzulande. Vor einigen Jahren aber wurde das große Klagen abgelöst vom Jubel über die neue Erzähllust und Fabulierkunst deutscher Autoren und Autorinnen. Namen, die zuvor niemand gehört hatte, standen plötzlich in allen Feuilletons. Was war geschehen?

Thomas Kraft, bis vor kurzem noch Programmchef des Münchner Literaturhauses und jetzt freier Kritiker, hat sich entschlossen, das Wunder genauer anzusehen. Er bat Kritikerkollegen, eine Autorin oder einen Autor ihrer Wahl zu portraitieren, der oder die in den letzten Jahren debütiert und von sich Reden gemacht hat. Eine Anthologie trifft immer eine Auswahl und gibt einen Überblick - "aufgerissen" heißt das Buch deshalb. Es fehlt zum Beispiel Zoë Jenny - schade -, und es fehlt Thomas Kracht - das macht aber nichts. Manch ein Anfang liegt schon in den 80-ern, etwa bei Thomas Meinecke, Helmut Krausser und Raoul Schrott, doch haben auch sie an ihrer Autorenbiographie vor allem im vergangenen Jahrzehnt geschrieben. Ohnehin lässt sich Literatur nicht einfach nach Dekaden rubrizieren. Dennoch, es war und ist allgemein spürbar: Ein frischer Wind blies am Ende des alten Jahrhunderts - er hat auch neue Buchseiten auf- und umgeblättert.

Die Welt ist eine andere geworden. Die Mauer fiel und mit ihr alte Denk- und Lebensgewohnheiten. Doch die Veränderung geht noch weiter: Die globalisierte Welt mit Internet, Börse und gigantischen Wirtschaftsfusionen hat Staatsgrenzen ausradiert. Das menschliche Erbgut wird entziffert, bald können wir uns selber klonen. Die Vorstellungskraft bleibt hinter dem Machbaren zurück. Wie schlägt sich all das in Literatur nieder? Gibt es - um mit Iris Radisch zu sprechen - den "authentischen Ort in der Literatur"? Es geht um 13 Schriftsteller und Schriftstellerinnen, und es geht um ebenso viele Antworten. Diese Anthologie etabliert keine Gruppe, sondern zeigt eine Vielfalt von Themen und ästhetischen Konzepten. Lediglich nach-, neben- und miteinander gelesen mögen sich die einzelnen Beiträge ergänzen zu einer vielstimmigen Musik der 90-er Jahre.

Krafts "aufgerissen" ist eine Sammlung von klugen, erhellenden Portraits, die gern, doch keineswegs leichtfertig loben. Jörg Magenau etwa hat ein genaues, distanziert kritisches Bild von Thomas Brussig entworfen, das sich nicht nur den einzelnen Texten nähert, sondern auch von Vermarktungsstrategien handelt. Allesamt sprechen diese 13 Portraits nicht nur von der Lust am Lesen, sondern machen ihrerseits Freude. Sie belehren nicht, sie sind auf intelligente Weise selbst unterhaltsam. Eigene Lektüreerlebnisse finden sich bestätigt, auf anderes wird aufmerksam gemacht. Etwa wenn Peter Michalzik über Ingo Schulzes "Simple Storys" schreibt: "Irgendwie war in diesem Buch alles versteckt, spielte im Hintergrund, und das Ganze war unterkühlt. Die Ironie war so ironisch, daß sie kaum zu bemerken war."

Am schönsten freilich wäre es wohl, einen Autor durch die luzide Beschreibung seines Werks überhaupt erst für sich zu entdecken: das Multitalent Raoul Schrott etwa, vorgestellt von Thomas Kraft, oder die verrätselten Geschichten der Felicitas Hoppe, die auch Paul Ingendaay manchmal irritiert haben. Diesen Portraits kann solche Überredungskunst getrost zugetraut werden.

Titelbild

Thomas Kraft: Aufgerissen. Zur Literatur der 90er.
Piper Verlag, München 2000.
208 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3492042244

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