"Dichtung und Wahrheit im Fernsehformat"

Richard Wagners didaktischer Roman "Das reiche Mädchen"

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Halb Spiel, halb Ernst, nicht ganz Fiktion, nicht ganz Dokument, sozusagen Dichtung und Wahrheit als Fernsehformat", umschreibt der Schriftsteller und Drehbuchautor Carlo Kienitz in Richard Wagners neuem Roman "Das reiche Mädchen" die Arbeitsmethode der Regisseurin Anna Wysbar. Von ihr hatte Kienitz, der zugleich als Erzähler des Romans fungiert, das Angebot angenommen, das Drehbuch zu einem Film über das Leben der ermordeten Ethnologin Sybille Sundermann zu schreiben. Nicht zuletzt, weil Kienitz die eigenwillige Tochter aus reichem Hause und ihre "tragische Liebe" zu Dejan Ferari, dem "Rom" und "serbischen Deserteur", kannte. Einige Jahre vor Einsetzen der Romanhandlung war die Wissenschaftlerin im Streit von ihrem Geliebten erstochen worden. Das Drehbuch versucht ihre Beziehung zu rekonstruieren.

Wie Mitglieder ihrer reichen Familie in Stiftungen "das Gute kuratieren", so versucht Sybille stets auf der Seite des Guten zu sein. Bei einem Studienaufenthalt in den USA sind es zunächst die Indianer in Oklahoma und nach ihrer Rückkehr sind es die Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, für die sie Partei ergreift. Besonders das Schicksal der Sinti und Roma, deren Interessen und Rechte sie sich als Wissenschaftlerin ganz und gar verschreibt, sind nun der neue Lebensinhalt der Wissenschaftlerin. So versucht sie das schlechte Gewissen loszuwerden, das sie seit Schulzeiten plagt. Denn bei einer Klassenfahrt nach Bergen-Belsen erfährt sie, dass der große Reichtum ihrer Familie auf den Einsatz von Zwangsarbeitern in der NS-Zeit zurückgeht. Dabei reift in Bille, wie sie genannt wird, der Entschluss, die Schuld in der Gegenwart abzutragen, die "Schande" loszuwerden: "Bille will die Wahrheit, die volle Wahrheit, sie will aber auch nicht bei der vollen Wahrheit stehen bleiben, sie will die Konsequenz der vollen Wahrheit für die Gegenwart. Dieser Gedanke wird ihr weiteres Tun bestimmen, ihr Schicksal."

So wird die Sache der Roma mehr und mehr zu ihrer Sache: "Das Detail, das Bille von der Lagerausstellung mitnimmt, das im Gedächtnis untilgbare Detail, ist, daß die Firma ihrer Familie offenbar ein Romalager unterhielt, Zwangsarbeiter, von der SS zur Verfügung gestellt. Als Ersatz für die an die Front abgetretene Arbeitskraft."

Als sie eines Tages Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien interviewt, lernt sie den Serben Dejan Ferari kennen und lieben. Nach Roma-Sitte heiraten sie, bekommen eine Tochter und Bille reist mit Dejan, der keine dauerhafte Arbeit findet und schließlich in Trinkgelage sowie kriminelle Autoschiebereien verwickelt ist, zunächst als Vorzeigepaar von Kongress zu Kongress.

Doch das anfängliche Glück ist trügerisch. Die gegenseitigen Rollenzuweisungen überfordern beide zunehmend: "Ihr Ethnologinnenblick kann wie ein Überfall sein. Er aber fühlt sich ertappt. Meint, den Rom geben zu müssen, der er so nicht ist, nicht sein will. Zum Rom wird man gemacht. Von Feinden wie von Freunden. Manchmal merkt sie den Fauxpas, manchmal nicht. Sie entschuldigt sich bei ihm, aber er weiß nicht wofür. Und sie erklärt es nicht weiter, was soll sie auch erklären? Sie würden sonst über nichts mehr außer sich selbst sprechen. Das aber geht an die Substanz der Liebe. Und schadet der Sache. Die Liebe ist nicht verhandelbar. Die Sache schon längst nicht. Und gar nicht die Sache, für die Bille gerade steht, für die sie gerade stehen will, die Sache der Roma. Sie ist so weit weg von ihr, dass sie sich Dejan in ihr Leben holen muss, um sicher zu sein, dass ihr die Sache nicht verlorengeht."

Und so nimmt das bereits am Anfang angekündigte Verhängnis in der Drehbuch-Erzählung seinen finalen Lauf bis zu dem Zeitpunkt, als Dejan aus dem Gefängnis entlassen wird. Doch nicht nur die Liebe bleibt auf der Strecke. Auch auf der Textebene gibt es Verluste, auch wenn sie gegen Ende der Erzählung durch die Schilderung der Stimmen des Königs, die Dejan zu hören beginnt, abnehmen. Denn die analysierenden Autorkommentare, das Benennen und Erklären von Beziehungsmustern und Familienabhängigkeiten, das Beschwören von "Freiheit, Liebe, Tod und Schuld" bieten allzu viel plakative Didaxe und lassen dem Text, dem ein realer Fall zu Grund liegt, viel zu wenig Freiraum und Eigenleben. So gerät der Roman selbst zu jenem "nicht ganz Fiktion, nicht ganz Dokument, sozusagen Dichtung und Wahrheit als Fernsehformat".


Titelbild

Richard Wagner: Das reiche Mädchen.
Aufbau Verlag, Berlin 2007.
253 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351032265

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