Nur die Wahrheit
Peter Nadas verfolgt sichtbare und unsichtbare Spuren der sozialistischen Diktatur
Von Manuela Lück
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer vorliegende Sammelband ist eine Zusammenstellung verschiedener Texte aus der Zeit vor 1989, ergänzt durch ein Interview aus dem Jahre 2006. Die Texte vermitteln jene Atmosphäre der sozialistischen Diktaturen, die die Enge, die Angst, die Repressionen und die Einschränkung der persönlichen Freiheit, aber auch den Kampf und die Verteidigung des eigenen moralischen Anspruchs auf unterschiedliche Weise transportieren.
Begleitet werden die Texte von Fotografien von Péter Nádas, der hier seiner zweiten Profession frönt. Die Geschichten zeigen eine Welt, die scheinbar vergangen ist und von vielen verdrängt und vergessen wird - aber ihre Spuren, die Spuren der totalitären Gesellschaften im Osten Europas, sind allgegenwärtig. Péter Nádas führt den Leser mit seiner "Spurensicherung" hinein in die Welt der Erinnerung an jene Zeit, die vor allem von der Angst geprägt war. Denn "in der Diktatur spielt man ein bisschen mit der Angst, geht auf sie ein, schmeckt sie, muß sich mit ihr befreunden, will aber im Interesse der eigenen Sicherheit gar nicht wissen, was man weiß." Diese alles beherrschende Angst und die mit ihr einhergehende Bedrückung, die den Wunsch auf ein freiheitliches Leben zerstören, sind in diesem Buch allgegenwärtig: in der Beschreibung des Kampfs gegen Willkür und Bürokratie und derjenigen der Suche nach der früheren Stätte der Qual und Folter, ebenso wie in dem Essay darüber wie es ist, wenn sie sich in die Lebenslinien und Mentalitäten gefressen hat. Greifbar wird die Angst auch im Gespräch über das Dilemma, eine Balance zwischen den moralischen Prinzipien und den Anforderungen der Lebenswirklichkeit zu finden.
Der erste Text, "Liegengebliebene Aufzeichnungen eine Provinz-Journalisten", beschreibt, anhand von kunstvollen Perspektivwechseln, zitierten Briefen und Gesprächsfragmenten, die Folgen einer Denunziation, die das Leben einer Familie zerstört. Warum der Mann es getan hat, das bleibt im Dunkeln. Nur annähernd kann dieses System der Macht und des Verrates begriffen werden.
Bei der nächsten "Spurensicherung" wird der Text "Freiwillige für den Galgen" von Béla Szász, der zu den Opfern der kommunistischen Schauprozessen zählt, zum Begleiter für Nádas Erkundungen. Ein altes Haus in den Bergen von Buda wird besichtigt und nach und nach entfalten die Räume, die mit Hilfe des Texte von Szász erkannt werden, ihre frühere Identität als Stätten der Folter. Hier mussten die Angeklagten, wenn sie die unermeßlichen Qualen überlebten, Taten gestehen, die sie nie begangen hatten, um dann in Schauprozessen verurteilt zu werden. Die Entdeckungen in jenem augenscheinlich so normalen Wohnhaus lassen Erinnerungen an frühere Ereignisse und Beteiligte aufleben, deren Biografien für den mit den Fakten nicht so vertrauten Leser in ergänzenden Fußnoten erzählt werden. Dabei werden auch ihre Verschränkung mit dem heutigen Alltag gezeigt. Durch die Fotos, die von Nádas selbst stammen und den Text, der auch einige Passagen aus Szász Text enthält, wird ein mehrdimensionales Bild erzeugt, dessen bedrückender Atmosphäre sich der Leser nicht entziehen kann. Es gibt hier keinen Trost, sondern nur die Wahrheit der Erinnerung der Opfer. Im sich anschließenden Essay "Parasitäre Systeme. Vom geistigen und mentalen Trümmerhaufen, den uns der Kalte Krieg hinterließ" setzt sich Nádas mit den Spätfolgen der Diktatur in der post-sozialistischen Gesellschaft für die Integration Europas auseinander. Er beschreibt zwei Arten von Lebenslügen, die westliche und die östliche, die bis heute einen Bruch zwischen West und Ost verursachen und eine vollständige Einigung Europas beinahe unmöglich machen. Nádas wirft dem Westen vor, sich hinter rituellen Protesten und der eigenen Freiheit versteckt zu haben und die Ideale von Bürgerlichkeit und Solidarität auf den eigenen Wirkungsbereich beschränkt zu haben. Beide politischen Systeme konnten nur durch das Ineinandergreifen der jeweiligen, pathologisch zu nennenden Simulationen funktionieren, auch wenn diese Gemeinsamkeit bis heute weitestgehend verdrängt wird.
Diese Verdrängung dauert immer noch an, auch wenn inzwischen die totalitären Staaten im Osten Europas zusammengebrochen sind. Eine Auseinandersetzung oder eine Neuerfindung der eigenen Sozialisation hat nicht stattgefunden, stattdessen wählte man den totalen Gedächtnisverlust. Nádas Fazit lautet, dass die jahrzehntelange Unterdrückung und die erlernten Strategien des Überlebens in der Diktatur nicht für ein Leben in der Demokratie und zur Entfaltung einer autonomen Persönlichkeit taugen. Diese östliche Prägung und die auf dem liberalen Genussprinzips des Westens basierende Lebensform stehen sich unversöhnlich gegenüber und können nicht aufgelöst werden. Dies führt, so Nádas, zu einer langfristigen Verschärfung des Konfliktes zwischen Ost und West und bildet politische Extreme heraus. Der Zusammenbruch der DDR und der Staaten im Osten geschah nicht, weil die Menschen auf einmal fanden, dass die westlichen Demokratien der bessere Entwurf sind, sondern weil sie von einer animalischen Besitzgier geleitet wurden, die sich nach jahrelangen Entbehrungen aufgestaut hatte. Wäre es anders, dann hätten die demokratischen Parteien nach dem Zusammenbruch die politische Führung übernommen. Der Westen steht aber weiterhin unter dem Primat des Ökonomischen und der Osten unter jenem des Politischen und des Unvermögens, sich der Freiheit zu bedienen.
Die Erzählung "Heute" gleicht einer traumwandlerischen Reise. Die beengten Räume eins verschneiten Bauernhofs werden für einen Abschied, für eine Etappe der Entfremdung, nur scheinbar verlassen. Es ist das Ende von Etwas, aber etwas Neues kann nicht beginnen, denn weder der Enkel noch die Großmutter können sich aus ihrer erlernten Verharrung lösen.
Der letzte Text in diesem Band ist das längere Interview "Die Haut zu retten",das von Nádas' Versuch berichtet, eine Balance zwischen dem eigenen moralischen Anspruch, nicht mit dem System zu kooperieren, und den Anforderungen des alltäglichen Lebens zu finden. Nádas beschreibt sein Leben zwischen den Versuchen, ihn politisch zu vereinnahmen, dem Wunsch, die eigene schriftstellerische Autonomie und mit ihr die eigenen Text vor der Zensur zu bewahren. Es geht um zahlreiche Auseinandersetzungen mit den Mächtigen. Vieles von seinen Schilderungen erinnert an die Kämpfe der Schriftsteller in der DDR und ihrem Konflikt mit Verlagen, Behörden und Ministerien. Hier offenbart sich die Gemeinsamkeit der politischen Diktaturen im Osten von Europa: ihre unmenschliche Unterdrückung der Freiheit und Autonomie des Einzelnen.
Dieser Band versammelt Texte aus unterschiedlichen Phasen der politischen Diktatur und zeichnet den Weg Nádas hin zur eigenen Autonomie nach. Zunächst die Konfrontation mit der Willkür, das Erschrecken beim Erkennen einer bitteren Wahrheit und zuletzt das Ringen um moralische Verantwortung vor sich selbst und den eigenen Texten. Nádas, einer der wichtigsten ungarischen Autoren, der spätestens mit seinem "Buch der Erinnerung" zu den großen europäischen Erzählern gehört, hat erneut seine Klasse unter Beweis gestellt. Seine Beschreibung und Analyse der sozialistischen und post-sozialistischen Gesellschaften und deren Atmosphäre gehört zu dem Eindringlichsten des bisher Erschienenen.
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