Zappingtour

Tobias O. Meißners literarische Sample-Orgie "Starfish Rules"

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende der 30-er Jahre: Ein Deutscher flieht mit einem geheimnisvollen Koffer vor den Nazis nach Amerika. Dort bestimmt die Gewalt rivalisierender Gangs, die um die Herrschaft der Städte kämpfen, den apokalyptisch gezeichneten Alltag. Im mysteriösen Koffer befindet sich die gefährlichste Waffe der Welt: Die Atombombe der Bronzezeit, der Schlauch des Äolos! Im Auftrag der mächtigen Organisation SanguiNet unterwegs, muss sich der Held wider Willen vor allerlei seltsamen, abgedrehten und skrupellosen Killern retten, denn wenn die Luft aus dem Sack strömt, ist "zappenduster" angesagt. Rebellierende Indianerstämme, das schwarze New Pride Movement, der SinKing, Johnny December, ein Jesus-ähnlicher Grabschänder, nicht zu vergessen Orson Welles und Charles Manson (!) mischen kräftig mit in dieser von Ideen und Figuren überladenen Story, die sich nur schwer wiedergeben lässt.

"Starfish Rules" ist der Erstlingsroman des 1967 geborenen, in Berlin lebenden Autors Tobias O. Meißner. Schenkt man den Verlagstrommeln Glauben, so gelingt ihm die Synthese aus Franz Kafka und Quentin Tarantino. Doch mit Kafka hat "Starfish Rules" gar nichts zu tun. Und Tarantino versteht es im Gegensatz zu Meißner, aus Zitaten, Anspielungen und wechselnden Handlungssträngen ein aberwitziges und spannendes Ganzes zu erzeugen. "Starfish Rules" dagegen wirkt in seiner Mixtur aus Groschenroman, B-Movie, Geschichtsunterricht und MTV-Ästhetik so aufregend, als hätte sich Johannes Mario Simmel im Marihuanarausch an einer Cut-up-Version von "American Psycho" versucht.

Meißner liefert den Soundtrack zu seiner obskuren Story gleich mit. Jimi Hendrix, "Public Enemy", "Rage Against The Machine" geben sich ebenso ein Stelldichein wie "The Cure". Deren Sänger war zwar schon immer etwas blass um die Nase; so alt, dass er bereits in den 30-ern melancholischen Killern den Alltag musikalisch versüßt hat, ist er nun aber auch wieder nicht. Was soll man damit anfangen, wenn ein Autor die Musik von heute völlig selbstverständlich in einen Pulp-Roman der 30er Jahre hineinschreibt? Ein Verfremdungseffekt, Science Fiction ad absurdum? Nein, das ist nicht viel mehr als ein einmal kurz staunend machendes Spiel, das sich als netter runninggag durch den gesamten Roman zieht.

Etwas ausgefallener ist da schon die Idee, jedes Kapitel des Romans mit einer eigenen Schrifttype auszustatten. Fiktive Lexikonartikel, um 90 Grad gedrehte Texte, Briefe, Kalenderblätter reihen sich in entsprechend unterschiedlichen Schriftarten aneinander. Mit der Typographie wechseln Erzählperspektive, Stil und Handlungsort in derart rasantem Tempo, dass es selbst hartgesottenen, MTV-erprobten Lesern schwer fallen dürfte, noch den Überblick zu behalten. So entsteht eine in ihren Bestandteilen qualitativ stark schwankende Collage. Denn Meißners Spagat zwischen den Genres (von Anleihen beim Krimi-, Horror- bis hin zum Westerngenre ist alles vorhanden) geht vielfach nicht über das Niveau eines oberflächlichen Zitierens von Diktion und Sujet hinaus und lässt eine ironische Distanz zu den Ausgangsgenres nicht erkennen. Nahezu unerträglich beispielsweise das stereotype Geschwätz der Protagonisten bei einem Zoobesuch: "Sieh sie dir an hinter den Gitterstäben. Wir können ihrem Blick nicht mehr ohne Scham begegnen. Denn wir sind es, die im Käfig stecken, nicht sie."

Manchmal gelingt es dem Autor doch, einen ganz witzigen Einfall in seine unkoordinierte Sample-Orgie einzuflechten. So verbalisiert Meißner Elemente der Filmsprache, etwa das für den Hollywoodfilm typische Imitieren eines Kameraschusses: "Das Blitzlichtcrescendo flammte auf. Er erstarrte und wurde schwarzweiß." Oder die Karikatur eines Radiopriesters, der seinen Zuhörern zuruft: "Vögelt jetzt, meine Brüder und Schwestern, [...] denn jetzt ist die Zeit, wo alle Gläubigen kommen."

Der Autor will schockieren und schmeißt alles zusammen, was Geschichte, Religion, Mythologie, Politik und Popkultur so hergeben. Er streut hier und da eine ordentliche Prise Gewalt ein bis ein respektloses Comic der Beliebigkeit entsteht, aber nicht richtig zu provozieren vermag: Baal, "Krieg der Welten" und Reichskristallnacht auf einer Seite - unkommentiert, ohne Zusammenhang und ohne Sinn.

Das dem Buch zugrunde liegende Konzept findet sich bei William Faulkners Roman "Als ich im Sterben lag", der in "Starfish Rules" einmal erwähnt wird: "Es ist in lauter kurze Abschnitte unterteilt, mit immer wieder anderen Sichtweisen derselben Vorgänge. Man hat immer das Gefühl, dass durch all diese Unwahrheiten und Fastwahrheiten eine große, übergeordnete Wahrheit entsteht". In Meißners semimythologischer Zappingtour ist eine derartige "übergeordnete Wahrheit" allerdings nirgends zu finden. Wer sich daran nicht stört und auf einen leicht schrägen, aber nicht sonderlich fesselnden "Science-Pulp-Fiction-Roman" Lust hat, mag Gefallen daran finden. Die Zielgruppe der Kafka- und Tarantino-Fans dürfte dagegen enttäuscht dem lang ersehnten Ende entgegenlesen.

Titelbild

Tobias O. Meißner: Starfish Rules.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
230 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3499223341

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